Die “Kanzlerakte”: eine offensichtliche Aktenfälschung

 

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpgQuelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpg

Im letzten Eintrag habe ich die Dokumentenbände des BND vorgestellt. Das gibt mir den Anlass, eine groteske Aktenfälschung unter die Lupe zu nehmen, die vorgibt, ein BND-Schriftstück zu sein.

Im Internet ist eine regelrechte Mythologie um eine “Kanzlerakte” entstanden: ein hypothetisches Schriftstück, dass angeblich jeder deutsche Bundeskanzler vor seinem Amtsantritt unterzeichnen musste. Es gibt einen guten Wikipedia-Artikel zu diesem Unfug.

Der “Beweis” soll ein Schreiben des BND sein, in dem der Verlust eines Exemplars jenes “geheimen Staatsvertrags” berichtet wird. Der verlinkte Wikipedia-Artikel enthält bereits einige gute Argumente, die zum Teil aktenkundlicher Art sind, zum Teil allgemein auf die Plausibilität abstellen, an der es eklatant mangelt. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Instrumentarium der Aktenkunde mit ihren Hilfswissenschaften Paläographie und Verwaltungsgeschichte. Außerdem halte ich mich an die Fehler und vermeide Hinweise, wie man es besser machen könnte :-)

1. Analyse der inneren Merkmale

Briefkopf: Wie die Wikipedia richtig ausführt, passt die maschinenschriftliche Behördenfirma nicht zu einem externen Schreiben einer Oberen Bundesbehörde (nicht: “Ministerium”!). Außerdem sind wir nicht in Frankreich, wo in der Behördenfirma von oben nach unten alle Instanzen aufgeführt werden, vom Ministerium bis zum bearbeitenden Büro. Eine “Kontroll-Abteilung” ist dem Namen und der Sache nach der deutschen Verwaltungstradition fremd.

Innenadresse: fehlt, wäre bei einem externen Schreiben aber nötig.

Geheimhaltungsvermerk: “VS-Verschlußsache Nur für den Dienstgebrauch” entspricht nicht den Formvorschriften, die zum angeblichen Datum des Dokuments bereits galten (wenn ich den Vermerk unten rechts richtig lese: 1992). Den zusätzliche Vermerk “Strengste Vertraulichkeit” gibt es nicht. Die Beschränkung eines gedachten Routineverteilers auf den “Minister” ist dagegen noch passabel.

Betreff: wird nicht mit “Vorgang” eingeleitet.

Unterschrift: Die Amtsbezeichnung “Staatsminister” ist hier fehl am Platz.

Blattaufteilung: Auch der unterwürfigste Bericht wird heute nicht mehr halbbrüchig (= breiter linker Rand) geschrieben.

2. Systematische Einordnung

Der Fälscher hatte einen externen Bericht des Bundesnachrichtendienstes an eine übergeordnete Instanz im Sinn. Dafür spricht die Nachahmung des Kopfbogens, wobei die fehlende Innenadresse ein Fehler ist. Die Höflichkeitsformeln zu Anfang und Ende würden daraus einen Bericht in der Form eines Privatdienstschreibens machen.
Aber nicht nur, dass es nie einen Staatsminister Rickermann gab, wie die Wikipedia richtig anmerkt: Dem Fälscher war nicht klar, dass es beim BND überhaupt keine Staatsminister gibt. “Staatsminister” ist die Amtsbezeichnung der Parlamentarischen Staatssekretäre bei der Bundeskanzlerin und beim Bundesminister des Auswärtigen (zu den Gründen Wischnewski 1989: 177 f.). Ein StM oder PStS ist kein Beamter mit Verwaltungsaufgaben, sondern steht in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis und ist für die Unterstützung bei politischen Aufgaben einem Mitglied der Bundesregierung beigegeben. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes ist aber natürlich ein Berufsbeamter.
Oder meint der Fälscher, der Geheimdienst selbst würde von einem Minister geleitet werden, wie einst die Stasi? Das könnte ein Hinweis auf Herkunft, Sozialisation und Vorstellungswelt sein. (Ein interner Bericht gehört aber nicht auf Kopfbogen.)

3. Genetische Einordnung

Merkmale:
- Imitat eines Kopfbogens
- Nachgemachte Unterschrift
- Aufgesetzte Vermerke und Verfügungen des vermeintlichen Empfängers
also: Fälschung einer behändigten Ausfertigung.

