21. Auf einen Espresso mit Lucius Arrianus (Über das Bloggen)

Phi: Herr Arrianus, sie gelten gemeinhin als der Erfinder des Bloggens. Auch heute diskutiert man noch darüber, ob es sinnvoll ist, komplizierte, wissenschaftliche Inhalte in gekürzter und teilweise verfälschter Form in die Öffentlichkeit zu tragen. Schadet das Bloggen nicht eigentlich der Wissenschaft?

Arrianus: Zunächst einmal ist allen Lesern klar, dass wissenschaftliches Bloggen nicht gleich wissenschaftliches Bloggen ist. Man verweist mit dieser Bezeichung einmal auf die Präsentationsform, andererseits aber auch eine bestimmte Art der Inhalte. Wir reden nun aber hauptsächlich über die Inhalte. - Offenbar unterscheiden sich aber auch diese so stark von einander, dass sie eigentlich keine gemeinsame Gattung bilden können. Manche Blogs beinhalten die Ergebnisse von Forschung, die man auch in „peer-reviewten“ Fachzeitschriften finden könnte, andere sind starke Vereinfachungen verschiedenster Thesen. Wenn Blogs kritisiert werden, meint man offenbar die vereinfachenden Texten. Man hat Angst, dass diese Form die Qualität der anderen Blogs und langfristig auch des ganzen wissenschaftlichen "Outputs" mindert. Und das alles passiert, weil man alle als eine gemeinsame Gattung versteht.

Phi: Schaden die „einfachen“ Blogs also der Wissenschaft?

Arrianus: Man könnte dieselbe Frage an Schulbücher der Klasse 5 stellen. Schaden sie der Wissenschaft, weil die komplizierte Inhalte auf ein einfacheres Maß hinunter brechen? Klarerweise nein. Die Klasse „einfacher“ Blogs hat verschiedene Zwecke: Sie (wie ein kluger Lehrer aus der Nähe von Colonia Claudia Ara Agrippinensium sagte) nehmen erstens die Distanz zum jeweiligen Fach. Wer keine Zeit hat, einen Satz von Hegel zu Ende zu lesen – wie die meisten Menschen – wird nach der Lektüre einer Vereinfachung ein Bild von dem haben, was er da so dahinargumentiert und sehen, dass es gar nicht nötig war, es zu Ende zu lesen. Und wer die Beschäftigung mit antiker Philosophie infrage stellt, weil er von Hegel beeinflusst ist und denkt, wir seien heute viel weiter, kann einen Blick in das Fach werfen und sehen, was dort so passiert.

Phi: Sie denken also, dass der Nutzen überwiegt?

Arrianus: Es kommt drauf an. Die Schreibenden haben offensichtlich den Nutzen, dass sie beispielsweise während der Promotion, die zu 4/5 aus Lesen besteht, ihre Schreibtätigkeit nicht verstauben lassen müssen. Den Lesenden wird, wie gesagt, die Distanz zum vorgestellten Projekt oder Fach genommen. Und Interessierten wird außerdem die Möglichkeit geboten, einmal hineinzuschauen, was denn dort so passiert. Ich würde deshalb eine Unterteilung vorschlagen, die die Spannung aus der Diskussion etwas hinaus nimmt: Man könnte einerseits wissenschaftliche Blogs, die wissenschaftliche Ergebnisse mit vollständiger Begründung und Integration in den Forschungszusammenhang präsentieren, und andererseits wissenschaftsaffine Blogs, die eher der Darstellung der eigenen Wissenschaft dienen und mit Unterhaltung gepaart sind, wie Ihr Blog hier, unterscheiden.

Phi: Sie finden philophiso unterhaltsam?

Arrianus: Müsste ich eine Bewertung schreiben, würde ich mich für die Formulierung „Sie haben sich stets bemüht“ entscheiden.

Phi:...

