40 und Schluss: Öffentliche Metamorphosen oder Du musst dein Leben ändern!

Abschied und Willkommleben ändern

Das soll er sein, der letzte Eintrag auf diesem Blog. Sollte man sich die Mühe machen, die Historie dieses Mikromediums nachzuverfolgen, könnte man unschwer feststellen, dass die Frequenz der Einträge in den vergangenen Monaten merklich zurückgegangen ist. Das ließe sich als nachlassendes Interesse interpretieren. Tatsächlich hat es aber mit der Umleitung meiner Schreibenergie zu tun. So viel Vergnügen mir das Blogschreiben auch bereitet, so ist es doch nur ein Buchstabenfeld neben anderen, das zu beackern ist. Daher habe ich den Entschluss gefasst, nicht das Bloggen aufzugeben, aber seine Form zu verändern. Anstatt nur sporadisch alle paar Wochen (oder gar Monate) einmal die Zeit zu finden, mich an dieser Stelle zu äußern und das Blog auf diese Weise zu einem Nebenhermedium zu machen, will ich es zukünftig konzentrierter und gleichzeitig ausgiebiger nutzen: als Mitteilungsform, das seinen Möglichkeiten gerecht wird, als aktuelles, auf eingreifendes Kommentieren angelegtes und nicht zuletzt auch ephemeres Medium. Man könnte auch sagen, dass ich mich medial meinem wissenschaftlichen Forschungsgebiet, der frühneuzeitlichen Geschichte, annähere. Denn zumindest das 16. und 17.

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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/12/31/40-und-schluss-oeffentliche-metamorphosen-oder-du-musst-dein-leben-aendern/

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39. Besuch auf dem Friedhof oder Ein Kreuzungspunkt der Zeiten

Friedhof

Blätterleichen

Der November ist eigentlich ein angemessener Monat, um sich einmal den letzten Dingen zuzuwenden. Als Todesmonat mit Allerheiligen und Totensonntag und Volkstrauertag und Halloween und herabfallenden Blätterleichen, die milliardenfach den Boden bedecken und nur noch deprimierende Baumskelette stehen lassen, zwingt er gerade in seiner neblig-grauen, die Sicht bis auf wenige Meter einschränkenden Erscheinungsform dazu, die Nähe des Todes ernst zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich ein Besuch auf dem Friedhof – selbst wenn man meint, dort gar nichts verloren zu haben?

Sicherlich gibt es das eine oder andere Argument, das sich anführen ließe, um von einem solchen Gang eher abzusehen. Möglicherwiese liegen dort gar keine Verwandten oder Bekannten, die man besuchen könnte. Oder sie liegen zwar auf einem Friedhof, aber in größerer Entfernung, so dass die Ruhestätte, die in halbwegs erreichbarer Nähe ist, keinen Besuchsanlass bietet. Was aber will man auf einem Friedhof, auf dem sich weder Anverwandte noch Berühmtheiten befinden, wenn nicht einem allgemeinen Gefühl der Morbidität frönen? Und ist es nicht überhaupt seltsam, von einem ‚Besuch‘ zu sprechen, wenn es um den Gang auf den Friedhof geht? ‚Besuchen‘ wir nicht möglicherweise uns selbst und unsere eigene Sterblichkeit, die mit jeder Feststellung der Lebensdaten auf einem Grabstein von neuem an unser Hinterstübchen klopft?

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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/12/19/39-besuch-auf-dem-friedhof-oder-ein-kreuzungspunkt-der-zeiten/

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37. Wider die Perfektion oder Das Vollkommene im Gewesenen

ZeitstillstandFeatured image

Zuweilen lohnt es sich, etwas genauer auf die Wahl der eigenen Worte zu achten. Auch wenn sich allenthalben kritische Stimmen vernehmen lassen, die vor den Auswirkungen einer allzu großen Fortschrittsgläubigkeit warnen, offenbart mitunter selbst die Wortwahl solcher kritisch gestimmter Menschen, wie sehr sie schon vom Virus der Ökonomisierung und Selbstoptimierung infiziert sind. Ein Indiz dafür ist die Verwendung von Worten, die sich im Umfeld des Ausdrucks ‚Perfektion‘ tummeln. Wie selbstverständlich ist dieses Gerede geworden. Da soll die Karriere, die Beziehung und sowieso die ganze Einstellung perfekt sein, da preist die Werbung das perfekte Makeup, das perfekte Auto oder die perfekte Matratze an, und auch in den eigenen vier Wänden muss das perfekte Essen auf den Tisch, die perfekte Inneinrichtung her oder das perfekte Dinner gelingen.

All das lässt sich leichthin als oberflächliches Wortgeklingel identifizieren. Im jeweiligen Fall auf den Zahn gefühlt, würde sich wohl recht schnell herausstellen, dass dieses Perfektionsgerede von keiner Seite, weder vom alltäglichen Sprachgebrauch noch von der Werbewirtschaft, wirklich wörtlich gemeint ist. Von der Vollkommenheit wissen wir uns doch einigermaßen weit entfernt.



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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/08/17/37-wider-die-perfektion-oder-das-vollkommene-im-gewesenen/

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36. Das Romantische oder: Geschichte wiederholt sich doch nicht

Alles schon mal dagewesenRomantik

Vor kurzem wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt: Das kennst du doch irgendwoher, hätte ich mir denken können, wenn ich in dem Moment einen vollständigen Satz gedacht hätte. Aber wahrscheinlich kam nur so etwas heraus wie: Ach! Und wenn ich statt Ach! schon einen vollständigen Satz hätte denken können, dann hätte er weniger lauten sollen, dass ich das da irgendwoher kenne, sondern eher, dass ich es irgendwannher kenne. Aber für solche Verstiegenheiten war die Zeit zu knapp. Da war das Ach! einfach schneller.

Unangenehm ist vor allem, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, was mir da so bekannt vorkam. Liegt wohl daran, dass es seit geraumer Zeit so viele Gelegenheiten gibt, Altbekanntem oder vermeintlich längst Vergangenem wieder zu begegnen. Da war man sich zum Beispiel mal im späten 20. Jahrhundert sicher, dass man die ganze Sache mit dem Nationalismus überwunden hätte, bis genau dieser Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder fröhliche Urständ feiert und in den letzten 25 Jahren auch keine Anstalten gemacht hat, wieder zu verschwinden. Dabei geht es nicht nur um nationalistisch motivierte, kriegerische Auseinandersetzungen, sondern viel eher noch um die offensichtliche Hoffähigkeit und Veralltäglichung nationalistischer Positionen auf verschiedenen Ebenen der politischen Meinungsbildung. Ob man sich den Aufstieg nationalpopulistischer Parteien in den Niederlanden, in Skandinavien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und sonstwo ansieht oder die eingeforderte Selbstverständlichkeit betrachtet, mit der nicht wenige fordern, gegen so genannte Migranten und so genannte Ausländer hetzen zu dürfen („Wir sind keine Nazis, wir sind Bürger“!) – mulmig muss einem werden, wenn es nicht einmal mehr einer gehörigen Wirtschaftskrise bedarf, um solche Emotionen zu schüren.

