Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 3

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts[1]]

Drittes Kapitel

Von den Räubereien und Eintreibungen der Mächtigen durch sie selbst oder durch ihre Spießgesellen und über ihre verschiedenen Verbrechen[2]

Während der Herr spricht, dass es besser zu geben statt zu nehmen sei, füllten die Menschen jener Zeit, und vor allem die, die die Regierungsgewalt über andere empfangen hatten, nicht nur durch ungesetzliche Schenkungen die Hände der Gierigen, oder erpressten durch Sammlungen und ungebührende Eintreibungen Geld von den Unterworfenen auf ihre eigene Verdammnis hin, sondern sie unterdrückten durch Plünderungen und gewaltsame Räubereien fortwährend, mal im Verborgenen, mal öffentlich, unvorsichtige oder schwache Menschen auf grausame Weise. Dabei waren sie sich nicht genügend gewahr, dass geschrieben steht: „Wehe, der du raubst, denn du wirst beraubt werden.“[3]Über diese sagte der Herr durch den Propheten: „Die das Fleisch meines Volkes fraßen, seine Haut abzogen und seine Knochen zerbrachen, werden zum Herrn schreien, er wird sie nicht erhören und sein Antlitz vor ihnen verbergen.“[4] Die Elenden bedenken nämlich ihre letzten Dinge nicht, wie Jeremia sagt: „Schmutz ist an ihren Füßen, weil sie das Ende nicht bedacht hat.“[5] „Dem Geringen kommt Erbarmen zu, die Mächtigen aber werden heftige Folter erleiden“,[6] und großes Gericht droht den Großen. Dieselben aber suchten nicht nur nach Beute, sondern verwüsteten auch ganze Landstriche durch Brand, und sie schonten nicht die Ländereien und Besitztümer der Klöster und Kirchen, da sie mit frevlerischer Hand die Heiligtümer aufbrachen und das dem geistlichen Dienst Gewidmete aus dem Innersten und von der Brust des Herrn wegschleppten. Den Armen und dazu seine Güter gaben sie ihren ruchlosen Spießgesellen preis, während sie in leichten Fällen untereinander wetteiferten. Mit Eisen gegürtet besetzten sie die Straßen und öffentlichen Plätze, wobei sie die Pilger und Geistlichen nicht verschonten. In den kleinen Orten und auch den Städten erfüllten Meuchelmörder und Verbrecher die Häuser, Plätze und verborgenen Orte, und lagen, durch das Blut der Unschuldigen geschützt, überall im Hinterhalt. Selbst auf dem Meer plünderten Freibeuter und Piraten, weil sie das göttliche Urteil nicht fürchteten, nicht nur die Händler und Pilger aus, sondern sie versenkten sie meist auch auf den Meeresgrund, indem sie ihre Schiffe anzündeten.

Die Fürsten jedoch und die ungläubigen Machthaber, die Verbündeten der Diebe, die eigentlich gehalten waren, den Frieden zu wahren und die Untergebenen zu verteidigen, und weiterhin die Verderben bringenden Menschen von den Untergebenen gleichsam wie Wölfe von den Schafen durch Abschreckung fernzuhalten, gewährten, nachdem sie Geschenke von ruchlosen und unheiligen Menschen aus Gier nach zeitlichem Gewinn angenommen hatten, ihnen Schutz und Begünstigung. Wenn sie einen Dieb sahen, liefen sie mit ihm, als ob sie sagen wollten: „Gib uns den Beuteanteil, der Geldbeutel sei einer für uns alle.“[7] Und so unterstützten sie die Diebe, Räuber, Kirchenschänder, Wucherer, Juden, Messerstecher und Mörder, die aufrührerischen Menschen, die sie eigentlich schwer bestrafen, von Grund auf ausrotten und aus der Mittel entfernen sollten, wobei sie selbst ohne Grund das Schwert trugen. Sie ließen sie ungestraft Übeltaten begehen, wo doch der Herr durch den Propheten sagt: „Sucht die Gerechtigkeit, helft dem Unterdrückten, schafft Recht der Waise und verteidigt die Witwe.“[8]

Sie selbst jedoch, die unreine Hunde waren und keine Sättigung kannten, die mit den höllischen Raben nach Leichen schnappten, unterdrückten die Armen mit Hilfe ihrer Vögte und ihrer Spießgesellen. Sie beraubten die Witwen und Waisen, während sie heimtückisch waren, Verleumdungen verbreiteten und viele Verbrechen begingen, um durch Folter Geld zu erpressen. Meistens wurden die Wehrlosen in Kerker und Fesseln verschleppt und die Unschuldigen gefoltert aus keinem anderen Grund, als weil man glaubte, dass sie noch etwas besäßen. Und vor allem die, die wegen der Verschwendungssucht und der Ausschweifung ihrer Herren schon nichts mehr besaßen, wurden für Turniere und die pompöse Eitelkeit der Welt, für überflüssige Ausgaben, Schulden und Zinsen in Fesseln gelegt. Aber auch Spielleute und Jongleure, Possenreißer, Landstreicher und Narren, Hofschranzen und Ehebrecher verzehrten den Besitz der Räuber, wie wenn sie zu ihrem Fürsten oder Tyrannen sagen wollten: „Reiße nieder, reiße nieder, bis auf den Grund.“[9] „Kreuzige, kreuzige“[10], schlachte und iss.

Dieselben Fürsten aber erlaubten zum Vollmaß ihrer eigenen Verdammnis den Huren und Bordellen, den Spielern, Wirtshäusern und Spelunken, die den Fallgruben der Räuber und den Synagogen der Juden ähneln, dem ungerechten Maßnehmen, den gefälschten Waagen und anderen Krankheiten dieser Art, die die Welt und ihre Staaten und Länder besetzten, und die sie austilgen, zerstören, verderben und zerreißen sollten, fortwährend zu wachsen. Nicht nur diejenigen, die solches verüben, sondern auch diejenigen, die zustimmen, werden das Reich Gottes nicht besitzen.

[1] Nachdem wir am 28. November mit dem Übersetzungsprojekt zur Historia Occidentalis begonnen haben, folgt hier nun das dritte Kapitel. Bitte beachten Sie zum besseren Verständnis immer die Einleitung, mit Informationen zur Vorgehensweise beim Übersetzungsprojekt und zum Editionstext, der die Grundlage für diese Übersetzung bildet: http://mittelalter.hypotheses.org/2529.

