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#refhum|Online-Presseschau “Völkerwanderung”
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Blogparade #refhum. Nach den neuerlichen terroristischen Anschlägen in Paris ist zu befürchten, dass sich die Rhetorik in der Flüchtlingsdebatte weiter zuspitzen wird. Bereits auf einer der letzten AfD-Demos warnte der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland vor einer Völkerwanderung … Weiterlesen →
11. Gabriel und die Theorie- resistenz der Wirklichkeit
Schon seit Wochen begeistert sich das Feuilleton für die Frage, warum es die Welt nicht gibt. Autor des gleichnamigen Buchs ist Markus Gabriel, bei dessen Vorstellung immer wieder drauf hingewiesen wird, wie jung, polyglott und international renommiert er ist. Und jetzt auch noch ein Buch, bei dem sich alle freuen, dass es keine Richard-David-Precht-Philosophiepampe ist, sondern ernsthaftes Nachdenken, das trotzdem nachvollziehbar bleibt und es sogar in die Spiegel-Bestseller-Liste schafft.
Wie sieht es da aus, wenn ein bereits mittelalter, nicht ganz so vielsprachiger und weniger ins Ausland eingeladener Mensch, der es wohl nie auf irgendeine Bestseller-Liste schaffen wird, an diesem Buch rumzumäkeln versucht? Nicht gut. Da kann man nur verlieren. Aber wie mir einer meiner Sportlehrer durchaus mal hätte sagen dürfen (es aber bedauerlicherweise niemals getan hat): Besser verlieren als gar nicht mitspielen. (Stattdessen gab es faschistoide Sportlehrersprüche wie: „Was nicht tötet, härtet ab.“ Nun ja …).
Ich baue einfach darauf, dass dieser Beitrag zum Ausklang der Sommerferien erscheint, wenn noch alles am Strand liegt und niemand Blogs liest. Nichts weiter als ein kurzes Knacken im Netzrauschen.
Der Zusammenhang aller Zusammenhänge
Da das hier keine Rezension wird, muss ich Gottseidank auch keinen systematischen Gang durch die Argumentation des Buchs unternehmen. Da gibt es viel Kluges und Erfreuliches, nicht zuletzt die Tatsache, dass es offensichtlich für eine gehörige Portion Menschen einen Anlass darstellt, sich mal wieder (oder überhaupt erstmals) auf erkenntnistheoretische Fragen einzulassen. Aber es gibt auch Ärgerliches, und das betrifft nicht zuletzt die grundlegenden Thesen dieses Buchs.
Ich lasse an dieser Stelle einmal den Umstand beiseite, dass Postmoderne und Konstruktivismus von Gabriel als ziemlich inhaltsleere Pappkameraden aufgebaut werden („Alles Illusion!“ – so soll der Konstruktivismus angeblich behaupten), um sie mit einem lässigen Fingerschnipsen von der Bühne zu befördern; oder dass es in der Argumentation auch einige interne Widersprüche gibt; oder dass es elend schlecht ist, den großen Richard Rorty als „elend schlechten Philosophen“ zu bezeichnen. Nein, gehen wir gleich aufs große Ganze, weil sich hier unter Umständen ja auch erweisen kann, welche Bedeutung diese Überlegungen für die Geschichte haben kann – und umgekehrt.
Die zentrale These steckt bereits im Titel: Die Welt als das alles Umfassende, als den Zusammenhang aller Zusammenhänge gibt es nicht. Was es stattdessen gibt, ist eine Vielzahl kleiner Welten, die nebeneinander existieren, sind so genannte „Sinnfelder“, in denen uns diese Welten erscheinen und mit denen wir umgehen. Insgesamt hört dieser Ansatz auf den Namen „Neuer Realismus“. Genau genommen wartet dieser „Neue Realismus“ weniger mit einer These, sondern vor allem mit einer Behauptung auf – dass es „die Welt“ nämlich nicht gibt (alles andere aber schon). Warum es „die Welt“ nicht geben soll, wird weder begründet noch argumentativ hergeleitet, sondern schlicht konstatiert. Punkt. Nur: Wenn es die Welt nicht gibt, wie kann Gabriel dann darüber reden, dass es sie nicht gibt?
