Archiv-August #11: Der weite Blick von Anna Thiele: Tempelhof 2010-2017

Archiv-August #11: Der weite Blick von Anna Thiele: Tempelhof 2010-2017

Archiv-August #11: Der elfte Beitrag unserer Reihe erschien erstmals am 08. Mai 2018. Viel Spaß beim Lesen!

Hinweis der Redaktion: Aktuell sind von Anna Thiele, deren 2020 erschienener Fotoband zur Tempelhof-Reihe mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2020/2021 in Silber ausgezeichnet wurde, noch bis zum 10. Oktober in einer Open-Air-Ausstellung der Kommunalen Galerie Berlin neuere Arbeiten aus ihrem Bilderzyklus „Fragments of Now“ auf drei Litfaßsäulen am Stuttgarter Platz zu sehen.


 

„Visual History“ sprach mit Anna Thiele über ihr fotografisches Langzeitprojekt „Tempelhof. Metamorphosen“.

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Quelle: https://visual-history.de/2021/09/06/anna-thiele-tempelhof-2010-2017/

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Mein Europa – Entwurf zu einer Praxeologie (IV)

„Mein Europa – Entwurf zu einer Praxeologie“ setzt sich mit der Herausbildung einer individuellen europäischen Identität auseinander.

Der Beitrag Mein Europa – Entwurf zu einer Praxeologie (IV) erschien zuerst auf Wolfgang Schmale.

Quelle: https://wolfgangschmale.eu/mein-europa-entwurf-zu-einer-praxeologie-4/

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Religion im Kunstmuseum

von Melanie Seidler

„Du machst dein Praktikum in einem Kunstmuseum? Was hat das denn mit Religion zu tun?“ So oder ähnlich reagierten viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen als sie von meinen Plänen hörten, mein religionswissenschaftliches Praktikum mit meinem zweiten Studienfach, der Kunstgeschichte, zu verbinden. Jedoch habe ich bereits am ersten Tag meines siebenwöchigen Praktikums die Bestätigung erhalten, dass Kunst und Religion durchaus sehr eng zusammenhängen können. Denn die stellvertretende Direktorin des Hauses plant für das kommende Jahr eine Ausstellung zu einem jüdischen Künstler der Neuzeit.

 

Um wen genau es sich dabei handelt, darf ich leider nicht verraten, da das Museum selbst noch nichts zu diesen Ausstellungsplänen veröffentlicht hat. Jedoch war die stellvertretende Direktorin regelrecht begeistert davon, bei ihrer wissenschaftlichen Recherchearbeit Unterstützung von einer angehenden Religionswissenschaftlerin zu erhalten.

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Quelle: https://relpraxis.hypotheses.org/124

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Hofzeremoniell 1500–1800. Teil I: Desiderate, Begriffe und Ansätze

Ein Gastbeitrag von Mark Hengerer Eine für die empirische Forschung fruchtbare Terminologie erfordert ein gewisses Maß an Präzision und Eindeutigkeit von Begriffen. Die Begriffe Hof, Zeremoniell bzw. Hofzeremoniell finden sich einerseits in den Quellen, andererseits werden sie deskriptiv oder als analytische Begriffe verwendet. Diese Mehrfachexistenz auf der Gegenstands- und Analyseseite zeitigt mitunter die methodologisch fragwürdige Folge, dass Bedeutungsanalysen mit analytischen Definitionen von Hof, Zeremoniell und Hofzeremoniell vermischt werden. Desiderate Als Desiderate treten so eingehende Begriffsgeschichten des Hofes und des Zeremoniells zutage. Gegenwärtig beziehen sich … Hofzeremoniell 1500–1800. Teil I: Desiderate, Begriffe und Ansätze weiterlesen →

Quelle: http://hofkultur.hypotheses.org/947

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Topographien der Imagination

Nur den zwei Dutzend Astronauten des Apollo-Programms war es bislang vergönnt, mit eigenen Augen einen Blick auf die Erdkugel in ihrer Gesamtheit zu erhaschen. Dieser Anblick beeindruckte die nüchternen Wissenschaftler und abgebrühten Piloten so sehr, dass sich ihr Blick auf die Welt nachhaltig veränderte.

Der Overview-Effekt

Frank White stellte in seinem auf zahlreichen Interviews mit Besatzungsmitgliedern von Raumfahrt-Missionen basierenden Buch die These vom Overview-Effekt auf: Die radikal veränderte Perspektive auf unseren Heimplaneten bewirkte, so White, eine Bewusstseinserweiterung, die die Astronauten bei ihrer Rückkehr wieder auf die Erde brachten. 

„Wenn wir auf die Erde aus dem Weltraum herabschauen, sehen wir diesen erstaunlichen, unbeschreibbar schönen Planeten – der wie ein lebender, atmender Organismus aussieht.“
– Jon Garan[1]

Was die Raumfahrer ausserdem mitbrachten: atemberaubende Bilder, die einen Bruchteil ihrer Erfahrung der Ganzheit und tiefen Verbundenheit mit dem Planeten auch der zu Hause gebliebenen Menschheit zugänglich machten. „Earth Rise“ etwa, das 1968 aus dem Mond-Orbit aufgenommen, den Aufgang des blauen Planeten hinter dem eintönig grauen Horizont ihres Trabanten zeigt (das Einstiegs-Bild zu diesem Blogbeitrag zeigt eine aus dem Mondoberflächenmodell und späteren, farbigen Aufnahmen rekonstruierte Version des ursprünglich schwarz-weissen Originalbildes). Oder „Blue Marble“, das auf der letzten Mondmission geschossene Bild, das die Erde erstmals im Gesamtanblick, ohne Schatten, komplett ausgeleuchtet, als fragil und verletzlich wirkende, im grenzenlosen Weltall schwebende Glasmurmel zeigt.