[2] Hist. Occ. III, ed. Hinnebusch, S. 79-81.

[3] Jes 33,1, eigentlich „vae qui praedaris nonne et ipse praedaberis“ (BSV).

[4] Mi 3,3.

[5] Klgl 1,9.

[6] Weish 6,7.

[7] Spr 1,14.

[8] Jes 1,17.

[9] Ps 136,7 (Ps 137,7).

[10] Lk 23,21.

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 1-2, übers. von Christina Franke, mit einer Einleitung von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 9. Dezember 2013, http://mittelalter.hypotheses.org/2634 (ISSN 2197-6120).

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2634

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 1-2


Einleitung zum Übersetzungsprojekt

(Björn Gebert)

Die Historia Occidentalis Jakobs von Vitry (gest. 1240) stellt eine ungemein reiche und bekannte Quelle für die Geschichte der lateinischen Kirche im frühen 13. Jahrhundert aus der Sicht eines ihrer Vertreter dar. Der Autor, ein Regularkanoniker, hatte in Paris studiert, gegen die Albigenser gepredigt, war zeitweise Bischof von Akkon und war, gleichsam Höhepunkt seiner kirchlichen Karriere, im Jahr 1229 durch Papst Gregor IX. zum Kardinalbischof von Tusculum erhoben worden.[1] Er darf als Förderer der semireligiosen Lebensweise der Beginen, als Beobachter und Kenner der religiosen Bewegungen seiner Zeit und als Befürworter der Kirchenreform gelten. Die Historia Occidentalis, die er wohl um 1225 vollendete,[2] ist nach einer Historia Orientalis der zweite von drei geplanten Teilen von Jakobs Historia Hierosolimitana abbreviata, die neben zahlreichen Predigten[3] sowie Briefen und einer Vita wiederum nur einen Teil seines schriftlichen Schaffens darstellt.

Bei der Historia Occidentalis handelt es sich freilich nicht um das Werk eines Historikers, der in jedem Fall objektiv versucht Fakten darzustellen. Sie ist zwar durchaus eine historia in Form einer “Historiographie religiösen Lebens”,[4] aber Haltung und Intention des Autors hat Franz J. Felten kürzlich gut auf den Punkt gebracht:

Zweifellos war er ein gut informierter, verständiger, aber unterschiedlich verständnisvoller Beobachter des religiosen Lebens seiner Zeit, oft genug als Augenzeuge. Vor allem aber erscheint er als Theologe und Prediger mit den zeit- und standestypischen Denkmustern (wie z. B. alternde Welt, allgemeiner Sittenverfall, Wesen der Frau) und paränetischen Absichten.”[5]

Dabei ist das Bild, das Jakob von Geschichte und Gegenwart zeichnet, so Felten weiter, “(zumindest teilweise) bewusst konstruiert […], um die höheren kirchenpolitischen Ziele des Autors zu fördern”.[6]

Inhaltlich bietet Jakob im Wesentlichen eine Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen westlichen Kirche und Welt, die zunächst sehr düster ausfällt, etwa wenn er die Bewohner des Abendlandes im Allgemeinen, speziell aber auch weite Teile des Klerus als sündhaft und sittenarm beschreibt.[7] Eine Hoffnung und gewissermaßen ein Licht in der Finsternis stellen für den Autor neben einzelnen Klerikern, quasi stelle in firmamento caeli,[8] vor allem die jüngeren, reformorientierten religiosen Bewegungen seiner Zeit dar.[9] Theologische Ausführungen über das Priesteramt und die Messe, das Bischofsamt und die Sakramente bilden den Abschluss des Werkes.[10]

Für die Historia Occidentalis liegt eine kritische Edition aus dem Jahr 1972 vor, die von dem Dominikaner John Frederick Hinnebusch besorgt wurde.[11] Eine publizierte vollständige englische oder deutsche Übersetzung gibt es bislang jedoch nicht.[12] Angesichts der unbestrittenen Bedeutung dieser Quelle,[13] die unter anderem auch darin besteht, dass ihr Autor spätestens 1219 mit Franziskus von Assisi zusammengetroffen war[14] und deshalb in seiner Chronik ein sehr frühes und externes Zeugnis für die junge franziskanische Bewegung liefern konnte, überrascht dieser Befund.[15] Zwar wird der Forscher ohnehin zum lateinischen Text greifen müssen, will er mit der Quelle methodisch sauber arbeiten, doch für die akademische Lehre, gerade in Hinblick auf Studienanfänger, die über (noch) keine Lateinkenntnisse verfügen, erscheint eine Übersetzung ins Deutsche ein Desiderat. Ausgehend von der Edition von Hinnebusch soll dies nun von Christina Franke geleistet und das Ergebnis hier auf dem Blog zur Verfügung gestellt werden.[16]

Theoretisch ist es das Ziel, monatlich ein oder zwei Kapitel zu veröffentlichen, aber garantiert werden kann diese Regelmäßigkeit leider nicht, da weder die Übersetzerin, noch der Redakteur die Arbeit an diesem Vorhaben hauptberuflich betreiben bzw. mangels Finanzierung auch gar nicht betreiben könnten.

Es folgt die Übersetzung des ersten und zweiten Kapitels nach der Edition Hinnebuschs, die bei der Lektüre immer mit herangezogen werden sollte, da alternative Lesarten in der Übersetzung i.d.R. nicht berücksichtigt werden und nur die in der Edition als direktes Zitat gekennzeichneten alt- und neutestamentlichen Textstellen ausgewiesen werden. Bemerkungen/Ergänzungen zum besseren Verständnis werden nur in Einzelfällen vorgenommen und durch eckige Klammern gekennzeichnet bzw. erscheinen in den Anmerkungen, falls sie ausführlicher ausfallen. Die Seitenzahlen für die jeweiligen Kapitel bei Hinnebusch werden immer per Anmerkung hinter der Kapitelüberschrift nachgewiesen.[17]

Erstes Kapitel

Von der Verführung des Abendlandes und den Sünden der Abendländer[18]

Wie die morgenländische Kirche, die einstmals von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomons zu hören, mannigfaltigen Schicksalen ausgesetzt und durch verschiedenste Bitterkeiten niedergedrückt, ihre Freude in Trauer und Trübsal verwandelte, so blieb auch ihre erstgeborene, besondere Tochter, die Kirche Jerusalems, der Kleidung ihrer Ehre beraubt und von vielen Fleischern zerrissen, fast nackt zurück, „wie die Eiche, wenn die Blätter fallen“[19], so als wäre das Wasser aus ihrer Quelle fast vertrocknet. Nichtsdestotrotz freilich hörte der unersättliche Feind des Menschengeschlechts, die sich ringelnde Schlange nicht auf, in den Landstrichen seiner tödlichen Schlechtigkeit ein verderbliches Gift zu verbreiten, und nachdem das Haupt verwundet war, wollte er die Glieder auf alle Arten verletzen.