Arrianus: Obwohl Wissenschaft durch das Zugucken nicht besser wird, dürfen Sie die Wirkung schön und einfach präsentierter Inhalte für Nicht-Spezialistinnen und Spezialisten nicht unterschätzen. Meine Lehrgespräche und das Handbüchlein sind der Gattung „Protreptikos“ zuzuordnen. Selbst Aristoteles, wie auch unzählige andere, haben solche Protreptiken geschrieben, um Werbung zu machen, oder die Neugierde ihrer Mitbürger zu wecken. Wissenschaft wurde außerdem selten argumentationslos vom Staat finanziert. Eigentlich nur kurz in Rom, Konstantinopel und eben heute wieder. Im geschichtlichen Zusammenhang ist das eine wundervolle Ausnahmeerscheinung. Unterschätzen Sie also nie das Bild, das von Ihrem Fach oder Projekt ausgeht.

Phi: Es geht also auch um Akzeptanz in der Gesellschaft?

Arrianus: Offensichtlich. Und besonders für Inhalte, die keinen materiellen Nutzen produzieren, sowie um die Befriedigung der Neugier, die – wie schon Aristoteles sagt – uns allen innewohnt.

Phi: Was meinen Sie genau damit „keinen materiellen Nutzen“ zu haben?

Arrianus: Beispielsweise der alte Topos, sich selbst kennen zu lernen (Γνῶθι σεαυτόν). – Jedenfalls beinhaltet ein wissenschaftsaffiner Blog natürlich nicht unbedingt die wissenschaftliche Meinung des Autors, sondern ähnelt den französischen Essays, den Versuchen, etwas über ein Thema zu schreiben ohne finale Recherche.

Phi: Wieso sind wisseschaftsaffine Blogs oder Essays oder ein "Protreptikos" nicht dazu in der Lage?

Arranus: Weil Wissen wahre Meinung mit Begründung is, wie schon Platon es definierte. Die Begründung einer wissenschaftlichen Meinung werden Sie ausreichend aber nur in langen Auseinandersetzungen finden können, die für Nicht-Spezialisten aber häufig langweilig und unverständlich sind, wie die Quantentheorie.

Phi: Sie vergleichen die Quantentheorie mit der Philosophie?

Arrianus: Sicher. Was wissen wir heute in der Öffenltichkeit als Nicht-Spezialisten von der Quantentheorie? Erstens, dass sie sehr fortschrittlich ist, obwohl sie seit fast 100 Jahren auf dem Markt ist, zweitens, dass wir dadurch heute Laser haben, drittens, dass man nie genau wissen kann, wo ein Teilchen ist und viertens, dass der Mikrokosmos wahnsinnig mysteriös und deshalb spannend ist. All das ist absolut gefährliches Halbwissen, das uns aber durch verkürzende Artikel in Zeitschriften und allerlei Dokus unterhaltsam präsentiert wurde. Dennoch weiß ich lieber so wenig darüber, als nichts darüber zu wissen. Lieber lasse ich meine Phantasie durch diese leckeren Krümel beflügeln, als zum 100. Mal auf meinem Handy, ich meine, meinem Smart Phone die Uhrzeit zu prüfen. Ich danke allen, die einen Protreptikos geschrieben haben, wie Hawkins in seiner kurzen Geschichte der Zeit. Eigentlich brauchen wir mehr davon.

Phi: Herr Arrianus, danke für das Gespräch.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/419

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22. Richtige und falsche Theorie

Willkommen im neuen Jahr. Ich habe Sie bereits erwartet. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg bei Ihrer Promotion oder Ihrer "gleichwertigen Tätigkeit". Dieselben Worte würde ich gerne auch an meine steinernen Vorbilder richten, aber sie scheinen mich aus irgendeinem Grund zu meiden, fixieren lieber völlig zufällig einen Punkt in der Ferne, als meinen geneigten jahresanfänglichen Blick zu erwidern. Wahrscheinlich haben sie wieder einen Detektivclub gegründet, oder ähnliches. Wissen Sie, oder aber es liegt an diesem Blog hier. Aber das ist mir gleich, denn ich habe sehr gute Gründe dafür, ihn zu schreiben. Theoretisch. Ich erzähle Ihnen gerne bald mehr über meine Beweggründe, möchte aber rhababer gerade lieber biber noch einmal auf eines der Vorurteile gegen Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler eingehen, die so in den Kaffeehäusern der politikafinen Bonvivants kursieren: Die Mär von der Theorieversessenheit.