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Quelle: http://shocknawe.hypotheses.org/276

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Die Notwendigkeit von und Kritik an Identität am Beispiel feministischer/ frauen*spezifischer Sammel-, Speicher- und Dokumentationseinrichtungen in Österreich

Ein Gastbeitrag von Ulrike Koch, Wien

Transparente, Buttons, wissenschaftliche Werke, Plakate und gesellschaftspolitische Analysen sind alle Ausdruck einer lebhaften (queer-)feministischen Wissensproduktion, die in feministischen/frauen*spezifischen Sammel-, Speicher- und Dokumentationseinrichtungen gesammelt werden. Entstanden sind diese Einrichtungen aus der Kritik an „klassischen“ Bibliotheken und Archiven sowie der dort durch Machtmechanismen strukturierten Ausschlussmechanismen. Die Einrichtungen wenden sich dabei nicht nur gegen diese Diskriminierungen, sondern sammeln auch als Gegenort den Gegendiskurs, stellen diesen interessierten Personen zur Verfügung und ermöglichen durch das vorhandene Wissen neues Wissen zu generieren und dieses für die eigene Lebensgestaltung zu nutzen.

Anhand von feministischen/frauen*spezifischen Archiven und Bibliotheken in Österreich demonstriert der Artikel die Bedingungen, Potentiale aber auch Kritikpunkte an diesen Einrichtungen. Im Fokus stehen dabei die Abteilung Ariadne der Österreichischen Nationalbibliothek, das STICHWORT – Frauen- und Lesbenarchiv, die Bibliothek der Frauensolidarität, die alle drei in Wien angesiedelt sind, die Bibliothek des Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft in Innsbruck, die Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien sowie die inzwischen nicht mehr zugänglichen Einrichtungen des DOKU Graz sowie des Violetta Lesbenarchivs in Graz.

Der Fokus des Artikels liegt auf den drei Achsen Zeit, Raum und Identität. Unter der Achse Zeit steht die historische Dimension im Mittelpunkt, denn die in den Archiven und Bibliotheken gespeicherten Materialien ermöglichen die Entwicklung der Bewegung nachzuvollziehen, stellen Vorbilder zur Verfügung und bieten damit Identifikations- aber auch Abgrenzungspotential.

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Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/337

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Die Zeitkrise als Identitätskrise – fünf Fragen an Hartmut Rosa

Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Einer breiten Öffentlichkeit, auch weit über das Fach hinaus, ist er durch seine Gesellschaftskritik “Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” bekannt geworden. Neben der Zeitsoziologie beschäftigt er sich u.a. mit Subjekt- und Identitätstheorien und arbeitet an einer Soziologie der Weltbeziehungen. Wir haben ihn zum Zusammenspiel von Zeit- und Raumwahrnehmung hinsichtlich der Konstitution von Identitäten befragt. (Foto: © juergen-bauer.com)

Herr Rosa, Sie haben eine Theorie der sozialen Beschleunigung vorgelegt, in der Sie von drei wesentlichen Faktoren der Beschleunigung ausgehen: der technischen Beschleunigung (Bewegung, Kommunikation, Transport), der Dynamisierung der sozialen Verhältnisse und der Beschleunigung des Lebenstempos durch eine Zunahme von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit und eine Zunahme eines subjektiven Zeitdrucks, der aus der vermeintlichen Notwendigkeit, aus einer Vielzahl von Optionen zu wählen, entsteht. Diese strukturell in der Moderne angelegten Beschleunigungs- bzw. Steigerungsfaktoren führen zum ‘rasenden Stillstand': die zeitliche Koordinierung von Handlungen nimmt tendenziell mehr Zeit in Anspruch als die Handlungen selbst, wir verschieben Handlungen und tun zunehmend, was wir nicht tun wollen – und auch unsere Identität bestimmt sich daher situativ. Wie kommt es zu dieser Selbstverhältnis- und Resonanzkrise und welche Folgen hat sie für Subjekte und Gesellschaft?