Das Haupt und die Mutter des Glaubens ist Jerusalem, so wie Rom das Haupt und die Mutter der Gläubigen ist. So sehr strahlte nun der Schmerz des Hauptes in die Glieder aus, und so sehr zeigte der Herr seinen Zorn und Unwillen durch zahlreiche Strafqualen, dass der gerechte Rächer der Verbrechen, „Gott, der Herr der Rache“[20], nachdem das Heilige Land wegen der Forderungen unserer Sünden in die Hände der Ungläubigen gefallen war, die ganze Welt schlug, indem er ihr viele Qualen auferlegte. Er erlaubte in Spanien den Mauren, in der Provence und der Lombardei den Häretikern, in Griechenland den Schismatikern und überhaupt überall „falschen Brüdern“[21], sich gegen uns zu erheben. Um ein Wort des Propheten zu gebrauchen: So zerbrach der Herr im Takt unsere Zähne, dass, nachdem die Heilige Stadt verlassen worden war, die Ehre der Kirche verringert und ihre Zähne verschoben, das heißt, zerbrochen wurden. Wie viele Kinder auch immer in der Welt geboren wurden, die hatten immer zwei oder drei Zähne weniger als die anderen, die bereits erzeugt worden waren. Nachdem die Zähne zerstört waren, zerbrach der Herr alle unsere Knochen, „verklebt wurde unser Bauch auf der Erde“[22], und unsere Seele haftete am Boden.

Weil die Schlechtigkeit der Menschen auf diese Weise zunahm und zum Bösen geneigt war, wurde sie immer weiter abwärts getragen. Es vertrockneten die Euter, die einstmals Trauben gleich gewesen waren, und die Lehre des Evangeliums erschien gering, während die göttlichen Weisungen fortwährend von den Frevlern niedergetreten wurden. Sie verkehrten Silber zu Asche und mischten den Wein mit Wasser. Alle Ehrerbietung Gottes und der Menschen warfen sie hinter sich, und die Gesichter der Priester erröteten nicht, obwohl sie dem Schädlichen folgten, sich vom Heilbringenden abwandten und sich dem Schlimmsten zuneigten. Der Beste unter ihnen war dem Hagedorn gleich, und der Aufrechte glich der Mauerzinne. Auflösung von Verwandtschaftsbanden und Verfinsterung war in jeder Seele, und die Gesichter aller glichen jener Schwärze. Es fehlte der Glaube, die Barmherzigkeit wurde ausgelöscht und alle Tugend ging zugrunde. Im Sumpf dienten sie mit Ziegel und Stroh dem Pharao. Die Herrschaft des Machthabers und Fürsten der Finsternis erstreckte sich demgegenüber weit und breit.

Die Söhne Zions, die einstmals berühmt waren und ursprünglich in Gold gekleidet, wurden nun für irdene Gefäße gehalten. Ihre Leber war auf die Erde ausgeschüttet, sie irrten blind durch die Straßen und sie waren beschmutzt mit Blut. Auf jämmerliche Weise brachten sie die Ungeheuer ihrer Verbrechen und die Zeichen ihrer Abscheulichkeit hervor, und sie durchschweiften den Erdkreis. Zur Hure ist geworden, die einstmals Stadt der Gläubigen war. „Der Feind streckte seine Hand aus nach allen ihren Schätzen.“[23] „Ihre Fürsten waren in ihrer Mitte wie brüllende Löwen. Ihre Richter waren Wölfe am Abend, am Morgen ließen sie nichts zurück.“[24] „Jedes Haupt war matt und jedes Herz schuldig.“[25] Ihre Fürsten waren Ungläubige, Verbündete von Dieben. „Knabe und Greis lagen draußen auf der Erde.“[26]

Vergangen war die Gerechtigkeit aus den Dingen, die Furcht vor dem Herrn verschwand aus der Öffentlichkeit und Gewalt herrschte durch erzwungene Gleichheit unter den Völkern. Betrug, Hinterlist und Täuschung umgaben weit und breit die Welt. Verschwunden war das Messopfer von Brot und Wein aus dem Haus des Herrn und entvölkert war die Gegend. Es trauerte der Erdboden, weil der Weizen verwüstet war. Der Wein wurde gepanscht, das Öl geriet ins Stocken. Die Bauern waren verwirrt und die Winzer klagten über Weizen und Gerste, denn vergangen war die Erntezeit auf dem Acker. Der Feind hielt Lese im Weinberg des Herrn.

Alle Tugend hatte Platz gemacht und war gleichsam unnütz vergangen. Während die Bosheit Einzug hielt, gab es keinen, der sich entgegenstellte und am Herrn festhielt, oder auch in der Bresche mit ihm stand. Sie hatten eine Wolke entgegengestellt, damit das Gebet nicht durchdringe.