Nach der klassischen aktenkundlichen Lehre sind die Vermerke und Verfügungen des Empfängers ja nicht Gegenstand der Analytik, sondern der genetischen Betrachtung, weil sie nicht zum Formenapparat des ausgefertigten Schreibens gehören. Mir hat diese methodologische Differenzierung unter praktischen Gesichtspunkten nie recht eingeleuchtet. Hier haben wir aber einmal einen Fall, in dem sie Erkenntnis bringt: Der Geschäftsgangsvermerk unten rechts wurde vom Fälscher offenbar als Vordruck verstanden, den der Absender vorbereitet hat; der Empfänger hätte nur noch die Daten eingetragen. Dann wäre dieser Vermerk als inneres Merkmal des Schreibens zu verstehen.

Das widerspricht der Verwaltungspraxis: Eingangsvermerk oder zdA- und Wiedervorlage-Verfügungen (hier auch noch falsch abgekürzt) werden vom Empfänger aufgesetzt und machen wesentlich die Behändigung des eingegangenen Schreibens aus. Vorgedruckt wird so etwas nur auf Formularen, insbesondere Fragebögen für Antragsteller in der nachgeordneten Leistungsverwaltung. So ein Stück könnte dem Fälscher als Vorlage gedient haben.

Die beiden Verfügungen am Rand sollen den numinosen Charakter der Fälschung unterstreichen: Es wurde Vernichtung des allergeheimsten Skandalons angeordnet, aber irgendjemand gab es doch ins Archiv (= Registratur des Bundeskanzleramtes), und das alles in dieser lustigen alten Schrift aus Omas Poesiealbum.

Da lacht der Paläograph. Während Archiv-Neulinge deutsche Kurrent-Aktenschriften meistens falsch als Sütterlin bezeichnen, sehen wir hier das schlechte Imitat echten Sütterlins, also der von Ludwig Sütterlin entworfenen und 1915 an den preußischen Schulen eingeführten Normalschrift, deren Hauptkennzeichen der Verzicht auf die Neigung der Buchstaben in Schreibrichtung war (Beck/Beck 2007: 87 f.). Die hier gemalten Buchstaben sind zwar ungelenk und latinisiert, aber eindeutig eine Steilschrift. Selbst wenn 1992 im Bundeskanzleramt noch zwei Urgesteine deutsche Schreibschrift angewandt hätten, dann bestimmt nicht so, wie in der Grundschule im Hausaufgabenheft, sondern als Aktenschrift mit deutlicher Kursivierung.

Alle anderen Vermerke und Verfügungen einschließlich das Datums sind bewusst unleserlich gehalten, wenn nicht sogar Trugschrift.

4. Einschätzung

Das Stück ist eine grobe Fälschung. Die Liste der in der Wikipedia aufgeführten formalen Mängel lässt sich um einige Punkte verlängern, deren kumulierter Beweis erdrückend ist. Von der historischen Plausibilität ganz zu schweigen. Der Fälscher ist mit beträchtlichem Fleiß, aber geringem Wissen ans Werk gegangen, wobei manche Elemente auf eine ziemlich piefige Vorstellungswelt hinweisen.

Literatur:

Beck, Friedrich und Lorenz Friedrich Beck 2007. Die lateinische Schrift: Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln.

Wischnewski, Hans-Jürgen 1989. Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. München.

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/163

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Faksimiles zur Aktenkunde nicht nur des BND

Es gibt einige gute Tafelwerke zur Aktenkunde und Paläografie der Neuzeit. Aber es zeigt sich derselbe Befunde wie in den darstellenden Kompendien des Fachs: Je näher man der Gegenwart kommt, desto spärlicher werden die Beispiele. Jede gut greifbare und handliche Veröffentlichung beispielhafter Faksimiles aus Behördenschriftgut der letzten Jahrzehnte ist darum willkommen, und das umso mehr, wenn sie aus einem “Sondergewerbe” der öffentlichen Verwaltung stammen.