Die Religion wird gleich mitgenommen. Auch wenn sich die Pegida-Bewegung in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn müde gelaufen haben sollte, wird es ersatzweise sicherlich andere Komplexitätsreduzierer geben, denen die Dinge gar nicht einfach genug sein können. Und ‚das Abendland‘, das auch dann wieder verteidigt werden soll, muss natürlich ein irgendwie – also eher diffus – christliches sein, so dass man weiterhin den Krieg der Religionen und Konfessionen ausrufen kann, weil man ja auch in diesen Religionen eine irgendwie geartete Identitäts- und Stabilitätsgarantie zu entdecken vermag.

Aber es sind eben nicht nur die offensichtlichen Beispiele von Nation und Religion, die einem im vergangenen Vierteljahrhundert temporale Schwindelgefühle verursachen konnten, weil das alles schon mal dagewesen ist und eigentlich schon längst abgehakt war. Auch in anderen, politisch gänzlich unverfänglichen Zusammenhängen kann einem das eine oder andere bekannt vorkommen. So können aufmerksame Beobachter kulturwissenschaftlicher Diskussionen zum Beispiel feststellen, wie in den vergangenen Jahren zunehmend versucht wird, den überbordenden Verunsicherungen und Unwägbarkeiten neue/alte Grundlagen entgegenzusetzen. Da gerät die Frage nach dem Sein und der Ontologie unversehens zu einer neuen Blüte, da wird gegen alle möglichen Spielarten von Konstruktivismus die Unmittelbarkeit einer Präsenz hervorgehoben oder da wird gegen nervende Relativierungen ein „Neuer Realismus“ ausgerufen. [1] Generell war das Geschimpfe gegen alles, was man als „postmodern“ bezeichnen konnte, ja schon immer groß, nun kommt es aber zunehmend auch aus den Reihen derjenigen, von denen man bisher immer denken durfte, dass sie eigentlich zu diesen „Postmodernen“ dazu gehören. Das scheint nach dem Motto zu laufen, dass dieses ganze theoretische Herumexperimentieren ja ganz nett war, nun aber mal Schluss mit dem Quatsch sei, weil es jetzt wieder ernst werde: Kriege, Krisen, Katastrophen! [2]

Eine zweite Romantik

Natürlich ist klar, woher wir das alles schon kennen, dieses zunächst ironisch-experimentelle Herumspielen, das aber schon recht bald übergeht in die Suche nach dem Eigentlichen, dem Essentiellen, dem Wirklich-Wahren, dem eigentlich Unfassbaren, das so groß ist, dass man sich ihm einfach nur noch hingeben kann. Unabhängig davon, ob dieses Eigentliche, mit dem wir es da zu tun haben und das alles übersteigt, nun Nation, Religion, Geist, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit oder sonstwie heißt – es widersetzt sich letztendlich allen Differenzierungen und Theoretisierungen und kann in seiner Großartigkeit nur noch hingenommen werden. Die Romantik hat all das schon einmal ähnlich durchgespielt. Und in der Tat sind die Parallelen fast schon unheimlich: Zunächst haben wir es mit einer theoretischen Bewegung zu tun, die es unternimmt, die Grundlagen der sicher geglaubten Welt zu erschüttern (dort Aufklärung, hier Postmoderne), sodann eine politische Revolution, die mit dieser Erschütterung tatsächlich ernst macht (dort Französische Revolution 1789, hier die europäischen Revolutionen 1989/90), gefolgt von der schwierigen und zähen Aufarbeitung all dessen, was da geschehen ist. In der anschließend entstandenen Verwirrung, ausgelöst durch den Verlust einst sicher geglaubter Wirklichkeitsparameter, wird nicht ausschließlich, aber doch ganz merklich der Versuch beobachtbar, verlorene Gewissheiten wiederzugewinnen. Dann macht es mit einem Mal Sinn, sich wieder auf die Religion zu kaprizieren, die Nation zu vergöttern, die Wahrheit wertzuschätzen oder die Einheit in der Wirklichkeit wieder zu entdecken, weil in all diesen Essentialismen das endlose Differenzieren und Relativieren endlich ein Ende findet.

Diese zeitlichen und inhaltlichen Parallelen sind so frappierend, dass man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen könnte, wir lebten in einer zweiten Romantik (nach der „Zweiten Moderne“ wäre das ja durchaus folgerichtig). Und wäre dem so, hätten wir zwei ganz wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens hätten wir bestimmte historische Verlaufsformen, wenn nicht sogar eine grundlegende historische Gesetzmäßigkeit ausfindig gemacht. Und zweitens könnten wir dann auf dieser Basis sogar voraussagen, wie sich zumindest in groben Zügen der weitere Verlauf der Entwicklungen vollziehen wird. Heureka!

Alles noch gar nicht dagewesen

Aber nein, so ist es natürlich nicht. War nur ein Scherz. Die Rede von einer zweiten Romantik (oder einem zweiten Wasauchimmer) mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, erweist sich aber schnell als Popanz. Also keine Sorge, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie tut es nicht nur nicht, weil es verboten oder argumentativ zu einfach wäre. Auch tut sie es nicht, weil um 1800 einige Aspekte eine eher geringe Rolle gespielt haben, die uns um 2000 wesentlich stärker betreffen, zum Beispiel die globalen Kommunikationszusammenhänge, in die wir eingebunden sind (während die erste Romantik schon ein sehr europäisches Phänomen war), oder die überbordend große Rolle ökonomischer Fragen, die im frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht so bedeutsam waren. Sie tut es vor allem nicht, weil ein solcher Blick, der sich auf die Wiederkehr bestimmter historischer Verlaufsmuster konzentriert, nur das sieht und betont, was er sehen will. Alles Unpassende wird beiseitegeschoben. Und die Verwandtschaft der Jahreszahlen zu betonen (1789-1989) übersieht entweder, dass dazwischen doch zwei Jahrhunderte Differenz liegen, oder hat sich noch nicht wirklich von der Macht kabbalistischer Zahlenmystik befreit. Dem kann man dann möglicherweise historische Prozesse auch dadurch erklären, dass man auf die Namensähnlichkeit von Staatschefs verweist: Lenin-Stalin-Putin!

Aber ein gewisses Muster gibt es natürlich trotzdem. Allerdings liegt das weniger in ‚der Geschichte‘ (was auch immer mit diesem vermeintlich alles erklärenden Gottersatz gemeint sein mag), sondern eher bei uns. In der Art und Weise, wie wir uns auf abwesende Zeiten beziehen, wie wir mit Vergangenheit und Zukunft als Orientierungshorizonten operieren, versuchen wir unsere eigene Gegenwart zu organisieren. Und auf Verunsicherungen, die aus einem empfundenen oder tatsächlichen Übermaß an Veränderungen resultieren, kann man unter anderem reagieren, indem man auf vermeintlich überzeitlich gültige Grundlagen rekurriert. Dann müssen mit einem Mal die seltsamsten Konstrukte herhalten, um den Irritationen des Konstruktivismus zu entgehen. Dann werden Nation und Religion (natürlich die jeweils ‚eigene‘) mit einem Mal ebenso bedeutsam wie die Unbestreitbarkeit der einen Wahrheit oder der einen und einzigen Wirklichkeit. Gab es jemals eine bessere Zeit für postmoderne Dekonstruktionsarbeiter als diese, in der man sich allenthalben nach neuen Konstrukten sehnt?