Während die Welt sich jedoch gegen Abend neigte, war die Liebe so sehr erkaltet und wurde Glaube auf der Erde nicht mehr gefunden, dass die zweite Ankunft des Menschensohns nahe und gleichsam schon vor der Tür zu stehen schien. Der Sohn beschimpfte den Vater, die Tochter stand gegen die Mutter auf, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter, und die Feinde des Menschen waren seine Hausgenossen. Das Heilige wurde vom Profanen nicht unterschieden. Was immer sie begehrten, hielten sie für erlaubt. Alles stand durch die Sünde auf dem Kopf. Wie ein ungezügeltes Pferd wurden sie kopfüber fortgetragen, während sie mit sinnloser Unruhe an den Zügeln zogen. Das Band des Wagens war gleichsam die Sünde. Alle ihre Verfolger, die bösen Geister nämlich, trieben sie in die Enge und „sie wurden in die Gefangenschaft geführt vor dem Angesicht des Feindes“[27]. Sie wollten nicht achtgeben und wandten sich ab. Ihre Ohren verstopften sie, so dass sie nicht hörten, und sie machten ihr Herz zu Stein. Gitarre, Leier, Trommel, Flöte und Wein gab es auf ihren Gelagen, das Werk des Herrn aber achteten sie nicht.

Die Aufrichtigkeit der Sitten und die Zierde der Tugenden fanden, Vertriebenen gleich, keinen Platz, wo die herrschenden und weit ausschweifenden Sünden alles besetzten. Das dem Himmel Freundliche und die gottgefälligen Dinge achteten sie, gleich einer verächtlichen Sache, für nichts. Wo sie also fortwährend und ohne Schamesröte Unkeuschheit trieben wie die Sau im Schlamm, hielten sie Gestank für Köstlichkeit. Gleich dem Vieh vermoderten sie im Schweinekot, während sie ein unbeflecktes Ehebett und eine ehrenhafte Heirat gering achteten. Unter Verschwägerten und Nahestehenden waren die Ehebünde nicht sicher, aber die überstürzte Begierde kümmerte sich nicht um die Gefahren des Geschlechts.

Während also Besonnenheit und Mäßigung ins Exil gingen, besetzten Völlerei und Trunkenheit den Platz. „Wie die Dornen sich gegenseitig umgreifen, so auch sie bei ihren Gelagen.“[28] Alle Tische wurden gefüllt mit Unflat und Schmutz, so dass kein Platz mehr darüber hinaus blieb. Hurerei, Wein und Trunkenheit trugen das Herz davon. Aber das nächtliche Würfelspiel, die gierige und zugleich bittere Sorge der Würfel, auch unerwartete Fälle [der Würfel] riefen Zorn, Betrug, Beleidigung und Streit, ebenso verbrecherische Lästerung gegen Gott hervor, und führten ihre Verehrer häufig in die Grube der Verzweiflung.

 Zweites Kapitel

Von den Gierigen und den Wucherern[29]

Obwohl Gott und den Menschen gefällig, waren Edelmut, Freigiebigkeit und Großzügigkeit aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Wurzel allen Übels, nämlich die Pest der Habgier, fast alles besetzte und mit dem Gift der Begierde ansteckte: So sehr, dass, während das scheußliche Verbrechen der Zinsnahme fortwährend und gleichsam erlaubt die gierigen Wucherer in Besitz hielt, die Lehnsleute wegen dieses unersättlichen Blutegels die Güter und weiten Ländereien im Stich ließen. Die Armen wurden beraubt und die Kirchen geplündert, während die Pest des Zinses, die mit jedem Augenblick wuchs und keine Ruhe geben konnte, sie immer weiter durch Wucherer in Schulden drängte. Dieses unreine und verwerfliche Menschengeschlecht war jedoch überall so sehr erstarkt, dass die, die Zinsen und Überschüsse über das rechte Maß hinaus ohne Erbarmen eintrieben, nicht nur die Städte und Weiler, sondern auch die Landgüter erfüllten, während sie sowohl bei Tag als auch bei Nacht, stündlich und in jedem Moment Handel auf ihre eigene Verdammnis hin betrieben, obwohl doch der Herr sagt: „Gebt einander und erhofft euch davon nichts.“[30] Und weiterhin: „Ihr sollt nichts von einem Raubtier Zerrissenes essen.“[31] Die Söhne, die Töchter und alle die, von denen jenes unheilvolle und krankmachende Geld festgehalten wurde, zogen sie mit sich hinüber durch das Feuer, so dass sich erfüllen sollte, was geschrieben steht: „Sie opferten ihre Söhne und ihre Töchter den Dämonen.“[32] Die Pfänder aber, die sie gänzlich durch Glück empfangen hatten, weigerten sich die vermessenen Söhne der Verdammnis entgegen dem Gebot des Herrn zurückzugeben. Er sprach nämlich in Leviticus: „Wenn dein Bruder den Preis für den Rückkauf aufbringen kann, soll man die Früchte von der Zeit an rechnen, in der er verkauft hat, und was übrig bleibt, soll er dem Käufer zurückgeben. So kann er seinen Besitz wieder erwerben.“[33] Er [= Moses] nennt jedoch den ‘Käufer’, der gegen Geld Früchte und keinen Besitz kauft. Andere verkauften ihre Waren zum höchsten Preis, weil sich die Zeit des Loskaufs verzögern könnte, oder sie kauften Waren, die in Zukunft wertlos sein werden, weil sie die Zeit des Loskaufs schon vorhersahen, und verschrieben sich so selbst der Strafe des ewigen Todes und der Verdammnis.

[1] Vgl. Geschichte des Kardinalats im Mittelalter, hrsg. von Jürgen Dendorfer und Ralf Lützelschwab, Stuttgart 2012 (Päpste und Papsttum 39), S. 480.

[2] Vgl. Jacques de Vitry, Histoire Occidentale, trad. par Gaston Duchet-Suchaux, introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 32-37.

[3] Neben seinen Zeitgenossen, dem Zisterzienser Casearius von Heisterbach und dem englischen Theologen Odo von Cheriton, war Jakob von Vitry einer der ersten Autoren, die exempla in ihre Predigten integrierten. Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum / Dialog über die Wunder, 1. Teilbd., eingel. von Horst Schneider, übers. und komm. von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Turnhout 2009, S. 57. Ausführlich zu den exempla Jakobs hat zuletzt  Marygrace Peters, Speculum vitae et fidei. The exempla as an historical source in medieval preaching for understanding its context and audience, with emphasis on Jacques de Vitry’s “Sermones Vulgares”, Diss. Boston 1993 gearbeitet.

[4] Franz J. Felten: Geschichtsschreibung cum ira et studio. Zur Darstellung religiöser Gemeinschaften in Jakob von Vitrys Historia occidentalis, in: Christliches und jüdisches Europa im Mittelalter, hrsg. von Lukas Clemens, Trier 2011, S. 83-120, hier S. 118.

