Autorität und Expertise – Teil 2 –

Dieser Beitrag von Nicolas Cauet ist der zweite Teil einer Serie, die hier angefangen wurde.

2. Objektive Kriterien oder Machtwort der Administratoren? Wie wird man als Autor relevant, wie kann man sich an die angegebenen Richtlinien orientieren?

Wenn man im Internet nach Kritik über die freie Enzyklopädie sucht, stößt man oft auf solche Argumente:

„Was als Standpunkt akzeptiert und als Wissen anerkannt wird, ist immer auch eine Machtfrage. Wikipedia verschleiert diese Machtfrage hinter dem Ideal des neutralen Standpunktes als Nebelkerze.“ (Wikimannia)

a ) Die Admins

Hinter der Frage nach der Zitierbarkeit und nach der Zuverlässigkeit versteckt sich also die Frage der Macht in der Enzyklopädie. Die Admins sind diejenigen, welche die Macht ausüben. Sie werden wie folgt definiert:

„Administratoren (kurz Admins) sind Benutzer, die über zusätzliche Werkzeuge verfügen, mit denen bestimmte Verwaltungsaufgaben vorgenommen werden können. Dazu gehört zum Beispiel das Löschen von Seiten oder das Sperren von Benutzern. Neben der technischen Berechtigung treten Administratoren auch als entscheidende Instanz auf verschiedenen Projektseiten wie den Löschdiskussionen und der Vandalismusmeldung auf. Benutzer werden zu Administratoren, indem sie eine Kandidatur, erfolgreich abschließen“

„Sind sie erst einmal im Amt, schalten und walten sie relativ frei, jedoch unter mehr oder minder deutlicher Berücksichtigung eines informellen Admin-Ehrenkodex’, der dem Missbrauch der erweiterten Rechte zur Durchsetzung persönlicher Interessen vorbeugen soll.“ Aus WK:Machtstruktur

b) Objektive Kriterien

Damit ihnen keine Willkür vorgeworfen wird, orientieren sie sich an Richtlinien, die jeder in der Enzyklopädie nachschlagen kann und sollte. In dieser Hinsicht ist es interessant, die sogenannten Relevanzkriterien der Enzyklopädie genauer zu betrachten. Man kann dies am Beispiel von literarischen Einzelwerken machen:

“Literarische Einzelwerke gelten als relevant, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dass die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind, muss aus dem Artikel klar hervorgehen und durch Quellenangaben belegt werden. Die Bedingungen sind im Einzelnen:

1. Die folgenden beiden Kriterien sind erfüllt:

▪    der Autor des Werks gilt als relevant nach den geltenden RK (entfällt bei anonymen Werken);

▪    das Werk (oder eine moderne Ausgabe des Werks) ist in einem normalen Verlag erschienen, nicht im Eigenverlag oder als Book-on-Demand

2. Zudem ist mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt:

▪    zu dem Werk liegen mindestens zwei ausführliche Rezensionen in renommierten Feuilletons, Literaturzeitschriften oder Magazinen mit anerkanntem Literaturteil vor;

▪    zu dem Werk liegt mindestens eine wissenschaftliche Sekundärquelle vor;

▪    das Werk ist als „Klassiker“, als regelmäßige Schullektüre oder durch Abdruck in mehreren Schulbüchern kanonisiert;

▪    das Werk repräsentiert eine wesentliche Etappe, eine neue Entwicklung oder einen besonderen Publikumserfolg im Gesamtwerk des Autors

▪  das Werk ist für die Herausbildung, Bekanntheit oder Weiterentwicklung einer bestimmten Epoche, eines Genres oder eines Stils bedeutsam.

Zugegebenermassen sind diese Kriterien schon gut durchdacht. Dennoch fallen dabei auch strittige Punkte auf:

  • Was ist ein “normaler” Verlag?
  • Was ist eine Zeitschrift mit anerkanntem Literatururteil?

Die Gattungsgrenzen können in diesem Gebiet sehr unscharf sein. Besonders interessant ist dabei, dass diese Kriterien zwar eine umfangreiche Menge von Werken ein-, dabei aber auch unzählbare andere Werke ausschließen.