Unverständliches Weltverbot
Bereits hier – und wir sind eigentlich erst am Anfang des Buchs – wird es meines Erachtens seltsam. Erstens verstehe ich nicht, warum es die Welt nicht geben darf. Es mag ja durchaus sein, dass ein solcher Zugang hilfreich sein könnte, aber dann hätte ich dafür bitte auch eine anständige Begründung. Sich den allumfassenden Zusammenhang aller Zusammenhänge vorzustellen, erfordert fraglos einiges Abstraktionsvermögen – das gilt aber ebenso für die von Gabriel angeführten Sinnfelder, sagen wir einmal: Wirtschaft oder Gesellschaft oder Politik. Die sind zwar nicht „die Welt“, sind deswegen aber keineswegs besser zu handhaben. Zweitens ist es seltsam, warum es in Gabriels Argumentationszusammenhang etwas nicht geben soll, wovon er selbst so viel Worte macht. Er redet die ganze Zeit von der Welt, die es nicht gibt – wie aber soll das möglich sein, wenn es sie nicht gibt? Alles soll es geben, selbst Einhörner auf der Rückseite des Mondes, nur die arme Welt darf es nicht mehr geben. Was aber, wenn das der Welt ziemlich egal wäre? Er bemüht sich so intensiv darum, etwas zu zertrümmern, worüber wir uns offensichtlich verständigen können (ansonsten könnten wir nicht darüber reden), dass man sich irgendwann zwangsläufig fragen muss, wozu der ganze Aufwand eigentlich gut sein soll. Da kommt eine schnittige Behauptung daher, die zunächst vielleicht viel Staub aufwirbeln mag, die schlussendlich aber wenig mehr als warme Luft ist – und mehr braucht man ja auch nicht zum Staubaufwirbeln.
Zeitmangel, Menschmangel
Auffallender Weise fehlen dieser Welt, die es nicht geben darf, zwei Dinge, die ich für nicht ganz unwichtig halte: Menschen und Zeit. Denn, wie Gabriel auch selbst öfter unterstreicht, die Tatsachen der Welt sind gegeben, sind Tatsachen an sich (S. 59), da muss man nicht groß rumdiskutieren, ansonsten wären wir ja auch schon in der Nähe des Konstruktivismus, den er zu scheuen scheint wie der Teufel das Weihwasser. Auch ist die Welt (von der Gabriel selbst immer wieder spricht, obwohl es sie nicht geben darf, z.B. S. 62) in verschiedene Bereiche eingeteilt, in Gegenstandsbereiche oder Sinnfelder. Aber offensichtlich scheint niemand diese Kategorisierung vorgenommen zu haben, sie ist schlicht gegeben – auch wenn man sich damit in gefährliche Nähe eines biblischen Schöpfungsaktes begibt. Nur wird dadurch die Welt, die es nicht geben darf (und von der man dann auch gar nicht mehr weiß, wie man sie bezeichnen soll), seltsam steril. Da ist niemand, der irgendetwas tut, und da ist auch gar nichts, was sich verändern könnte. Das merkt man an den wenigen historischen Ausflügen, die Gabriel unternimmt. So behauptet er beispielsweise, dass es sich bei frühneuzeitlichen Hexendiskursen um „Geschwätz“ handele, weil es keine „Gegenstandsbereiche“, sondern nur „Redebereiche“ seien. Dementsprechend enthielten historische Texte über Hexen auch kein Wissen, weil es Hexen ja nicht gebe (S. 53). In der Logik einer Welt, die auf radikale Eindeutigkeit aus ist, mag das funktionieren. Man frage aber einmal die Menschen, die als Hexen verbrannt worden sind, von Hexen verzaubert wurden oder Hexen verurteilt haben, ob sie ebenso davon überzeugt waren, dass es sich nur um „Geschwätz“ handelte.
Gabriel steht, wie an vielen Stellen deutlich wird, in der Tradition der analytischen Philosophie, und vertritt in deren Gefolge offensichtlich die Vorstellung, dass es eine (und zwar nur eine) mögliche Weltdeutung geben müsse, die man mit den entsprechenden (wissenschaftlichen) Methoden ausfindig machen kann. Das bedeutet aber, dass in dieser Welt nicht nur keine Menschen mit all ihren Eigensinnigkeiten vorkommen, sondern dass diese Welt auch keine Geschichte haben darf (oder dass diese Geschichte zumindest bald an ein Ende kommen muss), um den Veränderungen der Weltdeutung (oh, Entschuldigung, schon wieder von „Welt“ gesprochen) eine Ende zu setzen. Hier scheint eine seltsame Verkehrung vonstatten zu gehen: Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, um Wirklichkeit besser verstehen zu können, sondern die Wirklichkeit hat sich gefälligst nach den Vorgaben der Wissenschaft zu richten.