Sie, liebe Leser, haben nämlich einmal mehr, als Sie an Ihren Theorien gefeilt haben, den Bezug zu Wirklichkeit verloren. Denn was Sie tun, "ha, ja, in der Theorie mag das ja stimmen" aber "in Echt" sieht das nochmal ganz anders aus.

Woher kommt so ein Spruch? Ich sage es Ihnen: Theorie oder Theoretiker zu sein, bedeutet ja mindestens vier verschiedene Dinge. Nur eines davon trifft diese Kritik.

Erstens bedeutet Theorie ja, ein Konzept zu erarbeiten. Eine Maschine oder der Masterplan wird zunächst theoretisch konstruiert und muss sich dann in der Realität bewähren und anhand der realen Bedingungen nachjustiert werden. Sollten Geisteswissenschaftler diese Art der Theorie betreiben, wäre es schlecht um uns bestellt. Man könnte unsere Fächer auch Besserwisserschaften nennen, da sie ein reines Konstrukt des Gutdünkens wären, ohne irgendeine Absicht der weiteren Prüfung an der Wirklichkeit. Zug an der Zigarette: "Ich studiere Besserwisserei. Und wenn alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, möchte ich in die Forschung".

Zweitens bedeutet Theorie Abstraktion. Sie sehen etwas, oder sammeln ganz viele empirische Daten zu etwas und formulieren eine Theorie, wieso das so oder so sei. Weil die Daten so umfassend sind, picken Sie sich aber nur einige Elemente heraus und arbeiten damit. Theorie ist hier eine Verengung der Realität. auch als Wissenschaftler mit langjähriger Erfahrung soziologischer Sachverhalte, werden Sie auf Menschen treffen, die die sozialen Mechanismen besser durchdringen und verwenden können als Sie, ohne dass diese Leute aber genau sagen können, warum das so sei. Die Theorie zu kennen, bringt dann z. B. keine persönlichen Vorteile (worum es aber natürlich auch nicht geht).

Drittens bedeutet Theorie aber auch etwas ganz besonderes: Der Umgang mit Dingen, die eine ganz eigene Daseinsform haben. Was ich damit meine? Folgendes: Die Theorie dessen, was Irrationale Zahlen sind, kann nicht anhand einer empirischen Realität geschärft werden (sondern nur dessen Anschaulichkeit). Dasselbe gilt für viele Sachverhalte und Entitäten wie: Die Prinzipien der klassischen Logik (z. B. des Satzes des ausgeschlossenen Widerspruchs), die Definition von Wahrheit (Identität), das Sein, die Bewegung, der Stillstand oder das, was Einheit ist, etc.

Viertens bedeutet Theorie, eine Sache wahrheitsgemäß zu verstehen.
All diesen Arten von Theorien vorzuwerfen, sie seien nicht wirklichkeitstauglich, ist natürlich lächerlich. Die genannte Kritik trifft in erster Linie die erste Theorie als Konzept. Damit haben wir aber herzlich wenig zu tun. So. Und jetzt?

Und jetzt nichts. Außer dass sie mir gerne sagen können, auf welche weiteren Sachverhalte diese dritte Art der Theorie Anwendung findet, denn das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Auf ethische Prinzipien? Gibt es diese und wenn ja in welcher Form? - Jedenfalls: Dieser Theorie ist es eigen, keinen weiteren Zweck zu verfolgen, als die Erkenntnis ihrer selbst. Ok? Ok.

Interessant wäre es jetzt natürlich zu sehen, zu welcher der drei Bedeutungen von Theorie dieser Eintrag gehört.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche aus der Zukunft.