[5] Ebda., S. 117. Weitere Kritik übt Felten etwa an der vagen Chronologie innerhalb des Werkes (S. 88 f.) und zumindest mit Verwunderung und leichtem Befremden konstatiert er die Vernachlässigung der Frauengemeinschaften einiger Orden (S. 108-111).

[6] Ebda., S. 118.

[7] John Frederick Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Kapitel II-V; VII, X, XXX-XXXI. Die Kapiteleinteilung in der Edition von Hinnebusch geht auf eine moderne Strukturierung des Textes zurück, die schon vom Editor (S. 20-24, 62-64) selbst kritisiert wurde, zuletzt auch von Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 87 f.

[8] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7), VI, VIII, IX. Zitat aus Kapitel IX, Z. 9-10.

[9] Ebda., Kapitel XIIII-XXIX, XXXII.

[10] Ebda., Kapitel XXXIIII-XXXVIII.

[11] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7).

[12] Allerdings existiert eine Übersetzung ins Französische: Jacques de Vitry, Histoire Occidentale (wie Anm. 2). Als Beispiel für eine veröffentlichte englische Teilübersetzung ist Jessalynn L. Bird, Texts on hospitals. Translation of Jacques de Vitry, Historia Occidentalis 29, and edition of Jacques de Vitry’s sermons to Hospitallers, in: Religion and Medicine in the Middle Ages, ed. by Peter Biller and Joseph Ziegler, York 2001 (York studies in medieval theology 3), S. 109-134 anzuführen.  Des Weiteren wurden Übersetzungen von Briefen Jakobs: Jacques de Vitry, Lettres de la cinquième croisade, texte latin établi par G. Duchet-Suchaux. Trad. et prés. par R. B. C. Huygens, Turnhout 1998 (Sous la règle de Saint Augustin 5) und der Historia Orientalis: Jacques de Vitry, Histoire orientale, introd., édition critique et traduction par Jean Donnadieu, Turnhout 2008 (Sous la règle de Saint Augustin 12) ins Französische veröffentlicht. Eine Übersetzung der von Jakob verfassten Vita von Maria von Oignies ins Deutsche ist bei Brepols im Druck: Jakob von Vitry, Thomas von Cantimpré, Das Leben der Maria von Oignies, übers. von Iris Geyer, Turnhout [2014] (Corpus Christianorum in Translation 18).

[13] Vgl. etwa Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen des Mittelalters. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, 4. unveränd. Aufl., Darmstadt 1977, S. 171, Alfred John Andrea, Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History, 50 (1981), S. 141-151, hier S. 141 f. und Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 118.

[14] Vgl. Pascale Bourgain, Art. “Jakob von Vitry”, in: Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 295. Grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 13), S. 172 vermutete schon für 1216 eine Begegnung der beiden Männer in Perugia, wo zu dieser Zeit Papst Innocenz III. gestorben war.

[15] Überhaupt fällt die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Historia Occidentalis im Vergleich zur Historia Orientalis und zum Predigtwerk Jakobs auffallend gering aus, konsultiert man den RI-Opac. Als Standardwerk zum Autor und seinem Gesamtwerk ist immer noch Philipp Funk, Jakob von Vitry, Leben und Werke, Leipzig 1909 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3) zu betrachten. Da seit dieser Studie jedoch über ein Jahrhundert vergangen ist, kann mit Spannung die Dissertation von Michael de Nève erwartet werden, der das Thema “Jacobus de Vitriaco. Wirken, Werk und Wirkung zwischen ‘cura animarum’ und ‘Curia Romana’” bearbeitet.

[16] Eine Übersetzung ist freilich immer nur als Übersetzungsangebot zu betrachten, da sie zwangsläufig bereits interpretiert, sobald sie sich aus oft vielfältigen Möglichkeiten für eine Wortbedeutung entscheidet. Nochmals sei der Griff zum lateinischen Text für eine detailliertere Beschäftigung mit der Quelle empfohlen.

[17] Angabe wie folgt: Hist. Occ. [Kapitelnummer], ed. Hinnebusch, S. [Seitenzahl(en)].

[18] Hist. Occ. I, ed. Hinnebusch, S. 73-77.

[19] Jes 1,30.

[20] Ps 93,1 (Ps 94,1).

[21] 2 Kor 11,26.

[22] Ps 43,25 (Ps 44,26).

[23] Klgl 1,10.

[24] Zef 3,3.

[25] Jes 1,5.

[26] Klgl 2,21.

[27] Klgl 1,5.

[28] Nah 1,10.

[29] Hist. Occ. II, ed. Hinnebusch, S. 78 f.

[30] Lk 6,35.

[31] Lev 22,8.

[32] Ps 105,37 (Ps 106,37).

[33] Lev 25,25-27.

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Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2529

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Mit Archilochos wider den Strom

Kurz nach Erscheinen des nächsten Heftes lohnt es, noch einmal die Herbstnummer der Zeitschrift für Ideengeschichte (VI/3) in die Hand zu nehmen, von der hier schon mehrfach die Rede war. Lesenswert sind die Texte zum Heftthema „Kuba 1962″, zumal Tim B. Müllers höchst anregender Vorschlag, den Kalten Krieg rückblickend als ein glückliches Zeitalter zu verstehen, geprägt von Modernisierung, Rationalisierung und einem gemäßigten Etatismus.

Der ‘heiße’ Krieg zuvor bildet den Hintergrund für Granatsplitter, ein eigen-sinniges Buch aus der Feder von Karl Heinz Bohrer, der im September achtzig Jahre alt geworden ist. Es ist die „Phantasie einer Jugend”, die in ein durch die Zeitumstände außeralltägliches Leben geworfen war. Das Grundproblem des autobiographischen Rückblicks über einen so langen Zeitraum – der erinnernde Greis kann nicht mit dem erinnerten Jungen identisch sein, selbst wenn er wollte und obwohl beide denselben Namen tragen – löst Bohrer, indem er die autobiographische Scheingewißheit meidet. Er bietet statt dessen, so der Autor selbst, „eine Erzählung über sich fortsetzende Faszinierungsmöglichkeiten in einer Welt des Ungesagten und Seltsamen – auch des Surrealistischen”.