Relevanzkriterien sind im Laufe der Zeit entstanden, wie es auch im Kapitel relevante Autoren zum Vorschein kommt:

“Schriftsteller bzw. Autoren gelten als relevant,

▪    wenn sich besondere Bedeutung oder Bekanntheit etwa durch einen Eintrag in einem anerkannten, redaktionell betreuten Nachschlagewerk (Enzyklopädie, Lexikon etc.) oder einer vergleichbar renommierten Quelle wie dem Perlentaucher nachweisen lässt,

▪    wenn sie einen renommierten Literaturpreis gewonnen haben,

▪    wenn sie ein Standardwerk verfasst haben, das in reputablen externen Quellen als solches bezeichnet wird oder

▪    wenn sie mindestens zwei Werke der Belletristik/Schönen Literatur oder vier nicht-belletristische Bücher (z. B. Sachbücher) als Hauptautoren bei einem regulären Verlag veröffentlicht haben.
 Bücher, die im Selbst-, Pseudo- oder Druckkostenzuschuss-Verlag erschienen sind, werden hierbei ausnahmsweise mitgezählt, wenn sich angemessene Verbreitung[1] in wissenschaftlichen Bibliotheken nachweisen lässt, sie in besonderer Weise öffentlich wahrgenommen werden (z. B. Rezensionen in renommierten überregionalen Zeitungen) oder es sich um einen anerkannten wissenschaftlichen Verlag mit redaktioneller Auswahl handelt.”

Man kann also einen biographischen Artikel in Wikipedia bekommen entweder, wenn man einen „renommierten“ Literaturpreis gewonnen hat oder ein Werk mit „respektablen“ Quellen bzw. „mindestens zwei Werke“ verfasst hat. Interessant ist die vage begründete Abgabe der Entscheidung an Tertiärquellen : Die Definition von “renommiert angegebenen” Preisen und für “respektabel gehaltene” Quellen lässt einen breiten Raum zur Interpretation frei, und damit auch zur möglichen Willkür eines Admins.

c) Löschwahn?

Viele Wikipedianer haben bereits die unangenehme Erfahrung gemacht, dass ihre Artikel ohne gute Begründung gelöscht wurde:

„Ich selbst habe oft genug erfahren müssen, dass nach langer, harter Arbeit die ganze Mühe einfach mit {{Löschen|~~~~}} kommentiert wird. Des Weiteren kommt es leider viel zu häufig vor, dass größere Änderungen direkt reverted werden, statt einzelne kleine Fehler auszubessern”

“Das Schlimmste sind die oft völlig bescheuerten Löschbegründungen: „Unnötig“, „könnte in Zukunft nicht mehr so wichtig sein“, „irrelevant“, „Blödsinn“ und die unzähligen Kunstwörter, wie „Bapperlwahn“. (111Alleskönner)

Auf den ersten Blick scheint die Situation also schwierig zu sein, und die Admins nicht selten gemein und unfair.

d) Was haben die Admins dazu zu sagen?

In Gedanken eines Löschadmins kritisiert der Administrator Magiers die Selbstbezogenheit vieler Wikipedianer:

“Wenn man regelmäßig in der Löschdiskussion unterwegs ist, beschleicht einen das Gefühl, dass 95% unserer Artikel von Selbstdarstellern geschrieben sind („Ich“, „Meine Firma“, „Mein Verein“, „Meine Garagenband“, „Meine Theorie, die ich außerhalb Wikipedia nirgends unterbringen kann“).”

Zudem macht er einen interessanten Unterschied zwischen Exklusionismus und Inklusionismus. Unter ersterem Begriff wird die Löschung unangemessener Inhalte verstanden, und unter letzerem der Erhalt des Artikels. Dieser Admin versteht sich als Vertreter des Inklusionexklusionismus, d.h. dass er beide Haltungen je nach Situation befürtwortet.