Theorieunfähigkeit
Ich habe demgegenüber den schweren Verdacht, dass die Welt (oder die Wirklichkeit oder die Realität oder wie man dieses Ding auch immer bezeichnen will, selbst wenn man es nicht mehr bezeichnen darf) nicht theoriefähig ist. Zumindest nicht mit unseren bescheidenen Mitteln. Die Welt (jawohl, genau die) ist zu komplex, um in ein paar abstrakte Sätze gepackt zu werden, die sich auf einer übersichtlichen Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckel klemmen lassen. Gut, dieses Argument ließe sich leicht gegen mich selbst wenden, weil es nur belegt, dass meine eigenen bescheidenen Kompetenzen einfach nicht ausreichen, um eine solche Theorie zu erkennen, geschweige denn selbst zu formulieren (was ich sofort eingestehe).
Aber ich hätte noch zwei kleine empirische Befunde, die nach meinem Dafürhalten die Theorieresistenz der Wirklichkeit unterstreichen können. Erstens ist es bisher noch keinem theoretischen Entwurf gelungen, eine hinreichend zufriedenstellende Fassung der Welt zu präsentieren, denn ansonsten müssten wir ja nicht immer wieder neue Anläufe dazu nehmen. Und dass diese Letztbeschreibung noch nicht gelungen ist, ist auch gut so, denn ansonsten wären Herr Gabriel und ich und eine Unmenge anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitslos. Stattdessen lässt man uns weiter fahnden nach der Welt, die es gibt oder auch nicht.
Die einzige Art, die ich mir vorstellen kann, um Welt und Wirklichkeit in einem immer unzureichenden Sinn fassbar zu machen, ist die erzählende. Ein Grund, warum ich mit meiner Berufswahl als Historiker immer noch ganz zufrieden bin.
[Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013]
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10. Philipp II. und die Welt als Tisch
Im Windschatten allgemeiner Aufmerksamkeit
Jeden Tag benutzen wir sie: Tische in unterschiedlichsten Formen, als Esstisch, als Schreibtisch, als Konferenztisch, als Kaffeetisch, als Nachttisch, als Wickeltisch, als Stammtisch und manchmal sogar als Katzentisch. Und das ist eine recht unvollständige Auflistung. Es bedarf nicht vieler Argumente, um die menschliche Abhängigkeit vom Tisch sowohl im Allgemeinen wie im Besonderen zu belegen. Wir verbringen jeden Tag so viele Stunden an diesem unscheinbaren Möbel, dass es zu Lasten unserer Gesundheit geht und sich ganze Dienstleistungszweige ausgebildet haben, die sich den Auswirkungen einer „vertischten“ Gesellschaft widmen.
Bei allen gesundheitlichen Spätfolgen, die das Leben am Tisch mit sich bringt, gilt es hinreichend zu würdigen, dass der Tisch für die Gattung Mensch eine ungemein nützliche Erfindung ist. Sein spezifischer Knochenbau mit diversen Scharniergelenken (Knie, Hüfte, Ellenbogen) prädestiniert den Menschen zu einer sitzenden Haltung. Und da der Mensch nun einmal dazu tendiert, die Welt so einzurichten, wie es seinen physischen Voraussetzungen entspricht, zieht er in dieser sitzenden Position gleich noch einen Tisch heran, um dort sein Essen abzustellen, Papier zu stapeln oder die Ellenbogen aufzustützen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Erfindung des Tisches kaum weniger bedeutsam ist als die Erfindung des Feuers oder des Rades.
Dass der Tisch aber üblicherweise nicht in eine Reihe mit diesen grundlegenden Erfindungen der Kulturgeschichte gestellt wird, könnte ein Beleg für die klugen Schachzüge (Schach – ein Tischspiel!) dieses Möbels sein, seine weltfundierenden Funktionen geschickt zu verbergen, um im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit umso effektiver zu agieren. Denn in seiner vermeintlichen Schlichtheit und stillen Zurückhaltung versteht es der Tisch, den Umstand zu verdecken, dass er weit mehr ist als ein Gebrauchsgegenstand. Im Tisch steckt nichts weniger als ein umfassendes Ordnungsmodell, ein Entwurf unserer Welt. Der Tisch repräsentiert nicht einfach nur eine bestimmte Sicht auf unsere Welt, sondern er macht uns diese Welt überhaupt erst verfügbar. Und man könnte sogar die etwas irritierende Frage stellen, ob wir uns wirklich des Tisches bedienen, um die Welt zu bewältigen, oder ob es nicht vielmehr der Tisch ist, der uns seine Version der Welt vorführt, sie uns geradezu „auftischt“.