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/414

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Alltagslebenstauglichkeit von Philosophen (2/2)

Ja, Sie lachen! Aber das sollten Sie gerade nicht! Sie sind ja sicher ebenfalls davon betroffen. Als Sozialwissenschaftler oder (besonders) als Historiker sind Sie nämlich ebenso untauglich für ein gutes Alltagsleben wie wir Philosophen! Als Geisteswissenschaftler allgemein sind Sie nämlich verkopft und haben den Sinn für die Lebenswirklichkeit verloren. Ja! Ihre Vorbilder sind entweder in Löcher gefallen, als sie in den Himmel starrten (Thales, ca. 580 v. Chr.), sprangen in einen Vulkan (Empedokles, 435 v. Chr.) oder wurden nach einem kurzen Auftritt vor dem Gericht zum Tode verurteilt (Sokrates, 399 v. Chr.). Alles Hinweise also darauf, dass Sie kein Händchen für die Lebenswirklichkeit haben. Genau, und deshalb ziehen Sie sich meist in Unis zurück und runzeln so häufig es geht die Stirn. Mit voller oder leerer Kaffekanne, aber ohne Ahnung von dem, was in der Wirklichkeit abgeht.

Und woran liegt das? Liegt es vielleicht daran, dass Ihnen der Sinn für das Praktische fehlt? Sind Sie vielleicht faul? Möchten Sie sich vielleicht die Hände nicht dreckig machen? Versuchen Sie, die Welt zu zwingen, sich nach Ihren Theorien zu verhalten, ohne Erfolg dabei zu haben?

So einfach ist das nicht. Nein, nein. Denn erstens gehörte Thales als erster Philosoph oder Vorsokratiker einer Strömung an, die Prinzipien des Seins und kosmologische Erkenntnisse suchten (die Geschichte mit den Ölpressen mag erfunden sein). Ebenso verhielt es sich bei Empedokles. Sokrates hingegen war dem nach zu urteilen, was Platon schreibt, ein sozial äußerst kompetenter Mensch. Er verkehrte ungezwungen in höchsten Kreisen, trug zwar keine Schuhe (obwohl sein bester Freund Schuhmacher war) und wusste nicht, wie der Prozess der Abstimmung im Rat funktionierte, aber er verstand es mithilfe seiner Seelenkenntnis, seine Gesprächspartner zu locken, zu ärgern, aufzuregen, und am wichtigsten: den Weg zur Erkenntnis zu bereiten. Die Dialoge zeigen unglaubliche Menschenkenntnis, Feingefühl und taktische Klugheit im Gespräch. Er verwendete sein Geschick nicht für den eigenen Vorteil, sondern für den der anderen, wendete sie um und zeigt Ihnen das Wahre und das Gute. Welche bessere Handlung gibt es als diese?

„Ja, aber die wichtigen Dinge, die die Welt am Laufen halten, konnte er nicht und wollte sie nicht können!“

Stimmt nicht: Die Dialoge haben sich nicht selbst geschrieben, die Schärfung der Theorien nicht selbst geschärft, die allen Menschen zugänglichen Forschungsergebnisse nicht selbst ergeben. Und wer mehrere Bücher konzipieren, schreiben, redigieren und veröffentlichen kann, hätte sicher auch reich und berühmt werden können, wenn er oder wenn sie diesen Weg eingeschlagen hätten. Dagegen haben Sie sich dazu entschieden, die Welt zu entdecken, ohne an einen weiteren persönlichen Nutzen zu denken als an diesen selbst.

Mehr Selbstvertrauen also bitte.

Genau. Danke.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/410

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24. Alltagslebenstauglichkeit von Philosophen (1/2)

Ich wurde neulich mit einer interessanten Ansicht konfrontiert, die mich zum Nachdenken angeregt hat: Kurz nachdem ich mir meinen Montagsfrack angezogen habe und kurz bevor ich bemerkte, dass ich vergessen hatte, Schuhe dazu anzuziehen, geriet ich in eine Meinungsverschiedenheit über den Besitzanspruch eines Sackes Kartoffeln am Markt. Jemand riet mir dort im Handgemenge, ich solle die Situation doch nicht gänzlich aufgrund meiner moralischen Standards bewerten. Denn diese wären naturgemäß (so die Implikation) für jemanden der sich mit Philosophie beschäftige, sehr hoch, vielleicht sogar ideal und deshalb zu hoch, zu lebensfern (wie mein Scheitel an jenem unheivollen Tag).