Damit hätten wir aber kein historisches Grundgesetz formuliert, sondern höchstens Einsichten in die allzu menschlichen Unzulänglichkeiten gewonnen. Dass Verunsicherungen und Turbulenzen nicht angenehm sind, lässt sich schon aus der Genesis lernen. Aus dem Paradies vertrieben zu werden, war offensichtlich nicht besonders angenehm. Und seither suchen zumindest manche Vertreter der Gattung Mensch den Weg dorthin zurück, in die geordneten, sorgenlosen und ewig gültigen Verhältnisse eines Paradieses, in dem irgendeine höhere Instanz dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber dieses Paradies wäre die Hölle.

Die Romantik des Historischen

Dummerweise sind von solchen Phänomenen der Re-Romantisierung alle historischen Tätigkeitsfelder ganz besonders betroffen. Insofern ist es kein Zufall, dass man es seit den 1990er Jahren mit einem unübersehbaren Geschichts- und Erinnerungsboom zu tun hat, bei dem nicht nur alles und jedes historisiert wird, sondern bei dem vor allem ‚die Geschichte‘ mal wieder die versichernden Antworten auf all die verunsichernden Fragen zu geben hat. Insofern muss ich mir tatsächlich Sorgen machen über die anhaltende Attraktivität meines eigenen Arbeitsgebiets.

Daher heißt es gegensteuern. Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat gerade nicht die Funktion, zur Orientierung und Identitätsbildung oder sonstigen Versicherungsmaßnahmen beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn man nicht so genau hinsieht und das Gewesene als billiges Argumentationsarsenal missbraucht. Ganz im Gegenteil hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Aufgabe, uns in unserer selbstverständlichen Bräsigkeit zu verunsichern, Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch nicht einmal wussten, dass sie existieren könnten, und das vermeintlich überzeitlich Gültige als zeitlich recht beschränkt vorzuführen. Und das gilt sowohl für die Suche nach unbezweifelbaren Grundlagen (schließlich muss man laut Wittgenstein an allem zweifeln – nur am Zweifel selbst nicht) wie auch für die Illusion von historischen Gesetzmäßigkeiten.

 

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014

[2] Dazu scheint zu passen, dass diese theoretischen Expermientierfelder gerade ihre eigene Historisierung erfahren: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015.


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31. Jahresrückblicke

Märchenhafte ZeitenRückspiegel

Ein alter Mann erzählt ein Märchen (oder ist es vielleicht nur eine raunende Stimme, die von einem undefinierbaren Ort spricht und gerade deshalb so Ehrfurcht gebietend erscheint, weil sie nicht genau zu lokalisieren ist?), erzählt also ein Märchen von zwei Gruppen von Menschen, die friedlich, wenn auch mehr nebeneinander als miteinander lebten. Sie bewältigten ihren Alltag, überwanden Probleme, meisterten Schwierigkeiten und schlugen sich durchs Leben. Was Gruppen von Menschen eben so tun. Eines schönen Tages stellten sie jedoch fest, dass es bei allen Gemeinsamkeiten des Lebens und Überlebens einen gewichtigen Unterschied zwischen ihnen gab. Während die eine Gruppe nämlich den Eindruck hatte, dass sich in ihrem Leben alles beständig wiederhole, dass die Jahreszeiten wiederkehrten, dass Menschen geboren wurden und starben, um wiedergeboren zu werden und wieder zu sterben, und dass Feste immer zur gleichen Zeit gefeiert wurden, war die andere Gruppe davon überzeugt, dass alles immer anders wurde, dass sich die Dinge nie gleich blieben, dass der nächste Morgen immer ein neuer, nie da gewesener war, dass sie es mit immer neuen Jahreszeiten, Festen und Menschen zu tun hatten.

So entstand das Märchen von den Gesellschaften mit einem zirkulären und einem linearen Zeitmodell. Und wie bei allen Märchen, so mag es auch hier durchaus einen wahren Kern geben, aber eigentlich ist doch recht offensichtlich, dass dieses Märchen – wie alle Märchen – die Dinge wesentlich einfacher darstellt als sie sind. Sonst könnte das Märchen ja nicht so kurz und so einprägsam sein, sonst müsste es viel ausführlicher und komplizierter sein – und wäre dann wohl gar kein Märchen mehr.

Seltsamerweise erzählen sich aber gerade diejenigen Gruppen von Menschen, die sich selbst gerne als ‚modern‘ bezeichnen (was auch immer das sein mag), immer wieder solche Märchen, die darauf hinauslaufen, was sie doch von denjenigen Menschengruppen unterscheidet, die sie gern als ‚traditionell‘ oder ‚vormodern‘ bezeichnen. Traditionalität lässt sich auch übersetzen als ein Zustand des Noch-nicht. Die anderen sind eben noch nicht so weit wie wir, haben noch nicht den Entwicklungsstand erreicht, sind noch nicht zu den entscheidenden Erkenntnissen gelangt.

Die Zeit der Anderen

Ich weiß, sämtliche Formen des Eurozentrismus und der westlichen Selbstzuschreibung einer entwicklungsmäßigen Vormachtstellung sind schon längst entlarvt worden. Aber ich habe noch nicht den Eindruck, dass diese Einsicht schon durchgehend zu der Konsequenz geführt hätte, auf eine solche Haltung auch tatsächlich zu verzichten. Vor allem nicht in Bereichen, in denen man zunächst nicht unbedingt bemerkt, wie sehr man immer noch einem hierarchischen Entwicklungsmodell folgt, bei dem man auf einmal selbst – hups! – gänzlich unerwartet an der Spitze steht. Zeitmodelle sind ein Beispiel für solche unreflektiert mitgetragenen Unterscheidungsformen, die meistenteils auch nicht ohne eine Qualifizierung des Besseren und des Schlechteren auskommen. [1]

So genannten traditionalen Gesellschaften wird dann eben schnell unterstellt, sie würden ihre Zeitvorstellungen entsprechend ihrem ‚naturnahen‘ Leben ausrichten, während hochindustrialisierte oder spätkapitalistische oder wie auch immer zu bezeichnende Gesellschaften mit einem linearen Zeitmodell operierten, das an einer offenen Zukunft ausgerichtet sei. Womit wir wieder bei unserem Märchenonkel wären.

Wie sehr man mit einer solchen Vorstellung daneben liegen kann, lässt sich alljährlich im Dezember beobachten. Dann biegt sich nämlich die angeblich so linear ausgerichtete Zeitschiene der Modernen flugs in sich selbst zurück, um einen wunderschön geformten und vor allem flutlichtartig beleuchteten Zirkel zu bilden. Das Ganze hört dann auf den Namen ‚Jahresrückblick‘.