Die „Unbefangenheit gegenüber dem Thema Krieg”, die „Neugier und Akzeptanz des Lebens als Chaos” prägen auch des Jungen Blick auf die (griechische) Antike – oder wurden sie umgekehrt befördert, weil die Antike ihm auf so besondere Weise nahegebracht wurde? Diese Dialektik zwischen Individuum und Umfeld, Prägung und eigener Perspektive wird sich wohl nie ganz auflösen lassen. Bohrer besuchte die berühmte Internatsschule Birklehof, die nach dem Krieg von Georg Picht geleitet wurde und das unvollendete Platon-Archiv beherbergte -davon wurde hier schon einmal berichtet. Im Sommer 1944, nicht lange nach dem Attentat auf Hitler, wurde dort Aischylos’ Agamemnon aufgeführt. Die Zeitläufte und die Intensität ihres Erlebens lassen das Menschenschlachthaus in Theben ganz gegenwärtig erscheinen: „Die Gleichzeitigkeit von Mykene und der Gemetzel dieses Sommers sind dem Jungen damals schlagartig bewusst geworden. Dieser Mordgeruch, der aufsteigt aus dem Haus der Atriden, vermischte sich mit den Geschichten über die Bestialitäten der Nazi-Zeit, über die ihn sein Vater und ein holländischer Mitschüler kurz zuvor unterrichtet hatten. Die Wirkung der Aufführung war so groß, weil es zu dieser komplexen Verdoppelung kam. (…) Aber Mykene hatte für den Jungen etwas Großartiges. Klytämnestra mit der Axt war was Anderes als die Nazi-Henker.”

Als Lehrer am Birklehof wirkte nach dem Krieg Rudolf Till, der auf engem Fuß mit Himmler gestanden und sich in Italien um eine berühmte Handschrift von Tacitus’ Germania bemüht hatte. Den Griechischlehrer beschreibt Bohrer als einen ironischen Kopf. Vielleicht half er den Jungen dabei, die aus der Zeit gefallenen Absonderlichkeiten im Umfeld der Schule richtig einschätzen zu lernen, so die Mutter Georg Pichts, die in einem „weißen, griechischen Gewand immer zwischen des Hausherrn Schwarzwaldhaus und ihrem eigenen Gehäuse” schwebte, oder Pichts Vater, einen Georgianer. „Allmählich gewannen wir auch ein ironisch pragmatisches Verhältnis dazu. Bei aller Verehrung und Liebe zur Schule erkannte der Junge da auch Hoheitszeichen eines durchgeknallten Idealismus, einer prätentiösen Form von Geistigkeit.” Angesagt waren Existenzialismus und Jazz, nicht „ein bestimmter frömmelnder und idealistischer Tonfall der Birklehof-Pädagogik – das war für ihn und einen Kreis von Freunden nicht mehr akzeptabel.”

Archilochos hat wohl auch geholfen. An ihm und den anderen frühen griechischen Lyrikern demonstrierte der Griechischlehrer, wie modern und nüchtern die Archaik der Hellenen in Wirklichkeit war – freilich nicht im Sinne der ästhetisierenden metallischen Härte, die sie bei Benn und Berve gewonnen hatte, sondern wegen einer „provokativen Nicht-Achtung von zeitgenössischen Moralen” durch den ruhelosen Dichter. Staat zu machen war wohl das allerletzte, wozu die Jungen und die klugen Älteren die alten Griechen befragt hätten. „Die Lektüre des Archilochos war zweifellos auch ein Propädeutikum zu meiner spätren Distanzierung gegenüber Pädagogisierungen der Kunst.” Was würde Bohrer wohl zur umgekehrten Pädagogisierung sagen, wie sie Heinrich Böll in seiner frühen Erzählung Wanderer, kommst du nach Spa… betrieben hat? Vielleicht ist die mitgeteilte Erinnerung eine ungesagt zum Vergleichen einladende Abgrenzung gegen Bölls Holzhammer-Symbolik. Bohrer: „Archilochos war ein Ausdrucksphänomen. Genauso hat ihn erregt, wie der Lehrer zum ersten Mal an die Tafel schrieb «O xein angéllein Lakedaimoniois…». Auf Deutsch klingt das ungeheuer banal – «Oh, Fremder kommst Du nach Sparta, Mel­de…» -, wie ein klassizistisches Goldschnitt-Verslein aus dem 19. Jahrhundert. Aber auf Griechisch, mit knirschender Kreide an die Tafel geschrieben, hat ihn das zutiefst erregt.”

Fasziniert hat mich die Einrede gegen die verbreitete Ansicht, der antikebezogene Humanismus der 1950er bis frühen 1960er-Jahre sei restaurativ und leblos gewesen. Sicher, das gab es auch, vielleicht so vorherrschend. Aber Bohrer hat heute keinen Grund, im Rückblick einem abgelebten Bemühen Kränze zu flechten. Umso aufmerksamer sollte seine differenzierte Einschätzung gelesen werden: „Der Pichtsche Birklehof hatte etwas Wirklich-Philosophisches, aber gleichzeitig ungeheuer Materialistisches: eine Denkform er­obern, nicht irgendein Abbild nachbeten. Das war nicht nur ein ehrfurchtvolles Traditionsbewusstsein. Picht wollte junge Leute erziehen, die im praktischen politischen Leben Deutschlands eine Rolle spielten. Ich würde heute in Picht nicht so sehr den Fortset­zer des Althumanismus sehen. Und er hat Platon nicht bloß als Ethiker gelesen. Es war die Dialektik Platons, die sokratische Me­thode, es war der Purismus des Arguments. Nein, für Abendlän­derei waren wir 18-Jährige zu «intellektuell». Das war unser neuer Gestus in der Clique, etwas unreif natürlich. (…) Daneben gab es sicher auch eine Vorstellung von der Priorität der griechischen Kultur für jede intel­lektuelle Erziehung. Aber die wurde modernisiert und intellektualisiert.” Nicht ein äußerer Rahmen also sollte wieder zusammengeleimt werden, es ging um das innere Feuer – das seinerseits erst neue Amalgamierungen aus Antike und Moderne ermöglichte.