Denkwürdig ist dieser Rat aber allemal: Erstens enthält er nämlich die Meinung, dass Philosophen gerade nicht die Realität im Auge haben, sondern ein von der Realität losgelöstes Konzept untersuchen. Dieses Konzept würde dann über die nicht-ideale Lebenswirklichkeit gestülpt und passe deshalb nur bedingt. Philosophie sei also weltfremd. - Aber wenn dies der Fall wäre, dann müsste man auf eine andere, nicht-philosophische Meinung rekurrieren, welche vermeintlich näher an der Realität dran wäre. Das hätte die paradoxe Konsequenz zur Folge, dass eine Person, die sich weniger mit der Theorie der Moral beschäftigte, eine bessere moralische Bewertung vornehmen könnte als eine Person, die sich viel damit beschäftigte (ja, Vergangenheit, nicht Konjunktiv). Derselbe Vorwurf scheint bei Juristen bezüglich Rechtsstreitigkeiten, Betriebswirtschaftswissenschaftlern bezüglich betriebswirtschaftlicher Fragen oder Biologen bezüglich anderer Biologen unplausibel, warum also anders bei der Philosophie? "Ja, genau, warum?". Wir sollten tatsächlich immer die Realität, die Wahrheit im Auge haben und kein dünnes Abbild der Wirklichkeit, das in seiner Gültigkeit reduziert ist.

Zweitens denke ich aber tatsächlich nicht, dass Philosophen selbst grundsätzlich moralisch besser dastehen als Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Biologen. „Warum?“ Naja, es gibt viele Gründe: Beispielsweise ist die Bewertung einer Situation im Nachhinein eine ganz andere Sache als die Anwendung der Theorie auf die eigene Handlungsmotivation (Stichwort: Fußball). „Warum?“ Ist doch klar: Solange der Unterschied zwischen einer moralischen und einer amoralischen Handlung im Bruchteil einer Sekunde getroffen wird, während der also keine Zeit zum Abwägen und Durchdenken ist, müsste Ihr moralisches Reflexsystem bereits so gut geschult sein, dass es im Notfall auch ohne langes Nachdenken funktionieren kann. Wie häufig moralische Reflexe zur Anwendung kommen (, ob es sie gibt, was der Unterschied zur plötzlichen Erkenntnis) und wie häufig Zeit zum Denken ist, kann ich Ihnen leider nicht genau sagen.

Selbst wenn aber Aristoteles aus Menschen keine hirnlosen Tugendmaschinen machen wollte, sagte er dennoch zurecht, dass der gute Mensch das Gute gerne tut. Er hat Lust am Guten. Wenn sich Ihnen also der Magen verdreht, wenn Sie eher jemanden vor dem Ertrinken retten sollen, als Ihren Scheitel bei Coiffeur nachziehen zu lassen, sind Sie nach Aristoteles noch nicht tugendhaft.

„Wenn sonach die Tugend zweifach ist, eine Verstandestugend und eine sittliche Tugend, so entsteht und wächst die erstere hauptsächlich durch Belehrung und bedarf deshalb der Erfahrung und der Zeit; die sittliche dagegen wird uns zuteil durch Gewöhnung [...].“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch II, Kapitel 1).

Jetzt wollen Sie sicher wissen, wie die Geschichte mit dem Kartoffelsack ausgegangen ist. Ich sage es Ihnen: Als ich mich kurz bückte, um meine Schnürsenkel zuzubinden, da es mir an den Füßen kalt zu sein schien, zog mein Gegner mir einen passenden Scheitel mit seiner Handkante, nahm den Kartoffelsack weg und bestellte schöne Grüße aus dem Naturzustand.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/384

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25. Vier Fragen in einem Seminar

Endlich hat das Semester wieder begonnen. Die gescheitelten Turnisterträger aus der Nachbarsfakultät halten die Türen auf und der Kaffee aus den 90-Cent Kaffeeautomaten ist endlich wieder dünn wie auf einer Konferenz. Mir scheinen auch unsere Büsten im Seminarraum ein schadenfreudiges Grinsen aufgesetzt zu haben, weil sie den merkwurdigen Genuss von Fremdscham für die kommenden Referate und Hausarbeiten antizipieren. Und mich würde es auch nicht wundern, wenn Sokrates eine weiße Lakritze zwischen die Kreiden unter der Tafel gemischt hätte.