Der Sinn des Ganzen

Man muss ja zuweilen den Eindruck haben, dass die Monate Januar bis November nur existieren, um im abschließenden Jahresrückblicksmonat angemessen historisiert zu werden. Dann werden sie alle wieder hinter den Kulissen hervorgezogen: die Sporthelden und die Katastrophenopfer, die Erfolgreichen und die Hinterbliebenen, die Entscheidungsträger und die skurrilen Nebenfiguren. Das Publikum darf sich derweil gegenseitig der Erkenntnis versichern, wie schnell auch dieses gewesene Jahr vorüberzog und was in ihm nicht alles geschah. Also alles wie immer.

Und genau darauf scheint es ja anzukommen. Um eine wirkliche Historisierung, die diesen Namen verdienen würde, kann es kaum gehen. Denn erstens halten sich – Wunder über Wunder! – umfangreichere Transformationen nicht an die verhältnismäßig künstlichen Grenzen des menschlichen Kalenders, sondern sind auch mal so frei, sich mehr Zeit zu nehmen, als unsere mediale Aufmerksamkeitsspanne erübrigen kann. Und zweitens benötigen wir zuweilen einen gewissen zeitlichen Abstand, um Veränderungen in ihrer Bedeutung für uns beschreiben zu können – um diese Beschreibung dann mit einem noch größeren zeitlichen Abstand unter Umständen wieder zu variieren.

Der Jahresrückblick tut daher so, als würde er zu einer Historisierung beitragen, kann das aber aufgrund seiner kalendarischen Fixierung überhaupt nicht. Ein ganz simpler Beleg, dass und warum der Jahresrückblick an seinem eigenen Anspruch scheitern muss: Er kann immer nur elf Monate des Jahres berücksichtigen. Unabhängig davon, ob er als Unterhaltungsshow, Zeitungssonderbeilage oder Familienbrief daherkommt, für ihn darf im zwölften Monat nichts mehr passieren, sonst hätte man ja gar keine Zeit mehr, um jahresrückzublicken.

Was macht der Jahresrückblick aber dann, wenn er gar nicht Geschichte schreibt? Er dient unter anderem einer nostalgischen Grundstimmung, die dem Verlust des verflossenen Jahres ein wenig nachzutrauern vermag. Er dient aber noch stärker der Sinngebung des Sinnlosen [2], indem er dort eine Einheit zu stiften versucht, wo sich zunächst einmal nicht sehr viel anderes findet, als ein an bestimmten Strukturen und natürlichen Erscheinungen orientiertes System, um Zeit zu messen, zu zählen und zu benennen. Zum Jahresende ist nichts anderes geschehen, als dass die Erde eine weitere Rundreise um die Sonne erfolgreich absolviert hat. Herzlichen Glückwunsch dazu! Daraus aber gleich die Schlussfolgerung zu ziehen, dieser planetarischen Bewegung müsse das Sinnganze und der Sinninhalt eines Jahres entsprechen, ist nur mal wieder ein weiterer Beleg für die Unfähigkeit des Menschen, die eigene Anthropozentrik zu überwinden. Irgendwie scheint sich alles immer um uns zu drehen (und nicht um die Sonne). Und damit wären wir doch wieder ganz in der Nähe der vermeintlich traditionalistischen und naturverhafteten Menschengruppen, die angeblich einem zirkulären Geschichtsbild anhängen. Das sind nämlich wir selbst (wenn auch nicht ausschließlich; genauso wie ‚die Anderen‘ nicht ausschließlich das sind, was wir ihnen unterstellen).

Annalistische Revisionen

Der Sinn eines vergangenen Jahres, wie er in vielen Rückblicken präsentiert wird, kann dabei nicht irgendeiner sein. Man wird leider verhältnismäßig wenige Beispiele dieser Gattung finden, bei denen die Rückblickenden feststellen, dass das vergangene Jahr leider völlig sinnlos gewesen sei. Lackmustest für solche annalistischen Revisionen kann daher die Frage sein, wie viele Gescheiterte, Verlierer oder Verurteilte dort üblicherweise Erwähnung finden. Meistens treten sie eher selten in Erscheinung, schließlich könnten sie die angestrengte und anstrengende Sinnsuche mit irritierenden Störsignalen befeuern.

Die Funktion von Jahresrückblicken besteht aber offensichtlich darin, genau die richtige Balance zwischen Nostalgie und Aufbruchswillen, zwischen Trennungsschmerz und Sinnhaftigkeit zu erzeugen, um auch das nächste Jahr beschwingt angehen zu können. Mit Karnevalsweisheiten wie „Et hätt noch emmer joot jejange“ kann man dann auch die neuralgische Schwelle ins neue Jahr überwinden. Ist überlebenstechnisch sicherlich auch ein ganz hilfreicher Kniff, sich nicht beständig an Niederlagen und Nackenschläge zu erinnern. Schließlich muss man einen Grund haben, um im nächsten Jahr weiterzumachen. Und mit einer solchen Einstellung lässt sich sogar der nächste Jahresrückblick irgendwie ertragen.

Aber man darf die sich selbst verstärkende Rückkopplungsschleife nicht übersehen, in die wir uns mit dieser Jahresfixierung hineinbegeben. Selbst wenn ‚das Jahr‘ als zeitliche Einheit an sich keinen Sinn transportiert, verhalten wir uns doch alle bewusst oder unbewusst so, als besäße es einen inhärenten Sinn – und flugs bekommt es auch einen. Es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Wenn alle davon überzeugt sind, dass man auf ein Jahr als ein Sinnganzes zurückblicken kann, dann ist das Jahr so unverfroren und bekommt tatsächlich einen. Schließlich mache auch ich hier nichts anderes, als jahresrückblickend auf Jahresrückblicke zurück zu blicken.

 

[1] Johannes Fabian: Time and the other. How anthropology makes its object, New York 1983.

[2] Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1983


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30. Neohistofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land

Wozu?Every story

Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen. Aber aktuell erscheint es noch ein weniger zeitiger. Nicht weil wir es mit einer grundsätzlichen Krise des Geschichtsverständnisses zu tun hätten – sondern ganz im Gegenteil, weil wir es mit ‚Geschichte‘ als einem viel zu großen Selbstverständnis zu tun haben. Können sich die Älteren noch an Diskussionen erinnern, die bis in die 1980er Jahre hinein immer mal wieder aufgeflammt sind und in denen regelmäßig die Frage aufgeworfen wurde: „Wozu Geschichte?“ Der Blick in die Vergangenheit galt tendenziell als konservativ, nostalgisch, weltabgewandt und sogar reaktionär, weil zum Beispiel die Sozialwissenschaften viel besser in der Lage zu sein schienen, mal so richtig die Welt zu erklären. Seit den 1990ern (grob geschätzt) muss man die Frage hingegen anders stellen: „Wozu so viel Geschichte?“ Denn Geschichte ist überall, im Fernsehen, in populären Magazinen, im Internet, im Tourismusyou name it.

