Für längere Dauern, größere Räume und materiellen Determinismus?
Turns gibt es viele in der Geschichtswissenschaft. Ihr Rhythmus scheint sich mit der Beschleunigung der globalisierten Welt selbst zu beschleunigen. Wir erleben “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) von Wenden bezüglich der Interessenschwerpunkte, Theorien und Methoden.
Mir scheint aber, dass diese turns mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht immer, wenn in der Historiographie eine neue Seite aufgeschlagen wird, beginnt auch immer ein neues Kapitel. An vier Punkten will ich versuchen, die Gleichartigkeiten der turns seit der kulturalistischen Wende der 1970er Jahre (in Frankreich und Italien) bzw. der 1990er Jahre (in Deutschland) zu bezeichnen. Meine Einlassungen zu diesen vier Merkmalen der aktuellen Kulturgeschichte sind freilich nur flüchtige Überlegungen – zumal auch ich eigentlich auf der kulturwissenschaftlichen Methodenseite stehe.
1. Mikrostudien. Der große räumliche Wurf wird nur mehr selten gewagt. Die Skalierung von Studien bezieht sich auf kleinteilige Räume: Städte, Landgerichte, kleine und mittlere Reichsterritorien oder Regionen, einzelne Klöster oder Zwischenräume wie Fenster, Brücken und Türen. Freilich gibt es Ausnahmen, die mir in der französischen Forschung mit ihrer alten Tradition der grands espaces noch am häufigsten scheinen. Aber auch dort herrscht der Mikrotrend. Friaul mit Käse und Würmern statt totaler Mittelmeergeographie.
2. Eher kurze Dauer.
100 Jahre sind lang, länger werden nur Minimalthemen oder (quellenmäßg) rare Phänomene behandelt. Thesen, die mehrere Jahrhunderte umfassen, werden seltener – abgesehen von den wild wuchernden Epochen-Überblicksbänden für Studienanfänger. Ein zeitlicher und auch konzeptuell fassbarer Großblick à la temps des réformes eines Pierre Chaunu würde womöglich nicht mehr ernst genommen werden.
3. Materialität und Grundbedingungen. Eigentlich erlebt Materialität gerade wieder ein Comeback, allerdings in einer kulturalisierten theoretischen Form. Es geht heute um die Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungne zu Artefakten, deren “Materialität und Präsenz” in Ding-Raum-Mensch-Geflechten. Was ich aber meine, ist eine andere Art von Materialität: natürliche, geographische, ökonomische, klimatische Bedingungen für die Lebenswelt der Menschen. Grundbedingungen im eigentlichen Sinne, die menschliches Handeln und Wahrnehmen prägen, möglich machen, formen und konditionieren. So unkonstruktivistisch wie möglich!
4. Wehe den Determinsimen…! rufen dann viele. Der Mensch sei der Ort der Geschichte und allen Handelns, Wahrnehmens, aller Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Aber müsste die Postmoderne nicht ein wenig von diesem anthropozentrischen Geschichtsbild abrücken? Ist es nicht tatsächlich so, dass Berge mit ihren klimatisch-geographischen Bedingungen die Landwirtschaft, Ökonomie und sogar die Zahl der Menschen dort stärker beeinflussen als umgekehrt? Präzise gefragt: Konstruiert der Mensch den Berg oder nicht doch der Berg den Menschen? Ist Geschichte bis zur Moderne nicht eine der langen Zeit und starren (da, ja, determinierten) faktischen Strukturen?
So sind doch die meisten aktuellen turns keine historiographischen Wenden, die in Bedeutung und Umbruch dem Wandel von der Politik- zur Sozial- zur Kulturgeschichte gleichen würden. Seit der kulturalistischen Wende, beginnend mit den mental und linguistic turns, schwanken Interessen. Die Grundausrichtungen aber bleibt.