Das Beschleunigungsprogramm der Moderne folgt keiner expliziten Zielsetzung, es verläuft quasi ‚hinter dem Rücken der Akteure‘. Deshalb spielt es auch keine Rolle, wenn wir uns jedes Jahr – zum Beispiel zu Silvester – fest vornehmen, es im nächsten Jahr langsamer angehen zu lassen und uns mehr Zeit zu nehmen, und auch ein paar Slow-Food- oder Slow-Work-Bewegungen helfen da nicht weiter. Die Situation ist analog zu der im Bereich der Ökologie: Dort scheint es auch ganz gleich, wie sehr wir das ökologische Bewusstsein schärfen und wieviel Müll wir trennen: Unser Umwelthandeln wird jedes Jahr schädlich – dafür reichen allein die Flug- und Fernreisen aus. Die Umwelt- und die Zeitkrise haben dieselbe Wurzel, und diese liegt in der strukturellen Steigerungslogik moderner Gesellschaften. Moderne, kapitalistische Gesellschaften können sich in ihrer Struktur nur erhalten, sie können den Status quo ihrer Basisinstitutionen und ihre soziopolitische Ordnung nur aufrechterhalten, wenn sie wachsen, beschleunigen, und innovieren. Ich nenne das den Modus dynamischer Stabilisierung: Stabilität ist nur durch Steigerung zu erreichen – und selbst dann noch prekär. Genau das führt auch bei den Individuen zu einer Situation des ‚rasenden Stillstandes‘: Wir müssen individuell wie kollektiv jedes Jahr schneller laufen, nur um unseren Platz zu halten. Meines Erachtens ist das ein Systemfehler.

Die Geisteswissenschaften und vor allem auch die Geschichtswissenschaft sind spätestens seit den 1990er Jahren maßgeblich durch den spatial turn geprägt, in dem die Räumlichkeit des Sozialen und die soziale Konstruktion von Räumen im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber arbeiten Sie zentral mit der Kategorie Zeit. Ist das ein Widerspruch – oder wie verwoben sind Zeit- und Raumwahrnehmung und welche Rolle spielen sie bei der Konstitution der Identität sozialer Akteure?

Ich will nicht Zeit gegen Raum ausspielen oder umgekehrt – aber ich denke schon, dass die Sozialwissenschaften mehr Aufmerksamkeit auf unsere raum-zeitliche Daseinsweise richten sollten. Raum- und Zeitverhältnisse sind stets eng miteinander verwoben; ändert sich das eine, ändert sich in aller Regel auch das andere, so dass mir der Begriff der Raum-Zeit-Regime als Analysekategorie angemessen erscheint. Was ich allerdings im Beschleunigungsbuch festgestellt habe, scheint mir auch weiterhin richtig zu sein, dass nämlich die Dynamik in der Veränderung unserer raumzeitlichen Lebensweise von der Zeitdimension auszugehen scheint. Das was wir beispielsweise als Globalisierung erfahren, hat zwar viel mit einer Veränderung des Raumbewusstseins, der Raumerfahrung und des Raumhandelns zu tun, aber ausgelöst werden diese Veränderung durch Beschleunigungsprozesse: Beschleunigung in der Datenübertragung, im Transport, in der Kapitalzirkulation etc. In diesem Sinne betrachte ich Zeitverhältnisse als die ‚Antreiber‘, oder als das Einfallstor, für die Veränderung von Raumzeitverhältnissen.

Der Begriff der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’, der von Ernst Bloch eingeführt wurde, in Luhmanns Systemtheorie wiederkehrt und von Koselleck auch für die Geschichtswissenschaft adaptiert wurde, beschreibt räumliche und temporale Asynchronität als gesellschaftliches Phänomen. Ist der Begriff noch aktuell – und kann er als analytische Kategorie helfen, (auch historische) Gesellschaften zu verstehen? Steht er vielleicht sogar sinnbildlich für die Pathologien der modernen Steigerungsgesellschaft?

Meines Erachtens ist der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (oder umgekehrt: Beide Varianten besagen im Prinzip dasselbe) völlig ungeeignet, wenn man von radikaler geschichtlicher Kontingenz ausgeht. Er macht nur Sinn, wenn man im Sinne einer Geschichtsphilosophie oder Fortschrittskonzeption feste sequentielle Folgen annimmt. Das kann sich auf individuelle Leben wie auf gesellschaftliche Entwicklungen beziehen. Beispielsweise kann jemand noch zur Schule gehen, aber schon Kinder haben: Das wäre die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, weil gleichzeitig Elemente des Kindseins (zur Schule gehen) und des Erwachsenseins (Kinder haben) präsent sind. Das gilt aber nur, solange man meint, Schule und Kinder müssten einen festen Platz in der sequentiellen Ordnung eines Lebens haben. Sobald wir akzeptieren, dass man auch mit 50 oder 60 Jahren zur Schule gehen kann, können wir nur noch die Präsenz von Differenzen feststellen: EIN Schüler hat Kinder, ein anderer ist ein Kind, ein Dritter hat schon Enkel. Das gilt auch für Gesellschaften und Funktionssphären: Wenn ich meine, Demokratie, Marktwirtschaft, Industrialisierung und Rechtsstaat gehören zusammen, dann beobachte ich in einem Staat, der ein demokratischer Rechtsstaat ist, aber noch ‚steinzeitlich‘ produziert, Ungleichzeitigkeit, und dasselbe gilt für einen hoch technologisierten Staat, der weder Rechtsstaat noch Demokratie kennt. Wenn ich jedoch davon ausgehe, dass historische (Teilordnungen) kontingent sind, dann habe ich nur noch Differenz: Ein Staat ist demokratisch und kapitalistisch, einer demokratisch und sozialistisch, einer kapitalistisch mit traditionalistischen Herrschaftsstrukturen usw. Nur wenn ich von festen Sequenzen ausgehe, also etwa: Schule-Ausbildung-Beruf-Kinderkriegen-Ruhestand oder: Feudalismus-Kapitalismus oder Monarchie-Demokratie, kann ich Ungleichzeitigkeiten konstatieren. Der Glaube an die empirische und normative Validität solcher Muster ist in der Spätmoderne aber grundsätzlich erschüttert.