Auch wenn mich der Umstand dieses nicht nur anhaltenden, sondern – soweit sich das quantifizieren lässt – sogar steigenden Interesses an der Beschäftigung mit der Vergangenheit aus rein professionellen Gründen erfreuen müsste, geht er doch mit diversen Problemen einher. Man kann diese Schwierigkeiten unter dem Stichwort einer Verflachung der Geschichte verhandeln oder mittels näherer Betrachtung gängiger historischer Floskeln genauer unter die Lupe nehmen (geschehen hier, hier, hier und hier). Das sind aber nur kleine Schnitte in das Gewebe der herrschenden Geschichtskultur, die durch zahlreiche weitere Operationsfelder vervielfältigt werden müssten.

Wohin aber soll das führen? In das kulturpessimistische Gejammer selbsternannter Spezialisten im Feld der historischen Forschung, dass sich so viele Amateure in ihren Gefilden herumtreiben? In die Klage über den Verfall historischer Normen und Werte, weil alles und jeder meint, sich mehr oder minder kompetent zur Vergangenheit äußern zu müssen? Wohl kaum. Denn wer wäre ich, irgendjemandem vorschreiben zu wollen, ob er/sie sich auf die eine oder andere Art und Weise mit Geschichte beschäftigen darf? Nein, es soll und kann nur um den Versuch gehen, die etablierten Formen historischen Verständnisses zu befragen – und ihnen mögliche Alternativen entgegenzusetzen.

Geschichte als Außen

Nun ließe sich zum Beispiel die Beschäftigung mit historischen Floskeln recht schnell und unproblematisch als wenig erhellend beiseiteschieben. Das Alltagswissen und die Alltagsüberzeugungen von Vergangenheit und Geschichte erscheinen für ein weitergehendes historisches Verständnis als irrelevant. Aber was heißt schon „weitergehendes historisches Verständnis“? Unterscheidet sich das Bild von „der Geschichte“, das sich in Floskeln niederschlägt, denn tatsächlich so grundsätzlich von demjenigen, das beispielsweise in den historischen Wissenschaften zirkuliert? Zumindest wird man kaum behaupten können, dass diese Floskeln keinerlei Bedeutung für herrschende Geschichtsbilder hätten. Hier werden tatsächlich sozial wirksame Vorstellungen davon konstituiert, was „Geschichte“ und „Vergangenheit“ sein könnten.

Wenn man historische Floskeln in diesem Sinn ernst nimmt und wenn man sich deren wesentliche Aussage vor Augen führt – wenn man also von der Vergangenheit eingeholt wird oder sie ruhen lassen will, wenn man Geschichte macht oder in die Geschichte eingeht, wenn man den Lauf oder die (Nicht-)Wiederholbarkeit von Geschichte beobachtet – dann zeigt sich in der Quersumme ein ganz wesentliches Charakteristikum derjenigen „Geschichte“, von der hier die Rede ist. „Geschichte“ ist immer etwas Äußeres, Eigenständiges, eine andere Dimension, die man beobachten oder zu der man Zugang erlangen kann – vielleicht sogar etwas Transzendentes. Und das ist natürlich höchst problematisch. Denn damit wird ja so getan, als hätte die historische Beschäftigung einen Gegenstand, der „irgendwo dort draußen“ liegt, als könnte man Zugang erhalten zur Vergangenheit als einer zeitlich zurückliegenden Dimension. Problematisch ist das, weil die historische Beschäftigung es nicht mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern mit dem aus der Vergangenheit übriggebliebenem Material. Deswegen kann man sogar behaupten, dass „Geschichte“ nicht in der Zeit stattfindet, sondern im Raum, weil sie nicht auf die Vergangenheit als einer abwesenden Zeit rekurrieren kann, sondern nur auf das historische Material, wie es in bestimmten Räumen eingelagert ist, in Archiven, Bibliotheken, Museen, Bunkern, Kellern, Dachkammern … Und wenn das tatsächlich so ist, dann brauchen wir auch neue Floskeln, die dieses Verständnis von Geschichte zum Ausdruck bringen

Neue Floskeln braucht das Land

Ein Stück Geschichte in die Gegenwart hineinsetzen

Wenn wir uns schon nicht in die Vergangenheit hineinversetzen können, dann sollten wir doch wenigstens versuchen, das angemessen zu beschreiben, was wir ohnehin die ganze Zeit tun – nämlich Geschichte als ein Stück erzählter Vergangenheit in unsere Gegenwart integrieren. Ist vor allem deswegen vergnüglich und erfolgreich, weil man immer Neues in dem Alten entdeckt.

Vergangenheiten sehen uns an!

Dass sich ein bestimmtes Hier und Jetzt in den Mittelpunkt der Welt und ihrer Weltgeschichte setzt, ist für Gesellschaften, die sich selbst als „modern“ zu bezeichnen pflegen, ein verhältnismäßig normaler Vorgang (seit das Jenseits als ein späteres und ewiges Hier und Jetzt an Überzeugungskraft eingebüßt hat). Insofern ist es durchaus folgerichtig (und auch nicht gänzlich falsch), wenn dieses Hier und Jetzt von sich behauptet, in die Vergangenheit blicken zu wollen. Zugleich ist ein solcher Zugang recht vereinseitigend. Denn auch die Vergangenheiten haben durch ihre Weltsichten und ihre Formen der Überlieferung schon ganz erheblich dasjenige geprägt, was wir als Geschichte begreifen können. Sie sehen uns also mindestens ebenso sehr an wie wir sie.

Wir machen zukünftige Vergangenheit!

In der Tat, das tun wir, und zwar jeden Tag. Es könnte durchaus sein, dass diese zukünftige Vergangenheit von etwas längerer Haltbarkeit ist, möglicherweise sogar für Jahrzehnte und Jahrhunderte Bedeutung erlangt. Aber recht nüchtern muss man wohl feststellen, dass vieles von dem, was heute noch Geschichte machen will, morgen schon wieder vergessen ist. (Das ist der Effekt, wenn man in alten Zeitschriften oder Zeitungen blättert und einstmals bedeutsame Ereignisse aus der inzwischen eingetretenen historischen Amnesie wieder auftauchen.) Man kann also gut und gerne versuchen, Geschichte zu machen, ob das aber tatsächlich gelingt, liegt nicht allein in der Hand der Gegenwärtigen. Bis dahin bleiben wir recht gegenwärtig darum bemüht, heute schon festlegen zu wollen, was morgen am Gestern interessiert. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft dazu sagt.

Wo die Zeiten nicht wieder überall hinlaufen?!

Klingt – wie vieles andere hier – gewöhnungsbedürftig, sollte aber dabei helfen, sich vom eindimensionalen Zeitstrahl und seiner eindeutigen Richtung zu befreien. Denn „die Zeit“ gibt es nicht (höchstens als Wochenzeitung), und eine eindeutige Richtung hat sie auch nicht. Stattdessen sollte man sich öfter wundern, wo denn die vielen Zeiten nicht überall hinlaufen.

Lasst uns Geschichte wiederholen!