Kann es überhaupt etwas anderes geben als die aktuelle kulturalistisch-anthropologische Geschichtsschreibung? Vielleicht täte es gut, mal wieder einen Blick in seinen Braudel oder – für die Deutschen – ihren Wehler zu werfen. Was mir vorschwebt ist freilich keine Rückkehr zur alten Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre. Aber ein verstärkter Rückgriff auf längere Dauern, größere Räume, essentiell-materielle Lebensbedingungen und Determinismen für das menschliche Leben in der Vormoderne wäre womöglich eine Perspketive. Nicht zuletzt, um mal wieder einen fundierten und fruchtbaren Theorie- und Methodenstreit in der forschenden Zunft zu provozieren. Denn der vergangene Historikertag in Mainz war doch arg harmonisch.
Fernand Braudel, der Entdecker der longue durée und des Mittelmeers.
“…weil Gott sich in Jesus Christus ganz auf die Geschichte eingelassen hat”?
Deutsche haben Konzepte und Franzosen haben Methoden
Einer der Hauptunterschiede zwischen der deutschen und der französischen Historiographie besteht darin, was vor und nach der Quellenarbeit steht. Dieser selten bemerkte Unterschied bewirkt nicht nur, dass Historiker von links und rechts des Rheins gerne mal aneinander vorbeireden. Sondern er birgt auch die Chance, dass durch die Kombination der Unterschiede echter wissenschaftlicher Fortschritt entstehen kann. Es ist dies gleichzeitig ein schönes Beispiel für implizite, lange inkorporierte und unbewusst angewandte Kulturtechniken.
Woraus besteht also der deutsch-französische Historikerunterschied? Nun, ein deutscher – das heißt an einer deutschen Universität ausgebildeter – Wissenschaftler nimmt zur Beantwortung einer historischen Frage ein Bündel Quellen, liest diese durch, vergleicht sie, ordnet sie ein, kritisiert sie in ihrer Aussageabsicht und prüft ihren Wahrheitsgehalt. Denn deutsche Historiker wollen schreiben, wie es wirklich gewesen ist. Oder wie es wirklich gewesen sein könnte, das heißt sie formulieren ein Konzept oder eine Hypothese, die dieses Konzept nuanciert. Gerade Dissertationen werden in der Einleitung gerne noch etwas garniert mit einer Luhmann- oder Foucault-Paraphrase, von der sich recht wenig in der Quellenarbeit wiederfindet. Ein Beispiel: Die deutsche Religionsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts untersuchte bis vor kurzem Gesetzestexte, Verwaltungsstrukturen oder theologische Normen, und zwar nach Konfessionen getrennt (auch so eine deutsche Spezialität). Am Ende stand das Konfessionalisierungsparadigma, wonach Konfessionen separat und parallel zueinander von oben nach unten durch Haupt- und Staatsaktionen entstanden seien.
Ein französischer Forscher legt sich ein Bündel Quellen zurecht – und wendet auf sie eine präzise Methode an. Die wird nicht immer explizit theoretisch ausgeführt, man muss nicht zeigen, dass man Luhmann gelesen hat. Doch die Methode oder besser: die Untersuchungsstrategie und -perspektive sind stringent. Tendenziell über längere Zeiträume werden bestimmte Praktiken, Objekte, Verhaltensweisen als Repräsentationsformen von Kulturen, Zeiten und Zivilisationen des plus grand nombre untersucht und strukturiert. Wie diese einzuordnen sind, was sie soziologisch bewirken können, dafür gibt es Hilfen aus der theoriegestützten Methode. Am Ende werden die Beobachtungen zusammengefasst, aber das “deutsche” Konzept fehlt. Ein Beispiel: Die französische Religionsgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts untersuchte lange Visitationsakten, Testamente und alles, was sich irgendwie zählen ließ (la methode sérielle) konfessionsübergreifend. Am Ende standen die Beobachtungen, dass im Lauf der Frühen Neuzeit religiöse Praktiken normkonformer ausgeübt wurden, Reformen groß geschrieben wurden, sich (religiöse) Demographien veränderten, das Europa des Gemeinen Mannes erst richtig christlich wurde und Angst um sich griff. Das sind Beobachtungen, die aus präzise zugeschnittenen Methoden resultieren und deren Erklärungsansätze theoriegestützt sind. Aber keine Konzepte – und somit mangelt es mitunter an der clarté française im Abschluss.
Wäre es da nicht ein echter Gewinn, Methode und Konzept zu vereinen?