Sie haben immer wieder betont, dass es nicht per se um Verlangsamung gehe, schon gar nicht um Entschleunigung, wenn wir der sozialen Beschleunigung begegnen wollen, sondern darum, dass sich die gesellschaftliche Grundform ändern müsse. Wir müssten uns selbst aufklären, uns darüber verständigen, wie wir leben wollen. Wenn aber alles fremdbestimmt scheint, wie kann es gelingen, dass die Subjekte ihr Handeln wieder als selbstwirksam erleben? Welche Anreize müssen geboten werden, damit wir das (vermeintliche) Risiko des Zeit- und Optionenverlustes eingehen?

Ich weiß nicht, ob dafür Anreize geboten werden müssen. Ich arbeite derzeit am Entwurf einer ‚Resonanztheorie‘. Sie zielt im Kern darauf ab, uns zu überzeugen, dass das Leben nicht durch die Vergrößerung der ‚Weltreichweite‘ (durch Technik, ökonomische Ressourcen, aber soziales und kulturelles Kapital etc.) besser wird, sondern durch die Überwindung von Entfremdung: Durch die Etablierung einer anderen Form der Beziehung zur Welt, das heißt: Zu den Menschen, zur Natur, zu den Dingen und zu uns selbst. Das scheint mir die Stelle zu sein, an der die Steigerungslogik der Moderne sich durchbrechen lässt. Denn indem wir denken, unser Leben werde besser, wenn wir mehr Welt in Reichweite bringen – wenn ich mehr Geld hätte, könnte ich eine Yacht kaufen oder zum Mond fliegen, wenn ich das schnellere Smartphone hätte, könnte ich darauf Skype installieren, wenn ich in der Stadt wohnen würde, hätte ich Kinos und Theater in Reichweite, wenn ich zu der tollen Party eingeladen würde, hätte ich Zugang zu ganz neuen sozialen Kreisen – erzeugen wir die subjektiven Motivationsenergien, das Steigerungsspiel auf allen Ebenen voranzutreiben. Wir alle machen aber die Erfahrung, dass unser Leben dann und dort wirklich gelingt, wo wir in einen Resonanzmodus der Weltbeziehung geraten: Dort geht es nicht um Steigerung, denn das sind die Momente, in denen uns etwas wirklich berührt und in denen wir umgekehrt etwas oder jemanden wirklich zu erreichen vermögen. Transformative Weltanverwandlung nenne ich das, denn dabei verändern wir uns auch selbst. Alle Menschen kennen diesen Erfahrungsmodus, und sei es auch aus noch so flüchtigen und weit zurückliegenden Momenten. Das sind die Andockpunkte, an denen wir ansetzen können, ich glaube, hier sind wir als Subjekte eben doch nicht vollständig entfremdet.

Das Phänomen Kontingenz wird in den Geisteswissenschaften als endgültige Abkehr vom Historismus zunehmend stark gemacht (Paradigma des historischen Wandels). Die postfundamentalistische Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe arbeitet schon seit den 1980er Jahren mit den Kategorien der radikalen Kontingenz und des Dissenses und betont die Notwendigkeit der Mobilisierung konfliktueller, emotionaler Leidenschaften in Demokratien. Müssen wir mehr streiten? Bietet vielleicht die Betonung radikaler Kontingenz (nichts ist vorherbestimmt und alles kann immer auch anders sein), die Betonung der “demokratischen Ethik” (Oliver Marchart), also der institutionalisierten Selbstentfremdung in unserer demokratischen Gesellschaft, einen Ansatzpunkt für einen Bewusstseinswandel? Ist eine gesamtgesellschaftliche Politisierung die Antwort auf die Resonanzkrise, die wir in zunehmendem Maße erleben?

Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Meine Wunschformel heißt nicht Konflikt oder Streit, sondern Resonanz. Ich glaube allerdings in der Tat, dass Demokratie, auch und gerade die demokratische Auseinandersetzung, ein zentrales Instrument für die ‚Anverwandlung‘ von Welt ist: Mit den Mitteln der Demokratie bringen wir die Institutionen der öffentlichen Sphären dazu, auf uns zu reagieren, uns zu antworten. Das setzt Selbstwirksamkeitserfahrungen in Gang, die unerlässlich sind für Resonanzbeziehungen: Bürgerinnen und Bürger müssen die Erfahrung machen können, dass ihr Handeln und Streiten Welt verändert. Resonanz meint dabei nicht Echo und nicht Harmonie: Wenn alle das Gleiche wollen und sagen, entsteht keine Resonanz, sondern ein leeres Echo. Resonanz impliziert schon Widerspruch und Auseinandersetzung, aber auf einer anderen Ebene als die Feindschaft: Feindschaft ist Repulsion, ist Resonanzvernichtung, ist gegenseitige Verletzung. Das kennt jeder aus der privaten Sphäre: Mit meinem besten Freund streite ich fast unablässig – aber auf der Basis einer Resonanzbeziehung, wir sind offen für einander und lassen uns durch den Streit berühren und verändern. Bei meinen Feinden ist es anders: Die wollen mich fertig machen, und ich sie. Ich habe das Gefühl, dass in den neueren Ansätzen, die Konflikt und Kontingenz betonen, diese Voraussetzungen unterbelichtet bleiben. Bei Rancière jedenfalls klingt es bisweilen so, als stifte der Streit selbst ein soziales Band. Das finde ich unplausibel.