Der Zufall will es, daß ich dieser Tage antiquarisch zwei Bände „Frühgriechische Lyriker” in die Hand bekomme, „deutsch von Zoltan Franyó und Peter Gan, griechischer Text bearbeitet von Bruno Snell, Erläuterungen besorgt von Herwig Maehler”. Eine komplizierte Entstehungsgeschichte, die bis in der Vorabend wiederum des Zweiten Weltkriegs zurückreicht. Im Sommer 1939 sandte Zoltan Franyó (geb. 1887) einige Übersetzungsproben aus Temesvár (Rumänien) an Bruno Snell. Der Hamburger Philologe hatte sich als Kenner der frühen griechischen Literatur bereits einen Namen gemacht, und es begann ein höchst fruchtbarer Austausch zwischen beiden. Snell besorgte die griechischen Texte und arbeitete sich kritisch an den Übersetzungen ab, hierin unterstützt von Peter Gan (Pseudonym für Dr. Richard Moering). Erst 1971 konnte der erste, schmale Band erscheinen, in der vorzüglichen Reihe „Schriften und Quellen der Alten Welt”, herausgegeben vom „Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR”. Drei weitere Teile folgten. Peter Gan starb 1974, Zoltan Franyó vier Jahre später. Die in rotem Leinen leuchtenden Bände waren im Westen schwer zu bekommen, Bibliothekexemplare nicht selten durch Diebstahl abgängig und durch schlechte Photokopien ersetzt.

Und in der Tat, die Wiederlektüre zeigt: Die Archilochosbrocken haben nichts mit hehrer Goldrähmchenpoesie zu tun. Ein Stück parodiert eingangs Odysseus’ Schiffbruch an der Küste der Phaiaken – doch was dem Geschmähten dann geschehen soll, ist fern vom schönen Asyl am warmen Herd des Königs und seiner schönen Tochter:

                        „….. vom Wogenschlag

            Hin an die Küste gespült;

Zu Salmydessos sollen ihn, den nackten Mann,

            Thraker mit struppigem Schöpf

Aufs freundlichste empfangen; viele soll er dort

            Qualen erdulden, das Brot

Der Sklaven fressen, und er soll mir frosterstarrt,

            Salzüberkrustet von Tang

Und zähneklappernd, auf der Schnauze wie ein Hund

            Liegen, zu Tode erschöpft,

Am Fuß des steilen Klippenrandes, gischtgepeitscht.

            Wahrlich, das sähe ich gern.

Der mich verriet, den Eid mit Füßen trat, er war

            Einst mein Gefährte und Freund!” (fr. 79)

 

Und weder mit Mythos noch mit Logos, den zwei bekannten Achsen griechischen Deutungs- und Handlungswissens, hat zu tun, was Archilochos aus der Überwältigung durch eine zuvor nie gesehene Sonnenfinsternis macht (fr. 74):

„Nunmehr ist kein Ding unmöglich, und auf nichts mehr ist Verlaß.

Nichts erstaunt uns, seit der hohe Herr des Himmels, Vater Zeus,

Nacht aus hellem Mittag machte und der Sonne Strahlenkranz

So versteckte, daß die feuchte Angst die Menschen überkam.

Drum ist künftig alles möglich, und auf alles sei gefaßt

Jedermann. Ihr braucht euch fürder nicht zu wundern, wenn ihr seht,

Wie das Bergwild mit Delphinen tauscht den Weideplatz im Meer,

Weil ihm wohler ist im Tosen der vom Sturm gepeitschten See

Als am Lande, wo Delphine froh sich tummeln im Gebirg.”

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/18/mit-archilochos-wider-den-strom-406/

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In die Bibliothek: Plutarchs Moralia in alt-neuer Gestalt

Nach zuletzt viel Politik hier wieder eher Schöngeistiges. Der in Wiesbaden ansässige marixverlag hat sich vor einiger Zeit darangemacht, ältere Übersetzungen umfangreicher antiker Werke zu fairen Preisen neu herauszubringen; er steht damit in der Nachfolge nicht mehr existierender Häuser wie Phaidon, Fourier oder Magnus. Erschienen sind zuletzt Gesamtausgaben, die aktuell entweder gar nicht oder nur (in anderer, neuerer Gestalt) wesentlich teurer zu haben sind, zuvörderst Livius, die Geographika Strabons und die Enzyklopädie des Älteren Plinius sowie Cassius Dios Römische Geschichte.

Aktuell erschienen sind zwei Bände mit Plutarchs Moralia, einer Sammlung sehr verschiedener Schriften zur Moralphilosophie, Lebensführung, Religion, Geschichte und vielen anderen Gegenständen. Da gibt es Tischreden, ein Gespräch über die Liebe, einen Traktat über das Fleischessen, eine lokalpatriotische Polemik des aus Boiotien stammenden Autors gegen Herodot („Pindar, Epaminondas und Plutarch, drei Männer, die der Kartoffeln-Luft von Böotien, in der sie geboren waren, Ehre machen”, so Lichtenberg). Oder die Abhandlung, „ob ein Greis noch Staatsgeschäfte treiben soll”.

„Verschieden wie die Form”, so bilanziert Rudolf Hirzel in seinem vor genau einhundert Jahren erschienen, immer noch sehr lesenswerten Plutarch-Buch, „ist der Inhalt der Schriften, ja er ist der denkbar mannigfaltigste. Er (…) übertrifft durch diese Buntheit weit die Schriften von Plutarchs älterem Zeitgenossen Seneca. Überall wird den Problemen nachgespürt, die sich in Wissenschaft und Leben darbieten, nicht bloß alten Problemen, sondern auch neuen, die der Augenblick, auch wohl nur der gesellige Scherz erfindet. In alle Winkel der Theorie und der Praxis wird hineingeleuchtet und trotzdem keine systematische Vollständigkeit bezweckt, vielmehr ist der Inhalt so, wie er den mannigfachen persönlichen Beziehungen Plutarchs entspricht und wie ihn die größte der Musen, die Gelegenheit, denen gewährt, die ihren Wink verstehen. Allerlei Anlässe, oft nur einzelne Vorfälle des Lebens, ergreift Plutarch, um als Berater und Lehrer seiner Familie und seiner Freunde sich hören zu lassen, sei es in eigner Person oder durch den Mund anderer, ermahnend oder erzählend, bisweilen, doch viel seltener, und – so scheint es – in einem gewissen Jugendübermut, auch nur um seinen Witz – wie er so ergötzlich sich bekundet im philosophierenden Schwein, das den klugen Odysseus belehrt – oder seine rhetorische Schulung in der Durchführung mehr oder minder paradoxer Behauptungen zu zeigen.”