Ein entmythisierter Atlas
Unter unseren Händen, Tellern, Papierstapeln und Computerbildschirmen ächzt also nicht einfach nur ein bewährtes Stück Materialität, das unserer Zivilisation schon viele Dienste erwiesen hat. Vielmehr stützen wir uns auf eine der zentralen Möglichkeiten, wie wir uns der Welt überhaupt noch versichern können. Der Tisch ist unser entmythisierter Atlas, der für zwar nicht mehr das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern, aber all unsere Weltentwürfe auf seiner Platte trägt.
Wie aber konnte das geschehen? Wie kam die Welt auf den Tisch und wie wurde der Tisch zur Welt? Es hängt wohl nicht zuletzt mit dem wachsenden Radius menschlicher Aktivität zusammen. Der Expansionsdrang des Menschen, der auf mehr Macht, mehr Geld, mehr Wissen und überhaupt mehr von allem abzielt, neigt dazu, den unmittelbar zugänglichen Ausschnitt der Welt als nicht mehr ausreichend anzusehen. Dem Willen nach Mehr wird der eigene Vorgarten irgendwann zu eng. Dieses Mehr an Welt wird jedoch mit einem paradoxen Effekt erkauft – nämlich einem gleichzeitigen Weniger an Welt. Je weiter wir ausgreifen, um mehr von dieser Welt zu wissen, mehr von ihr zu besitzen und mehr von ihr zu beherrschen, desto weniger können wir diese Welt in unmittelbarer Weise erfahren. Wir müssen uns technischer Hilfsmittel bedienen, um mit ihr überhaupt noch umgehen zu können – und an genau dieser Stelle kommt der Tisch ins Spiel.
Man sollte sich davor hüten, hier eine historisch konsequente und von Anfang an zielgerichtete Geschichte zu erzählen, die unweigerlich auf mehr Tisch und weniger Welt hinausläuft. Aber man kann einige Stationen in der globalen Tischgeschichte herauspicken, anhand derer sich der Erfolg dieses Möbels nachvollziehen lässt. Auffallender Weise wurde der Tisch immer dann zum Inbegriff von Welt, wenn der Mensch sich von eben dieser Welt abwandte. In der Politik übernahm er seine tragende Rolle beispielsweise in dem Moment, als Herrscher keine Schlachten mehr schlugen, sondern nur noch von anderen schlagen ließen, um stattdessen Figürchen oder Fähnchen auf einem mit einer Karte bedeckten Tisch hin- und herzuschieben; oder als diese Herrschenden sich nicht mehr in die Welt hinein bewegen wollten, ihren Herrschaftsbereich nicht mehr selbst bereisten, wie es die mittelalterlichen Fürsten und Könige noch getan hatten, sondern sich in ihre allmählich gemütlicher werdenden Schlösser zurückzogen, um anschließend nur noch mittels Akten zu regieren, die man – ja, genau – auf den Tisch legen konnte: „My desk is my castle“.[1]
Schreibtischtäter
Unabhängig davon, ob es sich um die Welt der Politik oder der Wirtschaft oder eines anderen Lebensbereichs handelt, es sind immer Tische, auf denen sämtliche Informationen zusammenlaufen. Hier befindet sich der Nabel der (jeweils eigenen) Welt, hier kommt alles an und von hier geht alles weg. Auch unsere Bilderwelt ist angefüllt von Tischen als Inbegriffen der Macht. Es sind Konferenzräume oder Büros, in deren Mitte ganz selbstverständlich immer ein Tisch steht. Und will man Regierende bei der Tätigkeit des Regierens zeigen, dann lässt man sie an diesen Tischen sitzen. Die Fernsehnachrichtenbilder der Zusammenkünfte von Regierungsmannschaften sprechen eine deutliche Sprache, denn es ist der Kabinettstisch, von dem aus die Geschicke des Landes, wenn nicht der ganzen Welt entschieden werden. Je bedeutsamer der Tisch (und die Tischbenutzer), desto weitreichender die Auswirkungen, die von ihm ausgehen.[2]
Vor diesem Hintergrund macht der Ausdruck des „Schreibtischtäters“ auch überhaupt erst Sinn. Denn als Figur wie als Begriff bringt er genau dieses Tisch-Paradox zum Ausdruck, wonach der Tisch ein Mehr an Welt gewährleistet, indem er immer weniger Welt unmittelbar an den Tischbenutzer heranlässt. Man kann am Tisch Entscheidungen und Handlungen von ungeheurer Tragweite treffen, riesige Mengen Geldes bewegen, über das Leben von Millionen entscheiden, Länder zu ungeheurer Macht oder zum vernichtenden Untergang führen – ohne sich auch nur einmal von diesem Möbel entfernt zu haben. Aber man sollte nicht vorschnell davon ausgehen, dass der Schreibtisch diese Funktion erst im Zeitalter moderner Bürokratie und Telekommunikation erlangt hat.