Wohlgemerkt: Geschichte, nicht Vergangenheit. Letztere steht als Vergangenes der Repetition nicht zur Verfügung, aber Ersteres wiederholen wir beständig. Wenn man Geschichte begreifen darf als Beschreibung einer Vergangenheit durch eine Gegenwart, und diese Beschreibung im Sinne einer Verknüpfung zwischen diesen unterschiedlichen Zeiten funktioniert, dann muss diese Relation beständig erneuert werden. Wahrscheinlich bedarf es in diesem Fall gar keiner eigenen Floskel, denn die Praxis der Geschichtsschreibung ist nichts anderes als die immer wieder notwendige Geschichtswiederholung.


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27. Kontemporalismus oder Mit den Zeiten leben

Ein ManifestUhren

Es scheint die Zeit der Manifeste zu sein. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert, als Marinetti 1909 das Manifest des Futurismus veröffentlichte oder André Breton ab 1924 gleich mit mehreren Manifesten den Surrealismus zu installieren versuchte [1], bemüht sich auch das frühe 21. Jahrhundert darum, Orientierung in manifester Form zu gewinnen. Was müssen das für Zeiten sein, in denen solche Texte gedeihen? Phasen, die bestimmt sind durch die Verunsicherung einst unhinterfragter Parameter, durch den Verlust richtungsweisender Wegmarken, durch die Suche nach Alternativen zum Bestehenden. Es müssen vielleicht gar nicht politisch oder wirtschaftlich krisenhafte Zeiten sein, eher scheinen die systemischen Zusammenhänge, in denen man existiert, gerade deswegen so irritierend und verunsichernd, weil sich keine echte Alternative aufdrängt – und weil man zugleich weiß (oder zumindest ahnt), dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Vielleicht ist das aber auch völliger Unsinn. Womöglich ist jede Zeit eine gute Zeit für Manifeste. Wobei es natürlich eine Sache ist, ein Manifest aufzusetzen, und eine ganz andere, damit auch Gehör zu finden. In der allerjüngsten Vergangenheit konnte man gleich über mehrere Vertreter dieser Textgattung stolpern, die in den Feuilletons zumindest kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgten. Wie weit ihre Halbwertzeit reicht, wird sich erst noch weisen müssen. So erschien vor ein paar Jahren erschien in Frankreich „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“, worin unter kommunistischen Vorzeichen – nun ja, der kommende Aufstand angekündigt wurde. [2] Ganz anders geartet ist das „Manifest des neuen Realismus“ von Maurizio Ferraris, als, offen gestanden, wenig überzeugender Versuch, den „Wert der Wirklichkeit“ gegen Postmoderne und Konstruktivismus zu retten, um sich damit nicht nur in befremdliche Selbstwidersprüche zu verheddern, sondern mit dieser Oppositionshaltung selbst schon wieder ‚postmodern‘ zu wirken. [3] Und kaum hat man einmal fünf Minuten nicht hingesehen, erscheint auch schon wieder ein neues Manifest: „The History Manifesto“ wurde veröffentlicht, während ich an diesem Beitrag schrieb.

Konvivialismus

Ein weiteres, ebenfalls sehr frisches Beispiel ist „Das konvivialistische Manifest“ (als PDF kostenfrei herunterzuladen). Auf eine vornehmlich französische Initiative zurückgehend, stellen in diesem Manifest etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teils sehr unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, Forderungen auf, die sich in zwei Richtungen hin zuspitzen lassen. Erstens geht es um die Überwindung der ökonomischen Religion, um ein Hintersichlassen des nackten Wachstumswillens, der seinen Endzweck nur noch in sich selbst hat, und um die Ersetzung eines Eigennutzdenkens durch eine stärkere Gemeinnutzorientierung. Zweitens geht es um das Aufzeigen oder vielmehr Zusammenführen alternativer Modelle zur Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, die sich nicht mehr auf Wachstum und Eigennutz kaprizieren, sondern – wie der Name schon sagt – das Zusammenleben mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in den Mittelpunkt rücken.

Mit dem konvivialistischen Manifest liegt ein weiterer Beitrag vor, der versucht deutlich zu machen, dass und wie Alternativen zu herrschenden Formen des Wirtschaftens und Lebens aussehen könnten. Sympathisch daran ist nicht nur die undogmatische Herangehensweise, sondern auch der konkrete Bezug zu bereits bestehenden Projekten in diese Richtung sowie nicht zuletzt die Einsicht, dass die Grundlage eines solchen Konvivialismus ein Umdenken sein muss, das nichts weniger wäre als eine kulturelle Revolution. Diese Revolution kann allerdings nicht über Nacht vonstattengehen kann, sondern wird Zeit in Anspruch nehmen – sehr viel Zeit, einfach weil sie ein grundsätzliches Umstellen kollektiver Handlungsmaximen und Denkschemata erfordert (und um das zu erreichen, wird es wahrscheinlich noch vieler Manifeste und Denkanstöße bedürfen). Das mag vielleicht nicht alles ganz neu sein (was, wenn man den Konvivialismus ernst nimmt, auch gar nicht sein muss – denn ist nicht auch der beständige Ruf nach Neuem in den Wissenschaften ein Ausdruck des Wachstumsdenkens?), aber es ist konzise auf den Punkt gebracht.

Kontemporalismus

Die Feststellung dürfte nicht allzu gewagt sein, dass in diesen Prozess des Umdenkens auch der Faktor Zeit mit einbezogen werden muss. Das scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam zu sein. Erstens findet das Miteinanderleben nicht nur unter Anwesenden statt, nicht nur gemeinsam mit Lebewesen und Gegenständen, mit denen wir unsere Gegenwart teilen, sondern ebenso mit den zeitlich Abwesenden. Mit Blick auf die Zukunft ist das unmittelbar einsichtig, denn gerade aus Sorge um das Leben auf (und mit) diesem Planeten in den kommenden Jahrzehnten machen sich ja solche Überlegungen wie der Konvivialismus breit, wächst seit geraumer Zeit das Bewusstsein, dass – wie es immer mit einem sonntagspredigenden Unterton heißt – wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Aber es trifft eben auch mit Blick auf die Vergangenheit zu. Das äußert sich nicht nur in ganz praktischen Aspekten wie dem Recyceln, Reparieren, Bewahren und Weiterverwenden von Dingen, die nicht allein schon deswegen weggeworfen werden müssen, weil sie ein gewisses Alter haben. Sondern das sollte sich auch äußern in einer Art und Weise, die Komplexität von Vergangenheiten ernst zu nehmen, diese Vergangenheiten nicht zu schlichten und unvollkommenen Vorläuferstadien der eigenen Gegenwart zu reduzieren, um stattdessen all die Möglichkeiten zu entdecken, die in diesen Vergangenheiten stecken und die für uns heute noch von Bedeutung sein können.  Es geht also darum, die Geschichte immer auch auf Wirklichkeiten hin zu befragen, die noch nicht realisiert worden sind oder die einst realisiert wurden, aber zwischenzeitlich dem Vergessen anheimfielen (ohne deswegen ausgelöscht worden zu sein). Ein sehr offensichtliches Beispiel ist das Verhältnis von Gemeinnutz und Eigennutz, das bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein immer wieder intensiv debattiert wurde, bevor der Eigennutz als diskursiver Sieger hervorging und der Gemeinnutz als ‚vormodern‘ und ‚traditionalistisch‘ in die Asservatenkammer verbannt werden konnte. [4]

Wohlgemerkt: In dieser Weise auf die Kontemporalität als einem Miteinander der Zeiten hinzuweisen, soll nicht auf die Allerweltsweisheit hinauslaufen, es sei alles schon einmal dagewesen. Es gilt vielmehr deutlich zu machen, dass auch die nicht verfügbaren Zeiten der Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart zusammenfallen und zur Gestaltung des Hier und Jetzt von elementarer Bedeutung sind.