 Vielen Dank.

 

Hartmut Rosa zum Nachhören

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/160

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Die Peregrinatio des Columban von Luxeuil. Selbstaufgabe im frühmittelalterlichen irischen Christentum

Ein Gastbeitrag von Tord Hendrik Grobe, M.A.

Um sich der heute fremden Welt des frühmittalterlichen und spätantiken Mönchtums anzunähren, ist es notwendig, das Konzept der Peregrinatio zu betrachten (Das Beitragsbild zeigt St. Gallus).1 Die Selbstidentifikation des frühmittalterlichen Christen, sei es in Irland oder Syrien, war geprägt von der Vieldeutigkeit dieses Begriffes. Im heutigen Verständnis wird dieses lateinische Wort in den meisten Fällen mit Pilgerschaft übersetzt. In der römischen Antike hatte es jedoch eine andere Bedeutung.2 Peregrinatio bedeutete in der Antike die Abwesenheit einer Person von allem Vertrauten, einen Aufenthalt in der Fremde, welcher als „Mühsal“ empfunden wurde. Seneca sah in der Peregrinatio einen Verlust der Freunde, der die Seele arm und das Leben nicht mehr lebenswert mache.3 Auch im römischen Rechtsvokabular hatte dieser Begriff eine Bedeutung. Im Rechtsgebrauch der römischen Republik und des frühen Kaiserreichs ist der Peregrinus eine Person, die kein römisches Bürgerrecht besaß, aber als freier Mann im römischen Herrschaftsraum lebte.4

Als Kaiser Caracalla im Jahre 212 n. Chr. allen Untertanen das römische Bürgerrecht verlieh, erlangte Peregrinatio im sich entwickelndem Christentum einen neuen Bedeutungsinhalt.5 In der christlichen Tradition sollte die Peregrinatio als Begriff für eine asketische Haltung, die mit Pilgerschaft verbunden war, eingehen. Zwar wurde Peregrinatio in der spätantiken christlichen Literatur auch für die Wallfahrt benutzt, dies geschah jedoch seltener und wurde mit dem Zusatz sacra versehen: Peregrinatio sacra.6 Der christliche Wortgebrauch kann als „Aufbrechen in das Unbekannte“ oder als „Verweilen in der Fremde“ wiedergegeben werden. Das Leben eines Christen auf der Erde wurde als Peregrinatio verstanden. Jean Leclercq beschrieb die Peregrinatio im Christentum so:

„Peregrinus ist der, der den Himmel ersehnt: er seufzt, er ist unbefriedigt auf Erden, er strebt zum Vaterland. Dieses ist der Fall eines jeden Christen. In engere Umgrenzung ist […] Peregrinus ein Christ der um die Sehnsucht nach dem Jenseits, ihm sich zu nähren auf alles verzichtet was ihn auf Erden sesshaft machen könnte. Er zieht in ein Land dessen Sprache er nicht kennt, wo er nicht die Rechte geniest die dem civis garantiert sind“.7

Das Mönchstum der Spätantike und des Frühmittelalters war stark von dieser Vorstellung der Pilgerschaft beeinflusst. So zogen sich die frühen Mönche Ägyptens in die Wüste zurück8 oder gingen weite Strecken wie Martin von Tours, der von Pannonien nach Gallien wanderte, um der Welt ein Fremder zu werden.9 Das Wandern wurde als Gang in die Verbannung verstanden, als asketische Läuterung, die den Mönch zur höchsten Vollkommenheit führen sollte.10 Aber nicht das Wandern, das sich Entfernen von allem Vertrauten war wichtig, sondern das Fremdsein in der Welt.11
In der Tradition der Peregrinatio nahmen als Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. 29 und Mt. 16. 24 eine besondere Stellung ein.12 Als biblische Grundlage der Peregrinatio wurde die Berufung Abrahams und sein Auszug aus der Heimat (Gen.12.1-4)  genutzt.13 Dies entfaltete schon im Frühchristentum eine starke Wirkungsmacht: so werden im Hebräerbrief 11. 13 Abraham und seine Nachkommen als Gäste auf Erden bezeichnet.14 Im 1. Petrusbrief 2. 11 wurde diese Vorstellung auf alle Christen übertragen.15 Auch der Exodus der Stämme Israels aus Ägypten galt den Kirchenvätern als Beispiel der Peregrinatio. Das Schicksal Abrahams und Moses wurden zum Symbol einer „Grundbefindlichkeit des Lebens des Christen in der Welt“.16
Der bedeutende Theologe John Cassian (360–435) forderte nach dem Vorbild Abrahams von den Mönchen einen dreifachen Auszug, um sich aus der Welt zu lösen: den Verzicht auf eine Heimat, die Aufgabe allen weltlichen Besitzes und das Verlassen der Verwandtschaft und des Elternhaus.17
Auch die Neuen Testamente wurden genutzt, um die Peregrinatio zu definieren. Die Forderung Jesus zur Aufgabe jeglichen Besitzes und das Loslösens aus dem vertrauten Umfeld wurde als Appell für das des unblutigen Martyriums des Asketen verstanden und war besonders für das Mönchtum wichtig.18 Für den heiligen Hieronymus sind die Mönche die Vollkommensten, die das Loslösen befolgen, da sie als Lohn die Fesseln der Welt abstreifen können.19 Bei Cassian wurde es als Pflicht eines Mönches betrachtet, seine Person abzutöten, indem er absolut asketisch lebte und sich völlig der Gehorsamspflicht gegenüber dem Abt hingab. Als Asket war er für die Welt gestorben und erlangte so das „Martyr vivus“.20 Der Mönch folgte Jesu durch das unblutige Martyrium nach.