Nun wäre es viel zu aufwendig und langwierig, den gesamten Textbestand der Moralia neu übersetzen zu lassen, und neuere vorliegende Übertragungen bieten immer nur einige Schriften. Der Verlag ist daher pragmatisch verfahren: Neu gedruckt wurde die zwischen 1828 und 1861 in 26 Lieferungen als Teil der von Osiander und Schwab veranstalteten Reihe Griechische und römsiche Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen vorgelegte Version der Moralischen Werke aus der Feder von vier Gelehrten. Durch die Bemühungen der Herausgeber, v.a. von Christian Weise, ist ein etwas zwitterhaftes Wesen entstanden, wurden doch die erklärenden Fußnoten des Originals um zahlreiche neue Anmerkungen und Literaturhinweise ergänzt, so daß „die Beigaben an den Stand der modernen Plutarch-Philologie heranreichen, der Text dagegen unverändert eine Übersetzung des vorletzten Jahrhunderts wiedergibt” (S. 9). Geboten wird also ein „Lesetext”, der es erlaubt, die Fülle und den Reiz dieser Schriften wiederzuentdecken. „Wer darüber hinaus eine wissenschaftlich zitierfähige Übersetzung benötigt, wird die einschlägigen kritischen Ausgaben konsultieren.” Nun sind eine Übersetzung und eine kritische Ausgabe zwei sehr verschiedene Paar Schuhe, und man kann sich fragen, an wen sich die Mühen, den Anmerkungsapparat mit zahlreichen Verweisen auf andere Quellen und Anspielungen Plutarchs zu vervollständigen und zu aktualisieren, eigentlich richten, wenn der fachlich orientierte Leser auf andere Ausgaben verwiesen wird und der interessierte Laie hier nur einen Lesetext finden soll. Vielleicht wäre es besser gewesen, keine Ergänzungen vorzunehmen, sondern den Zeitaufwand in eine behutsame Modernisierung der Übersetzung – und sei es nur in der Orthographie – zu investieren.

Machen wir die Probe. Die erste Schrift nach dem Editorischen Vorwort handelt von der Kindererziehung. Weil davon hier schon zweimal die Rede war: Von der Prügelstrafe hält auch der kultivierte Plutarch nichts; die Kinder sollten „stets durch Ermahnungen und Vorstellungen, keineswegs aber durch Schläge und Mißhandelungen” zu rühmlichen Bestrebungen angehalten werden; rüde Erziehungsmethoden seien allenfalls für Sklaven angemessen; generell machen solche Mittel „stumpf und schrecken von jeder Anstrengung ab” (8f). Das hohe Lied auf Bildung als einzig beständiges Gut in allen Wechselfällen des Lebens liest sich hier so (5c-d):

„Ich betone), daß tüchtige Erziehung und ein ordnungsgemäßiger Unterricht hier die Hauptsache, Anfang, Mitte und Ende ist; daß Dieß besonders förderlich und wirksam zur Tugend wie zur Glückseligkeit ist. Die übrigen Güter sind irdisch und gering, sie können nicht ein würdiger Gegenstand unserer Bestrebungen werden. Edle Geburt ist allerdings etwas Auszeichnendes; aber es ist ein Gut der Vorfahren. Reichthum ist schätzenswerth; aber er ist eine Gabe des Glücks, das ihn bekanntlich oft Denen entzieht, die ihn besitzen und Andern wider Erwarten zuführt; auch ist großer Reichthum das Ziel Aller, die auf Beutelschneiderei ausgehen, aller boshaften Sclaven und Verläumder, überdem, was das Aergste, es besitzen ihn auch die Verworfensten. Ruhm ist fürwahr etwas Hohes, aber er ist unsicher; Schönheit ist ein theures Gut, aber sie währt nur kurze Zeit. Gesundheit ist etwas Köstliches; aber sie ist leicht veränderlich. Stärke ist wohl etwas Wünschenswerthes, aber sie kann durch Krankheit und Alter leicht entrissen werden; wie denn überhaupt Derjenige, der auf seine Körperstärke sich viel einbildet, überzeugt seyn darf, daß er gewaltig irrt. Denn was ist des Menschen Kraft im Vergleich mit der Kraft anderer Geschöpfe, z. B. eines Elephanten, eines Stiers oder eines Löwen. Unter Allem, was wir besitzen, ist Geistesbildung allein ein unsterbliches, göttliches Gut.”

Auf Dauer ist das etwas anstrengend. Aber man kann die Lektüre ja kürzer oder ausgedehnter halten. Und unter viel Skurrilem leuchten die zeitlosen Sätze umso heller. Oder mit Goethe:         „Hab immer den Plutarch gelesen. / »Was hast du denn dabei gelernt?« / Sind eben alles Menschen gewesen.”

 

Plutarch, Moralia. Herausgegeben von Christian Weise und Manuel Vogel.2 Bde., ca. 1920 S., geb., € 39,95

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/10/in-die-bibliothek-plutarchs-moralia-in-alt-neuer-gestalt-404/

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mediaevum.net: Liste der Universität Bamberg zu übersetzten Quellen (mit RVK-Signaturen)

http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ggeo_lehrstuehle/mittelalterliche_geschichte/Dateien/Quellen_Bamberg/Liste.htm Diese Liste der Universität Bamberg enthält Hinweise auf Übersetzungen der angegebenen Quellen. Die angegebenen Bibliothekssignaturen sind teilweise auch für andere Bibliotheken verwendbar, sofern diese auch der Regensburger Verbundklassifikation folgen (Bestände der Geschichtswissenschaften beginnen mit vorangestelltem N). Dann sind die Signaturen identisch. Erschlossen via GeschichtsLinx | Quellen | Mittelalterliche Geschichte und Geschichtliche Hilfswissenschaften | Hilfsmittel [...]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2011/09/1901/

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