Diese gegenwärtige Anwesenheit abwesender Zeiten scheint mir in einer zweiten, eher theoretischen Hinsicht noch bedeutsamer zu sein, weil sie unmittelbar das nötige Umdenken und die angesprochene kulturelle Revolution betrifft. Denn wenn man ernsthaft das Wachstumsdenken überwinden will, dann muss man unweigerlich auch das damit verbundene Zeitmodell verabschieden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Schließlich ist es die immer noch herrschende Vorstellung vom Zeitstrahl, von einer homogenen und linearen Zeit, die üblicherweise als Grundlage dafür dient, innerhalb dieser Zeit eine entsprechende Entwicklung anzunehmen. Dieser Entwicklung wird zumindest implizit ein – wenn auch nebulöses – Ziel unterstellt, das wahlweise Dekadenz und Niedergang oder eben Fortschritt und Wachstum heißen kann. Erst wenn wir lernen, Zeit anders zu denken, nämlich als Pluralität unterschiedlicher Verzeitungen, die parallel zueinander existieren, sowie als Ergebnis von praktischen Differenzierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in einer Gegenwart getroffen werden, dann wird auch ein Abschied von der Wachstumsreligion möglich, der nicht mehr als Verlust erscheint, sondern als veränderte temporale Organisation. Denn wir leben nicht in der Zeit, wir leben mit den Zeiten.

 

[1] André Breton: Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986.

[2] Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010.

[3] Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626.


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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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25. Fußball-Zeit oder Die Welt ist rund

Ins Innere des Rundenfußball

Seit Wochen schon ist der Blick fixiert auf die Kugel, in der Hoffnung, sie möge ihr Geheimnis preisgeben, sie möge Einsicht gewähren, in die Dinge, die da kommen werden, und sie möge Antwort geben auf die Frage, die alle umtreibt: Wer wird’s? Dummerweise ist die Kugel nicht aus Glas, auch nicht mehr aus Leder (selbst wenn sie etwas traditionsverbunden-metaphorisch immer noch so bezeichnet wird), sondern aus irgendeiner hochgezüchteten Kunststoffmischung, zu deren Entwicklung wahrscheinlich Summen aufgewendet wurden, für die man mancherorts ganze staatliche Sozialversorgungssysteme aufpäppeln könnte. Die Welt starrt auf den Fußball und versucht das Unmögliche, nämlich in die Zukunft zu blicken, um heute schon zu wissen, was morgen passieren wird und welche Mannschaft in einigen Wochen den Pokal in die Höhe heben darf. (Nur nebenbei: Warum ist es eigentlich nicht möglich, einmal einen ästhetisch ansprechenden Pokal zu entwerfen? Warum immer diese hässlichen Dinger? Die Fußball-WM-Statue ist noch nicht einmal das Schlimmste: Man sehe sich nur einmal den Pokal der Handball-Champions-League an. Sieht aus wie die Resteverwertung einer Zombie-Amputation.)

Eine nicht ganz unwesentliche Schwierigkeit besteht ja darin, dass hier etwas recht Einfaches und etwas recht Kompliziertes aufeinandertreffen. Während die Regeln des Fußballspiels im Prinzip noch einigermaßen überschaubar sind, macht der hohe Kontingenzfaktor (Physis und Psyche der Spieler, Taktik, Schiedsrichter, Publikum, Wetter …) schon die Prognose eines jeden Spiels zu einer unsicheren Angelegenheit, von der Vorhersage eines ganzen Turniers ganz zu schweigen. Da aber in allen Medien wesentlich mehr Zeit dafür aufgewendet wird, über den Fußball zu reden und zu schreiben als ihn tatsächlich spielen zu lassen, ergeht sich derzeit die halbe Welt in Prognosen, Spekulationen und Prophezeiungen. Da alle wesentlichen Erkenntnisse zum Fußballspiel bereits vom ehemaligen Reichs- beziehungsweise Bundestrainer Sepp Herberger formuliert worden sind, kann man sich seither entweder in hochspezialisierten Diskussionen oder in der Reproduktion von Leerformeln ergehen.

Die Dauer des Spiels

Nun verrät die Art und Weise, wie im Fußball mit Zeit umgegangen wird, einiges über das allgemeine kulturelle Verständnis von Zeit. Wie wird mit Hoffnungen und Ängsten, mit harten Fakten und vagen Vermutungen in einer Umgebung umgegangen, bei der die Anzahl der gesellschaftlichen Spielregeln sich noch einigermaßen überschauen lässt, bei der die soziale Praxis aber so viele Variationsmöglichkeiten bietet, dass der Verlauf hinreichend unsicher und damit hinreichend spannend bleibt? Beim Fußball und insbesondere bei der von einem mafiösen Männerbund organisierten Fußballweltmeisterschaft kann man Kulturen wie in einer Laborsituation dabei zusehen, wie sie sich temporal zu organisieren versuchen – und wie vielfältig die zur Verfügung stehenden Temporalitäten sind.

Das Prognostizieren wird unversehens zu einem Massenphänomen. Millionen von Menschen versuchen sich in der Vorhersage eines ausschnitthaften Geschehens für die kommenden vier Wochen, Tippgemeinschaften schießen wie Pilze aus dem Boden, Geld wird in Wettbüros investiert. Wissenschaft und Technik stehen dabei nicht an der Seitenlinie, sondern formieren die Schaltzentale im Mittelfeld. Die Intuition, der die meisten Fußballfans folgen würden, nämlich die Qualität und die bisherigen Erfolge der Mannschaften unter die Lupe zu nehmen, wird hierbei weitestgehend systematisiert. Alle nur denkbaren Faktoren werden in mehr oder minder komplexe Software-Programme eingespeist: Fifa-Weltranglistenplatz, Spielerdaten, Marktwert des Teams, bisherige Spiele gegen die jeweiligen Gegner, undsoweiter undsofort. Auf dieser Basis kann man Hochleistungsrechner dann beispielsweise alle möglichen Spiele des Turniers einige tausend Mal durchexerzieren lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das die Kinder aus der Grundschule um die Ecke auch ohne diesen Aufwand schon kannten: dass nämlich entweder Brasilien oder Spanien oder Argentinien oder Deutschland Weltmeister wird. Oder auch nicht.