Das Ziel der Peregrinatio, der Welt ein Fremder zu werden, strebte auch der iroschottische Missionar Columban der Jüngere (615) konsequent an. In seinem Sermon VIII wird dieses sehr deutlich.21 Der Rückzug von der Welt bedeutete ihm die Hinwendung zur wahren Heimat des Gläubigen, dem Himmel. So verglich Columban das Leben mit einer Straße und einem Schatten: „[…] iam enim diximus viam esse humanam vitam, et quam sit dubia et incerta, et non esse quod est“.22 Für Columban war es notwendig die Straße des Lebens schnell hinter sich zu lassen, um den Frieden der wahren Heimat zu erlangen.23 Die Welt schien ihm weniger real, als die Allmacht Gottes. Die Welt sollte, so verlangte es Columban, verachtet werden und die Gedanken immer auf das Ende des Weges gerichtet sein. ((Vgl. ebd.)) Diese Selbstaussagen Columbans sind „altbekannte Vorstellungen der asketischen Tradition“.24

Jonas von Bobbio stellte die Abwendung Columbans von der Welt in mehren Phasen dar und nutzte dazu die Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. und Mt. 16.25 Die erste Phase war das Verlassen des Elternhauses. Direkt zitiert wird: Mt, 19. 29. Columban verließ Leinster und begab sich nach Norden, in das Königreich von Oriel26 zu dem gelehrten Sinulls.27 Dieser ist relativ sicher als Sinell, Sohn des Mianiach, Abt von Clean Inis in Lough Erne identifiziert worden. Jonas berichtete, dass Columban hier eine sehr gute Ausbildung in Theologie erhielt.28 Doch Columban setzte seine Peregrinatio fort, indem er in das vom Abt Comgall geführte Kloster Bangor eintrat.29 Wo er, wie Jonas berichtete, sich selbst verleugnete und das Kreuz auf sich nahm. Er wurde Mönch30. Unter dem Eindruck der Berufung Abrahams erwachte in ihm der Wunsch, die Peregrinatio in der Fremde fortzuführen.31 Nun begann die zweite Phase der Peregrinatio, das Verlassen der irischen Heimat. In der christlichen, irischen Tradition das größte Opfer, welches ein Asket zu bringen vermag.32 Das alte irische Recht kannte keine höhere Form der Strafe als zwei unterschiedlichen Formen der Verbannung.33 Erstens: die Verbannung aus dem eigenen Königreich. Die so Gestraften, wurden Ambue34 genannt und waren auf die Mildtätigkeit anderer angewiesenen. Zweitens: die schwerste Strafe, die das alte Irland kannte: der Übeltäter musste die Insel verlassen, die er mit seiner bloßen Anwesenheit verseuchte, er wurde zu einen Cu glas.35 In ein Boot gesetzt wurde er Wind und Wellen überlassen, und der Gnade Gottes überantwortet.36 Hier liegt der Kern des irischen Verständnisses der Peregrinatio. Asketen übernahmen die Rolle eines Verbannten, zuerst aber nur in Irland selbst.37 Dieses entspricht der ersten Phase der Peregrinatio bei Jonas.

Als im späten siebten Jahrhundert die Asketen in Irland Rechte und Schutz erhielten, die denen eines Königs oder Bischofs gleichkamen, war die Selbstentsagung in Irland nur noch eingeschränkt möglich.38 Die Identifizierung des Peregrinus mit dem Cul glas bot eine Alternative, die in Irland als die höchste Form der Peregrinatio verstanden wurde. Die Überquerung des Meeres, welches im alten Irland als ein feindlicher, fremder Ort verstanden wurde, an dem der Gläubige Gott sehr nahe war, brachte den Peregrinus ein gutes Stück näher zu Gott.39 Am Anfang dieser Entwicklung stand Columban der Jüngere, er war der erste irische Mönch, von dem wir wissen, dass er freiwillig die größere Peregrinatio auf sich nahm.40