Mit dem Bundesnachrichtendienst als Urheber von Faksimile-Bänden rechnet man zunächst wohl nicht. Es ist auch nicht der eigentliche Zweck der hier anzuzeigenden “Mitteilungen der Forschungs- und Arbeitsgruppe ‘Geschichte des BND’“, die Historischen Hilfswissenschaften anzufüttern – sie erfüllen ihn aber gut. Das Projekt begleitet die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission, die die Geschichte des Dienstes bis 1968 erforschen soll. Dazu bringt eine interne Arbeitsgruppe des BND sachthematische Quellenveröffentlichungen heraus, die leicht verkleinerte Farbfaksimiles in guter Qualität bieten. Das Schöne daran: PDFs der Druckfassungen können von der Website des Dienstes heruntergeladen werden.

Die sechs bislang veröffentlichten, zum Teil voluminösen Bände sind eine faszinierende Lektüre. Man lese als Historiker nur einmal die Dokumente aus dem Doppelband zur Kubakrise 1962 chronologisch im Wechsel mit den im entsprechenden Jahrgangsband der Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland abgedruckten Unterlagen des Auswärtigen Amts. Und Aktenkundler freuen sich über reiches Anschauungsmaterial.

Publiziert werden vor allem nachrichtendienstliche Meldungen aus aller Welt an die Pullacher Zentrale. Dabei handelt es sich um Ausprägungen der aktenkundlichen Universalgattung “Bericht” mit einigen besonderen inneren Merkmalen, die teilweise auch im Schriftgut des Militärs begegnen: vor allem die Unterscheidung zwischen der Datierung des Berichts und der Datierung der berichteten Beobachtungen oder die kodierte Bewertung der Glaubwürdigkeit von Nachrichten. Die Fernschreiberausgabe ist dabei eine häufige Überlieferungsform. (Aktenkundlich scheint sich noch niemand vertieft mit dem Fernschreiber beschäftigt zu haben, dabei nahm er einige Neuerungen des E-Mail-Zeitalters vorweg.)

Charakteristisch sind eine Fülle von speziellen Abkürzungen, Fachbegriffen und Tarnnamen. Glücklicherweise hat die Arbeitsgruppe in derselben Reihe auch schon ein Glossar vorgelegt, das dem Verständnis nachhilft.

Daneben begegnen interner Schriftverkehr zwischen Inlandsdienststellen des BND (z. B. “Aquarium an 106/XX c pers”), Aktenvermerke und lange Ausarbeitungen. Man entdeckt hier viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Aktenwesen “normaler” Bundesbehörden als Trennendes. Das gilt auch für Geschäftsgangsvermerke, Verfügungen und innere Merkmale wie Tagebuchnummern und dergleichen.

In Band 7, dessen Erscheinen mir den Anlass zu diesem Beitrag gibt, findet sich in Dokument 13 sogar einmal eine mit klassischem Grünstift aufgesetzte und mit “Ge” paraphierte handschriftliche Weisung Gehlens, übrigens in einer sauberen, gut lesbaren Handschrift. Die Paläografie zeitgenössischer Aktenschriften ist ja ein weites, steiniges Feld – an Walter Hallsteins Handschrift sollen schon Qualifikationsarbeiten gescheitert sein.

Dieser Band 7 ist ohnehin bemerkenswert, weil er sich (nach einem Ausflug in die Ordenskunde in Band 5) nicht mit einem nachrichtendienstlichen Sujet im engeren Sinne befasst, sondern mit “Mr. Dynamit“, einem deutschen James-Bond-Imitat der Sechzigerjahre aus dem Dunstkreis der Jerry-Cotton- und Karl-May-Verfilmer – mit Lex Barker als BND-Superagenten und Eddi Arent als seinem “Q”! Der Produzent bemühte sich um amtliche Schützenhilfe, zu der es aber nicht kam.

Die Faksimiles stammen aus dem betreffenden BND-Vorgang, wobei die Hälfte der Dokumente Fremdstücke sind. Wie bei jedem Band der Reihe sind sie in eine grundsolide und reich annotierte historische Darstellung des Herausgebers, Bodo Hechelhammer, eingebettet. Bei aller Seriosität kann der Leser spätestens bei der doppelseitigen Reproduktion des wunderbar schundigen Filmplakats für “Mr. Dynamit” von 1967 aber ahnen, dass man beim Bundesnachrichtendienst auch über ein gerütteltes Maß an Humor verfügt.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/159

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