Es gibt berühmte Beispiele von Herrschern, die ihren Tisch zum Zentrum der Welt machten und die Welt auf ihren Tisch konzentrierten. Einer der bekanntesten ist Philipp II. von Spanien (1527-1598), der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich über ein Imperium herrschte, das sich auch für den reiselustigsten Regierenden in dieser Zeit nicht mehr unmittelbar erfahren ließ; und was den direkten Kontakt mit der Welt anging, war Philipp II. ohnehin nicht der Engagierteste. Lieber schloss er sich in seinem als Kloster angelegten Herrschaftssitz Escorial ein und erwartete, dass die Welt zu ihm kam, auf seinen Schreibtisch. Das gesamte koloniale Riesenreich Spaniens, von Amerika über die Besitzungen in Italien bis nach Asien, wurde vor allem über das Studium von Akten kontrolliert. Nicht nur das, auch in seinem unmittelbaren Lebensbereich am Hof korrespondierte Philipp am liebsten über Notizen und Zettel, die er an seinem Schreibtisch verfasste. Das Leben als Schreibtischmonarch kam seinem Charakter entgegen, denn er galt als verschlossen und kontaktscheu, eigentlich unnahbar. Die Existenz am Schreibtisch erlaubte ihm, immer mehr von der Welt auszuschließen, um gleichzeitig immer mehr mit diesem Möbel zu verschmelzen. Er verzichtete ab 1559 nicht nur auf Reisen außerhalb Spaniens, sondern verließ auch sein Zimmer im Escorial in späteren Jahren nur noch für den Gottesdienst. Man mag es daher kaum als Zufall ansehen, dass ihn auch die typischen Gebrechen eines Schreibtischmenschen ereilten: Er soll der erste Monarch gewesen sein, der eine Brille benutzte, und gegen Ende seines Lebens war er an den Rollstuhl gefesselt, verbrachte seine Zeit also in einer Körperhaltung, die – so zynisch das auch klingen mag – wie angegossen zum Schreibtisch passt.[3]
Der Tisch ist eine Scheibe
Seit Philipp II. ist die neuzeitliche Geschichte gepflastert mit Menschen (nicht selten männlichen Geschlechts), die die Macht des Schreibtischs zu nutzen wussten. In der allgemeinen Diskussion hat sich dabei die Auffassung etabliert, es gäbe eine fundamentale Trennung zwischen dem Schreibtischleben und dem wahren Leben „dort draußen“, in der harten, kalten Realität. Aber diese Vorstellung ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn Welt und Tisch auf diese Weise in Opposition zueinander zu setzen, führt in die falsche Richtung. Vielmehr muss man festhalten, dass der Tisch eine Fortsetzung der Welt mit anderen Mitteln ist: Die Welt wird „tischbar“.
Und dass sich die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts die Welt immer noch auftischt, muss nicht großartig bewiesen werden. Die jüngsten medialen und technischen Entwicklungen können und wollen sich nicht von der Tischförmigkeit des Weltzugriffs lösen. Die Benutzeroberfläche des Computers nennt sich „Desktop“, und der Tablet-Computer kommt als „Tischchen“ mit dem Versprechen daher, uns die Welt umfassend zur Verfügung zu stellen. Erheben wir uns also nicht arrogant über frühere Zeiten und andere Kulturen. Die Erde war noch nie eine Scheibe, aber die Welt ist immer noch ein Tisch. Wir sind da kaum weiter gekommen. Oder haben Sie schon einmal einen Tisch in Kugelform gesehen?
[1] Uta Brandes/Michael Erlhoff (Hg.): My Desk is my Castle. Exploring Personalization Cultures, Basel 2011.
[2] Jacqueline Hassink: The Table of Power. Amsterdam 2000; Jacqueline Hassink: The Table of Power 2. Ostfildern 2011.
[3] Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009.
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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/07/12/10-philipp-ii-und-die-welt-als-tisch/