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  2. Vgl. Leclercq, Jean: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter. In: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 55, 1950, S. 213.
  3. Vgl. ebd. S. 214.
  4. Vgl. Kötting, Bernard: Perignatio Religiosa. Wallfahrten in der antike und Pilgerwesen der alten Kirche, Münster 1950, S. 7-11.
  5. Vgl. Albert, Andreas: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters. St. Ottilien 1992, S. 10.
  6. Vgl. Kötting: Perignatio Religiosa, S. 7-11.
  7. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  8. Vgl. Lohse, Bernard: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche. Wien 1969, S. 190-197.
  9. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  10. Vgl. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters, S. 11.
  11. Vgl. Meinold, Ursula: Columban von Luxeuil im Frankenreich. Marburg 1981, S. 18.
  12. Vgl. Angenendt, Arnold: Monarchi peregrini. München 1972, S. 136-137.
  13. Der Herr sprach zu Abraham: ziehe weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde […]. Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte […].
  14. Diese alle starben im Glauben, erlangten aber die Verheißung nicht, sondern sahen es nur von fernen und bekannten, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren.
  15. Liebe Brüder, ich ermahne euch als Fremdlinge in dieser Welt: Haltet euch frei von Eigensucht und Begierde [..].”
  16. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und Hochmittelalters, S. 26.
  17. Vgl. ebd. S. 32.
  18. Vgl. Mt. 19. 29.: “Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt, um meines Namens willen, der wird hundertfach wieder empfangenen und das ewige Leben erben.“; Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133ff.
  19. Vgl. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 214.
  20. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133; Lohse: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche, S. 224-226.
  21. Einen Überblick über die Sermone bietet Sancti Columbani Opera. Scriptores Latini Hiberniae, Volume II, hgg. v. Walker, Dublin 1970, S. xxxix-xliv.
  22. Columban: Instructio VIII. Hgg. v. Walker, 2Dublin 1970, S. 94: „[…] foe we have already said that human live is a roadway, and by the likeness of a shadow we have show how doubtful it is and uncertain“.
  23. Vgl. Columban: Instructio VIII., S. 94.
  24. Angenendt, Arnold: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800. (Die Iren und Europa im frühen Mittelalter 1), Stuttgart 1982, S. 52.
  25. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 137.
  26. Nordirisches Königreich, liegt an der irischen See. Vgl. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 41.
  27. Vgl. Freiherr von Stein Gedächtnis Ausgabe, Bd. 4. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  28. Vgl. Bullock, Donald: The career of Columbanus. Woodbrige 1997, S. 4-6; Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  29. Vgl. Gwynn, John: The irish monastery of Bangor. In: Melanges Colombaniens. Actes du Congres international de Luxeuil, 20-23 Juillet 1950, Paris 1950, S. 47-54.
  30. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 415. Auch in dem Sermon X. spricht Columban dieses Thema an , in dem er sagt, dass, wer nicht das Martyrium auf sich nehmen kann, sich den eigenen Willen abtöten und nicht mehr für sich selbst leben soll (vgl. Columban: Instructio VIII, S. 102).
  31. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, Bd. 4, S. 415.
  32. Vgl. Charles-Edwards, Thomas M.: The social Background of the irish Peregrinatio. In: Celtica 11, 1976, S. 43ff.
  33. Angenendt: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800, S. 52.
  34. Heißt übersetzt: Fremder. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46f.
  35. Heist übersetzt: Grauer Wolf. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46.
  36. Vgl. ebd., S. 49ff.
  37. Vgl. ebd., S. 57-59.
  38. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 69.
  39. Siehe auch die Seefahrt des heiligen Brendan. Vgl. O Croinin, Daibhi: Early medival Irland. 400-1200, New York 1996, S. 220-221
  40. Die Peregrinatio anderer irischer Heiliger war, wenn sie Irland verließen, nicht völlig freiwillig, meist war sie eine Strafe. Dies wird besonders deutlich bei Columba von Iona. Vl. Richter: Irland im Mittelalter, S. 62.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/304

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ZEIT-RAUM-IDENTITÄT

Die Idee – Studierende in den wissenschaftlichen Diskurs einbinden

Im April 2014 fand am Historischen Seminar der Leibniz Universität  Hannover die Tagung Zeit-Raum-Identität. Interdisziplinäre studentische Tagung zu aktuellen Fragen der Geisteswissenschaften statt. Organisiert und durchgeführt wurde diese von Studierenden des Historischen Seminars, die sich zu diesem Zweck bereits im Mai 2013 zu einer Projektgruppe zusammengeschlossen hatten. Ausgehend von der Feststellung, dass der wissenschaftliche Diskurs im studentischen Alltag häufig keine Rolle spielt und gerade auch disziplinenübergreifender Austausch zu selten stattfindet, machten sie sich daran, eine studentische Tagung zu organisieren.

Im Wintersemester 2013/14 begann im Rahmen des studentischen Kolloquiums Zeit-Raum-Identität die inhaltliche Annäherung an das weit gefasste Themenfeld, dessen Kategorien Zeit und Raum in den letzten Jahren in verschiedensten geisteswissenschaftlichen Disziplinen immense Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, ohne dass jedoch gerade hinsichtlich deren Verknüpfung und der dritten Kategorie, der Identität (oder besser Identifikation), abschließende Antworten gefunden worden wären. Damit war die Grundlage geschaffen, auf der die konkrete Planung der Tagung und später die Auswahl der Beiträge durchgeführt werden konnten. Obwohl die Projektgruppe hin und wieder mit Dozierenden Rücksprache über die Antragstellung und das Projektkonzept hielt, erarbeiteten die Studierenden beides eigenständig. Dabei galt es durchaus, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, mit Dingen zu befassen, die keiner zuvor gemacht hatte: Ein stichhaltiges Konzept schnüren, einen konkreten Finanzplan kalkulieren, die Finanzierung bei unterschiedlichen Förderern absichern, Unterkünfte für die Referenten buchen, Werbung für die Tagung erstellen, Plattformen für den Call for Papers suchen, einen Verlag für den Tagungsband finden, Räume buchen und vieles mehr. Unsicherheiten ergaben sich, weil keine geeigneten und aktuellen Mailverteiler für Fachräte und Fachschaften der entsprechenden Studiengänge im Bundesgebiet vorhanden waren und der Bewilligungsbescheid des Hauptförderers, dem mittlerweile nicht mehr existenten Leibniz-KIQS-Förderprogramm, auf sich warten ließ. Gefördert wurde das Projekt zudem durch den Allgemeinen Studierendenausschuss der Uni Hannover und den Verein Campus Cultur e.V. zur Förderung der Fakultätskultur der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover.