Hier feiert er also fröhliche Urständ, der alte Grundsatz der historia magistra vitae, wonach man aus der Lehren der Vergangenheit ohne Schaden klug werden kann, um in der Gegenwart das Richtige zu tun. Allerdings wird dieser Grundsatz zur Perfektion getrieben, weil es ja nicht nur um allgemeine Handlungsanweisungen geht, sondern um historische Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn durch die Computersimulation nicht endgültige, sondern nur wahrscheinliche Sicherheiten prognostiziert werden, operiert dieses Vorgehen trotzdem nomothetisch. Man könnte also von vornherein nur diese vier Mannschaften zu einer dreitägigen Veranstaltung einladen, um unter ihnen den Titel ausspielen zu lassen. Aus irgendeinem Grund verzichtet die Fifa aber auf diese Variante …

Zugleich weiß jeder, dass solche Gesetzmäßigkeiten nichts wert sind. Denn wenn sie tatsächlich zuträfen, hätte Spanien beispielsweise nie irgendeinen Pokal gewinnen dürfen – weil sie über Jahrzehnte hinweg nie irgendetwas gewonnen haben, ergo in solchen Berechnungsmodellen auch nie auftauchten. Bis 2008. Und da kommt die zweite Form semi-rationaler/semi-magischer Zukunftsberechnungen – wortwörtlich – „ins Spiel“, nämlich die Banalstatistik, in der Fußballsprache auch „Serie“ genannt. Aus solchen Serien werden zumindest implizit gesetzmäßige Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. Wenn ein Team 13-mal nicht verloren hat, bei sieben Turnieren hintereinander nie über das Achtelfinale hinausgekommen ist, immer als Favorit gehandelt wurde, aber nie geliefert hat, dann … Ja, was dann? Kann man irgendwelche Rückschlüsse daraus ziehen? Vielleicht diejenige, dass eine solche Serie und die damit einhergehende Regel genauso lange Gültigkeit besitzt, bis sie unterbrochen wird, damit eine andere Serie beginnen kann.

Der nächste Gegner

Auf einer noch wackligeren Datenbasis steht die Prognose, die man insbesondere in Deutschland immer wieder mal hören kann, dass man nämlich „jetzt mal wieder dran“ sei. Dahinter steht die angenommene Gesetzmäßigkeit, dass die deutsche Nationalmannschaft in einem gewissen Rhythmus einen internationalen Titel zu gewinnen habe und dass das nächste Intervall dieser Rhythmisierung nun schon überfällig sei. Damit verbinden sich nicht selten bestimmte Ideen von historischen Verlaufsmodellen, die sich im Prinzip nicht sehr von religiösen Geschichtsmodellierungen entfernt haben. Bestimmte Länder oder Städte wähnen „ihre“ Mannschaft beispielsweise auf einer göttlichen Mission, die unweigerlich im sportlichen Himmelreich enden müsse. Für die Anhänger des 1. FC Köln kann es beispielsweise immer nur nach oben gehen. Kaum ist der Aufstieg in die 1. Liga geschafft, wartet dort auch schon Meisterschale. Und selbst der nächste Abstieg wird unweigerlich als Zeichen gedeutet, dass es jetzt ja nur noch aufwärts gehen und der nächste Triumph nicht mehr fern sein könne. Fußballgeschichte als Heilsgeschichte – mit einem unweigerlich positiven Ausgang. Besonnene Gemüter (und gebürtige Düsseldorfer) müssen da zuweilen zur Ruhe mahnen. Das Gegenbeispiel wäre die portugiesische Nationalmannschaft, deren Auftreten regelmäßig mit dem Fado in Verbindung gebracht wird: schönes Spiel mit traurigem Ausgang. Portugal hat es sogar geschafft, mit einer hervorragenden Mannschaft im eigenen Land 2004 das Endspiel zu verlieren – gegen Griechenland! Und zwar nachdem man schon das Eröffnungsspiel verloren hat – gegen Griechenland! Wer wollte da noch am Wirken höherer Mächte zweifeln?

Niemand! Weshalb man am besten gleich versuchen sollte, sich auf die Seite dieser Mächte zu stellen. Denn mindestens ebenso populär und ernst genommen wie hochgezüchtete und hochtechnisierte Computerberechnungsmodelle sind die mehr oder minder magischen Formen der Zukunftsvorhersage. Zu internationalem Ruhm ist Krake Paul gelangt, der mit schlafwandlerischer Sicherheit die Spiele der Weltmeisterschaft 2010 „vorhergesagt“ hat – selbst wenn nüchterne Beobachter den Eindruck haben konnten, dass er einfach nur hungrig war. Inzwischen verfügt gefühlt jeder zweite Zoo beziehungsweise Tierbesitzer über ein Lebewesen mit entsprechenden seherischen Gaben. Elche, Gürteltiere, Pinguine, Möpse und, man höre und staune, sogar Kraken kommen allenthalben zum Einsatz. Das soll irgendwie witzig sein, auch wenn es gerade so komisch ist wie ein Scherz, der zum tausendsten Mal wiederholt wird. Selbst die Deutsche Bahn ist auf dieses Geschäftsmodell eingestiegen und preist irgendwelche Bahncards an, bei denen man den künftigen Weltmeister orakeln darf.

Auf welche überirdischen Mächte diese Orakel sich verlassen (vielleicht auf den Fußballgott?), ist in diesen semi-säkularisierten Zeiten nicht ganz sicher. Zumindest befleißigen sie sich anders als die Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht des Rückbezugs auf vergangene Zeiten. Der Ort der magischen Weisheit liegt im nebligen Irgendwo. Vielleicht auch nur in der Magengrube eines Tieres. Und selbst wenn man am Ende des Tages feststellen sollte, dass Magier und Rationalisten sowohl ein paar Treffer gelandet haben als auch mal wieder ganz ordentlich daneben lagen, dann bleiben vielleicht doch noch ein paar Einsichten zurück: dass wir uns aus Gründen der temporalen Orientierung irgendwie zu den ungreifbaren Zeiten namens Vergangenheit und Zukunft verhalten müssen; dass diese Formen der Verzeitung nicht nur variantenreich sind, sondern vor allem einigen Aufschluss über die verzeitenden Kulturen geben; und dass wir zwar nicht mehr aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können, dass wir aber auch nichts anderes haben als die Vergangenheit, von dem wir lernen können.

Und damit ist in puncto Weltmeisterschaft eigentlich mehr oder minder klar, was passieren wird. Einer der Favoriten wird Weltmeister. Oder einer der sogenannten Geheimfavoriten macht es, die so geheim sind, dass alle ihre Namen kennen. Es sei denn natürlich, die Kontingenz des Historischen schlägt mal wieder gnadenlos zu, und alles kommt anders als alle sich das vorher ausgedacht haben. Soll schon vorgekommen sein, siehe Griechenland gegen Portugal oder die dänische Europameisterschaft 1992. Aber auch dafür gibt es dann ja wieder historische Gesetzmäßigkeiten, die man anführen kann: Zufall! Unglaublich! Wahnsinn!


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/06/21/25-fusball-zeit-oder-die-welt-ist-rund/

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