Ländlicher Raum: Was mag das sein?

Rural history - ich suche immer noch nach einer Übersetzung, die den offenen Charakter des englischen Begriffs ins Deutsche überträgt. Auf Dauer werde ich mich wohl mit Hilfskonstruktionen durchs Leben schlagen, denn “ländliche Geschichte” geht gar nicht, Geschichte des Ländlichen klingt mir schon wieder zu wolkig. Warum aber nicht, wie mein Kollege Jürgen Finger vorgeschlagen hat, “Geschichte ländlicher Räume”?

Nun, das würde bedeuten, dass ich einen klaren Fokus auf die Historizität von Räumen legen würde - das tue ich aber nicht, zumindest nicht schwerpunktmäßig. Natürlich fließt das ein, aber der Fokus liegt in meinem Projekt auf dem Wandel politischer Formen und Felder, nicht auf Raumproduktion und -aneignung. Trotzdem ist die Auseinandersetzung damit, was einen ländlichen Raum ausmacht, für mich selbstverständlich eine wichtige konzeptionelle Frage. Heute ein paar erste Überlegungen dazu:

Wenn man einen Raum als “ländlich” beschreibt, setzt das die Abgrenzung von einem anderen Raum voraus - zumindest in der ersten Assoziation. Ist dieser “andere” Raum die Stadt? Handelt es sich also bei ländlichen um “nicht-städtische” Räume, und damit ist dann alles gesagt? Dann sind wir natürlich flugs in der Problematik, was eigentlich eine Stadt ist, wie sie sich konstituiert, wann wir es mit einer sehr kleinen Stadt, wann mit einem sehr großen Dorf zu tun haben: Ist es also nur ein quantitatives Problem, Städte und Dörfer, Städte und den "ländlichen Raum" voneinander abzugrenzen? Ist es das Recht, die Ökonomie (Markt statt Subsistenz) gar die Mentalität, was die Stadt zur Stadt macht? Über diese Fragen diskutiert die Stadtforschung interdisziplinär seit vielen, vielen Jahrzehnten, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen (zumindest soweit ich weiß - ich lasse mich gerne belehren!). Und es geht auch gar nicht, zu wandlungsfähig und zu kulturell geprägt sind Städte - und damit auch nicht-städtische Räume.

Wichtig scheint mir - jenseits der Abgrenzung von Städten und ländlichen Räumen - aber noch ein anderes Problem zu sein, nämlich die Relationierung ländlicher Räume. Das heißt also; in welchem (funktionellen) Verhältnis stehen sie zu anderen Räumen?

Provisorisch lassen sich drei Relationen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Umgangsweisen mit dem ländlichen Raum und bestimmte Ausformungen der Stadt-Land-Verhältnisse in der Moderne beschreiben:

  • Komplementäre Räume: Ländliche Räume werden als komplementäre Räume, vor allem komplementär zur Stadt, konstituiert, und das vor allem (aber nicht nur) in ökonomischer Hinsicht. Sie funktionieren anders und sind damit dazu geeignet, bestimmte Defizite der Stadt auszugleichen. Das betrifft in besonderem Maße die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern, die in der Agrarwirtschaft hergestellt werden. Das betrifft aber auch, in bestimmter Hinsicht, die Funktion der ländlichen Räume als Erholungsräume, die Städtern dazu dienen, sich vom hektischen Leben in der Stadt zu erholen, um dann, ausgeruht und erholt, in die Stadt zurückzukehren und dort wieder im Rahmen der städtischen Ökonomie produktiv zu sein. Umgekehrt würde der Austausch funktionieren, wenn Arbeitslose im ländlichen Raum angesiedelt werden sollen (wie in der Zwischenkriegszeit durchaus geschehen) oder Flüchtlinge Dörfern zugteilt wurden/werden, um die überlasteten Städte (z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg) nicht noch mehr zu belasten. In diesem Fall werden also ländliche Räume als Versorger und Entlaster der Städte konzipiert.
  • Oppositionelle Räume: Ländliche Räume werden als Gegen-Räume zur Stadt oder zu Ballungsgebieten entworfen, und das seit vielen, vielen Jahrzehnten, in sehr unterschiedlichen Formen. Idealisierte Ländlichkeit ist ein Typ davon, wenn etwa Riehl das “Land” als Hort der “Kräfte der Beharrung” gegenüber den “Kräften der Bewegung” in der Stadt entwirft. Die ländlichen Räume dienen dann nicht als Versorgungsräume, sondern als Gegengewichte für problematische Entwicklungen in den Städten oder den Gesamtgesellschaften. Innere Kolonisation oder Siedlungsbewegungen wären vor allem dann aus dieser Relationierung erklärlich, wenn es um die Schaffung eines “gesunden Bauernstandes” im rassistischen Interesse ginge. Es wäre zu überlegen, ob bestimmte Formen der Stadt-Land-Wanderung durch diese räumliche Relation verständlicher werden, etwa der Zuzug von Städtern in periphere Räume, etwa die Uckermark.1 Ländlichkeit erscheint so als Gegenbild zur städtischen Welt.
  • Darüber hinaus gibt es den dritten Typus, die Entwicklungsräume: Ländliche Räume wurden in der Moderne immer auch als rückständig beschrieben, die durch bestimmte Maßnahmen modernisiert werden müssten. Auch dies ist eine räumliche Relation, vor allem im Vergleich zu städtischen Räumen, aber auch zu “allgemeinen”, d.h. Makro-Räumen. Wenn etwa in den Bildungsdebatten der 1960er Jahre das “katholische Mädchen vom Lande” als eine Chiffre für den Entwicklungsbedarf des gesamten Bildungssystems, vor allem aber als Modernitätsdefizit des ländlichen Bildungssystems verstanden wird, dann handelt es sich um die Produktion eines ländlichen Entwicklungsraums.

 

Das sind nur erste Überlegungen; die Zeit wird zeigen, inwiefern diese Gedanken dazu beitragen, ländlichen Politisierungsprozessen besser zu Leibe rücken zu können. Interessant ist auf jeden Fall, dass es offenbar auch an anderer Stelle das Bedürfnis gibt, die Begriffsverwendung und -geschichte des “ländlichen Raums” genauer zu reflektieren: Ulrich Schwarz vom Institut für Geschichte des ländlichen Raums (IGLR) in St. Pölten weist in seinem Tagungsbericht zur Veranstaltung “Ländliche Geschichte neu schreiben”, die im November in Wien stattfand, explizit darauf hin, dass dies bislang noch nicht ausreichend geschehen ist. “Ländlich”, so schreibt er, sei ein Adjektiv, das mehrfach relational verstanden werden müsse.2 In den nächsten Wochen und Monaten werde ich auf diese Überlegungen zurückkommen.

  1. Vgl. dazu das Buch der Geographin Julia Rössel: Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark, Bielefeld: Transcript 2014.
  2. Ulrich Schwarz: Tagungsbericht: Ländliche Geschichte neu schreiben, 13.11.2014 Wien, in: H-Soz-Kult, 18.12.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5739>; 19. Januar 2015.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/297

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