Ende Januar 2014, nachdem alle eingegangenen Exposés gesichtet, eine Auswahl getroffen und die Teilnahmebescheide verschickt waren, begannen diese konkreten Vorbereitungen. Als Moderierende oder für Inputvorträge konnten Lehrende des Historischen Seminars gewonnen werden, die von der Idee einer studentischen Tagung im Hause begeistert waren und ihre Unterstützung ohne Umschweife zusicherten.

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Die Tagung – fachliche Diskussionen, statusgruppenübergreifender Austausch

Die Tagung selbst fand vom 25. bis 27. April 2014 in den Räumen des Historischen Seminars statt und gliederte sich in einen Begrüßungs- und Inputblock am Freitagnachmittag, zwei Vortragsblöcke am Samstag und einem Vortragsblock am Sonntagvormittag mit zusammenfassender Abschlussdiskussion des Wochenendes. Leider mussten zwei Referenten wegen Krankheit absagen, sodass für den Samstagnachmittag kurzfristig ein Ersatzvortrag organisiert werden musste, was jedoch glücklicherweise gelang und zur Auflockerung der Veranstaltung beitrug. Obwohl die Referenten und ihre Beiträge aus unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen stammten, sich mit verschiedenen Themenfeldern befassten und methodisch anders operierten, stellten sich bereits unmittelbar am Freitag intensive fachliche Diskussionen ein, die das ganze Wochenende über vertieft wurden. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Hintergründe und Qualifikationen stellten dabei aber kein Hindernis, sondern wie erhofft eine immense Bereicherung dar. Alle Beteiligten zeigten sich im Anschluss an die Veranstaltung begeistert und zufrieden.

Die Ergebnisse – Resümee und Perspektiven

Im Anschluss an die Tagung sollten deren Ergebnisse gesichert werden. Dazu hatte die Projektgruppe einen Tagungsband geplant und den jmb-Verlag für das Projekt gewinnen können. Die überarbeiteten und durch Anregungen aus den Diskussionen im Rahmen der Tagung ergänzten Beiträge der Referenten wurden von den Mitgliedern der Projektgruppe mehrfacher Korrekturlesungen unterzogen, an die Autoren zurückgegeben und nochmals redigiert. Da viele Beiträge erst nach der Tagung ihre finale Ausformulierung fanden oder auf Grundlage der Tagungsdiskussionen ergänzt oder editiert wurden, verzögerte sich die Sichtung der Beiträge und dauerte bis in den Oktober hinein. Der Tagungsband konnte daher nicht, wie optimistisch geplant, im Oktober, sondern erst im Dezember 2014 veröffentlicht werden. Auch wenn die Projektgruppe hierfür weniger Zeit eingeplant hatte, ist es in der Wissenschaftspraxis kaum üblich, dass ein Tagungsband bereits acht Monate nach der Veranstaltung publiziert werden kann.

Die Realisierung des gesamten Projektes, der Tagung und des Tagungsbandes, hat gezeigt, dass es Studierenden durchaus möglich ist, eigenständig und selbstbestimmt die Universität und den wissenschaftlichen Austausch und Diskurs mitzugestalten, dass auch sie durchaus in der Lage sind, Beiträge zu aktuellen wissenschaftlichen Debatten zu leisten. Die Verleihung des Campus Cultur-Preises für Studierende an den Studierendenrat Geschichte, aus dem ein Großteil der Projektgruppe und die Idee zu Tagung und Kolloquium stammte, zeigt die Wertschätzung vonseiten der Lehrenden und die Wichtigkeit derartiger Projekte. Der Preis wurde am 16. Januar 2015 im Rahmen der Absolventenfeier der Philosophischen Fakultät überreicht.

Dennoch bleibt viel zu tun, damit solche Projekte nicht Einzelfälle, sondern die Regel werden, damit Studierende sich aktiv in wissenschaftliche Diskurse einbringen und an der Wissenschaftspraxis teilnehmen. Nicht nur in der Wissenschaft gehört das Knüpfen von Netzwerken heute zu den absoluten Notwendigkeiten. Tagungen sind hierfür eine großartige Möglichkeit, die Referenten unserer Tagung stehen auch heute noch in Kontakt und tauschen sich aus. Gerne wollen sie das Projekt mit einer neuen Tagung fortführen – wann, wo und wie dies geschehen wird, ist allerdings noch unklar, da studentische Gruppen einer starken Fluktuation unterliegen oder sich deren Mitglieder anderen Projekten widmen und stetig auf engagierten Nachwuchs angewiesen sind.

Eines aber ist gewiss: die nächste Tagung kommt bestimmt!

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Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/104

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