Ich gebe zu, meine Vermutung über den deutsch-französischen Unterschied ist verallgemeinernd und ein wenig stereotyp. Aber das haben gute Konzepte so an sich. Ganz bekomme ich den Deutschen nicht aus mir heraus…
Ein gutes Band möchte ich zum Thema noch empfehlen: Christophe Duhamelle/Philippe Büttgen (Hg.): Religion ou confession. Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe – XVIIIe siècles), Paris 2010.
Volkssprachliche Flugschriften – Quellentyp und Methode
Ein sehr wichtiger Bestandteil meines Quellenkorpus sind volkssprachliche Flugschriften aus dem altgläubigen Lager. Flugschriften, oder in der Quellensprache „büchlein“, sind günstig hergestellte, handliche Mehrblattdrucke. Die Größe und der Seitenumfang können je nach Bindung stark variieren. Altgläubige Flugschriften scheinen im Durchschnitt länger gewesen zu sein als evangelische Flugschriften – zwischen 10 und 120 Folio-Seiten. Sie sind Massenware, wobei die Zahl der evangelischen Drucke die der altgläubigen Drucke bei weitem übersteigt und die altgläubige Flugschriftenproduktion erst nach 1520 in Schwung kommt. Diese volkssprachlichen Flugschriften richten sich in aller Regel an den niederen Klerus und den Gemeinen Mann, vor allem aus dem eigenen Lager und der großen Masse der – wie es in den Quellen heißt – „Verwirrten“ und „Verführten“, also der noch nicht eindeutig Festgelegten. Je nach Bedeutung des Autors im sozialen Feld und der Brisanz des Themas variiert die Verbreitung der Drucke. Die Inhalte stehen meist nicht für sich allein, sondern nehmen – verteidigend oder angreifend – Bezug auf vorangegangene Schriften. Sie zeichnen sich durch hohe Aktualität aus. Behandelt werden theologische Fragen (jedoch vereinfacht im Vergleich zu lateinischen Schriften und immer mit einer sehr “lebensweltlichen” Verbindung), aktuelle Ereignisse, Kriege, Veränderungen in der Religionspraxis, Wahrnehmungen des anderen Lagers, Zeitdeutungen usw.
Die Nachfrage lässt sich an der Zahl der Neuauflagen einer Schrift ablesen. Häufig neu gedruckt werden bei den Altgläubigen jedoch nur wenige Schriften, mehr als fünf Neueditionen innerhalb weniger Jahre im Reich sind selten. Indizien für die Einordnung der Flugschriften liefern auch die Flugschriftenpraktiken. Bei den Altgläubigen deuten meine Quellenfunde darauf hin, dass die Drucke vor allem über Netzwerke altgläubiger Kleriker verbreitet werden. Eine einzelne Flugschrift wurde vor allem zwischen Klöstern häufig verschickt und von dort aus in Städten an den Weltklerus und interessierte Laien weitergegeben und das, wie es scheint, recht rasch. Auch altgläubige Weltgeistliche kauften mitunter große Mengen an Flugschriften und versuchten, diese weiter zu verkaufen oder zu verteilen. Ein Flugschriftenexemplar dürfte demnanch dutzende Rezipienten haben. In Klöstern (wie bei den Nürnberger Klarissen) wurden die Schriften zu den Mahlzeiten vorgelesen. In Biberach erfolgte die Lektüre durch den altgläubigen Weltgeistlichen von Pflummern wohl persönlich und still zuhause, auch mangels anderer Abnehmer. Flugschriften sind somit in ihrem Gebrauch ein eminent soziales Artefakt. Man spricht über sie, man tauscht sie, man verteilt sie. Ihr Kauf/Besitz ist ein soziales Positions-Statement in der frühen Reformation. Denn man kauft vorwiegend das, was man auch gerne liest. Im Umkehrschluss wird deutlich: Flugschriften richten sich (auch mit ihrem geschriebenen Inhalt) an ein präzises potentielles Publikum, nämlich an das (tendenzielle) eigene Lager im Glaubensstreit. Flugschriften vertiefen und bestätigen vor allem schon vorhandene Kulturen und spiegeln diese somit auch. Sie eignen sich also gut zur zeitnahen Rekonstruktion von kulturellen Aktualisierungs- und Abgrenzungsprozessen.