In einem wichtigen Artikel wolle er „die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem (behalten) und das Herauswerfen von Belanglosem (bevorzugen).“ Aber er habe kein Problem damit, wenn eifrige Wikipedianer ihre Zeit damit verbringen, jede neue Simsons Folge in einem neuen Artikel zusammenzufassen, denn diese Artikel würden ohnehin nur eine geringe Leserschaft haben. Er ist auch der Auffassung, dass Wikipedia „kein Verweisladen“ sei. In einem wichtigen Artikel (z.B. Romeo und Julia von Shakespeare) sei es unnötig, auf zweitrangige Artikel zu verweisen (z.B. ein Pop-Lied, dessen Thema Romeo und Julia ist).

Am Ende schränkt er seinen Handlungsspielraum ein:

 „Trotz des Gesagten, ist die Aufgabe des Admins natürlich nicht die eigenständige Relevanzbetrachtung zu einem Thema, sondern die Umsetzung des Willens der Gemeinschaft, ausgedrückt im Konsens der Relevanzkriterien, sowie der Argumente der jeweiligen Löschdiskussion. Doch wie so oft erschöpft sich die Arbeit nicht im Inhalt, sondern schließt auch die Form ein.“

Mautpretter, ein Wikipedianer, der Admin geworden ist und daher beide Seiten der Wikipediawelt erleben durfte, empört sich gegen den Anspruch auf einen neutralen Standpunkt:

“Zum “neutralen Standpunkt”: Wie auch schon andere festgestellt haben, handelt es sich dabei um ein Paradox. “Points of view” (der englische Ausdruck dafür, der besser als “Perspektive” übersetzt würde) können selbstverständlich nur von Subjekten eingenommen werden und sind deshalb prinzipiell subjektiv und interessiert. Eine denkbare Interpretation wäre, dass beim Bearbeiter möglichst wenig persönliches Interesse am Gegenstand des Artikels vorhanden sein sollte; dies führt jedoch zu absurden Konsequenzen und schlechten Artikeln.”

Statt sich an einem künstlichen Neutralen Standpunkt festzuklammern, sollte Wikipedia ein Ort der Pluralität der Interpretationen sein:

An der tatsächlichen Artikelarbeit lässt sich aber eine brauchbare (und innovative) Interpretation entwickeln: “Neutraler Standpunkt” kann einen point of view bezeichnen, der durch Objektivität geprägt ist – in dem Sinn, dass Interessierte verschiedener points of view von dem Artikel etwas haben. Die Zone der Objektivität (und damit allgemeinen Brauchbarkeit) soll so groß wie möglich sein. Dafür gibt es in Wikipedia einige sehr schöne Beispiele (etwa Rudi Dutschke). Diese zeigen, dass nicht ein Weniger an subjektivem Interesse einen guten, “neutralen” Artikel schafft, sondern ein Mehr an subjektivem Engagement: Durch dieses kann individuell und kollektiv ein Raum der Objektivität geschaffen werden, der vorher nicht existiert hat. Durch “Entfernung” von POV kann also Objektivität grundsätzlich nicht entstehen.

Zum Schluss kann man sagen, dass trotz gut durchdachter Kriterien die Autorität der Admins immer noch problematisch bleibt und möglicherweise zu Konflikten führen kann. Die Macht der Administratoren soll dem Chaos des Internets und der freien Beiträge entgegenwirken. Sie neigt aber dazu, die Entwicklung der Enzyklopädie zu gefährden, indem sie die Kreativität und den Enthusiasmus der Wikipedianer zu sehr verdrängt und einzwängt. Eine bessere Ausbildung der Administratoren zu ihren Rolle und Pflichten und vielleicht eine strengere Kontrolle ihrer Löschverfahren könnte die Lage verbessern. Die Einführung einer Bewertung der Administratoren durch Wikipedianer könnte dazu verhelfen, einen ausgeglicheneren Austausch zu fördern. Es ist auf jeden Fall Raum zur Verbesserung des Umgangs zwischen Wikipedianer und Admins da.

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Der dritte Teil dieser Serie wird sich mit dem Vorfahren im Falle eines Konflikts befassen.

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Quelle: http://wppluslw.hypotheses.org/287

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