Endlich ist es also wieder an der Zeit, die passiven Kenntnisse aus der vorlesungsfreien Zeit in interessante Gespräche einzubringen und auf Standfestigkeit prüfen zu lassen. Unsere steinernen Vorbilder müssen sich, wie wir an ihren Scherzen und ihren gegenseitigen Streichen ja sehen können, im Gegensatz zu uns nicht mehr beweisen. Wir aber, und damit meine ich auch Sie, wenn Sie an einem Oberseminar teilnehmen, müssen sich irgendwie einbringen. Schließlich lebt das Seminar im Gegensatz zu der Vorlesung ja von Ihren Beiträgen. Und Ihre Noten leben wiederum von der Qualität Ihrer Beiträge (Lebensursache: Qualität. Aristoteles würde mich mit dem Tablet ohrfeigen.)

Ich glaube aber, dass nicht jeder Seminarbeitrag des Teilnehmenden eines Seminars an denselben Standards gemessen werden darf. Studis der höheren Semester können ja gar nicht dasselbe Wissen wie Büsten haben. Mir jedenfalls sind vier verschiedene Beitragsarten aufgefallen, vielleicht fünf, die immer wiederkehren:

1. Die spitzfindige Frage: Die spitzfindige Frage beweist, dass der Teilnehmende das Thema nur oberflächlich oder gar nicht bearbeitet hat, dass er aber mit einer “Flucht nach vorne” darüber hinwegtäuschen möchte. Solche Fragen beschränken sich auf oberflächliche Widersprüche, die sich aus dem jeweiligen Vortrag ergeben. Dies sind meine Lieblingsfragen.

2. Die Verständnisfrage: Mit einer solchen Frage zeigen Sie, dass Sie sich Gedanken gemacht haben und auf der Suche nach der Wahrheit sind. Verständnisfragen zeigen außerdem, dass Sie sich vorbereitet haben und Sie nicht mehr ganz am Anfang stehen, sondern Sie aufgrund Ihrer Kemntnisse bereits so viel Selbstbewusstsein haben, dass Sie dem ehrenwerten Redner öffentlich unterstellen können, etwas nicht absolut klar ausgedrükt zu haben. Wenn sie etwas Anstand haben, formulieren Sie Ihre Frage defensiv “ich habe nicht genau verstanden” oder “war nicht gänzlich aufmerksam”. Alle anderen werden es verstehen: Der Redner hat’s vermasselt.

3. Die Spiegelfrage: Die Spiegelfrage reflektiert das Vorgetragene a) an anderen Publikationen über das Thema aus der Sekundärliteratur oder aber b) an anderen Schrifen desjenigen Autors, der zur Debatte steht. Wenn Sie eine Spiegelfrage stellen, zeichnen Sie sich als kompetente Person aus. Als Doktorand sollte man diese Art von Fragen stellen. Tun Sie dies nicht, so wie ich, haben Sie noch einen langen Weg vor sich und Ihre Formalidentität als Doktorand verdeckt Ihren igentlichen “Ersti”-Studentenstatus. Gehören Sie zu denjenigen Studierenden, die sich mit dem Argument selbst belügen, man könne sich nicht in jedem Thema so auskennen, dass man Spiegelfragenstellen kann, gilt das fiese Grinsen unserer Büsten auch Ihrer kommenden Disputatio.

4. Dihairetische Fragen: Solche Fragen müssen nicht unbedingt eine platonische Geburtshilfe beinhalten. Ihnen ist aber charakteristisch, dass Sie bereits eine eigene Foschungsmeinung zu dem Thema entwickelt haben und Sie Ihre Position (häufig) gegen diejenige des Referenten ins Feld führen und mit eigenen Fragen und Darstellungen Ihre Überzeugung verteidigen. Solche Fragen sind die Crème de la Crème (wie man im Espressojargon sagen würde) des Seminars und erfordern langjährige Erfahrung.

Habe ich etwas vergessen?

Grüße, D.

 

 

 

 

 

 

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/373

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26. Durchsetzungsfähigkeit und Macht

Wissen Sie, wer sich durchsetzt, gilt als klug, gewandt, schlau, wertvoll. Denn diese Person hat es geschafft, ihr Interesse vor das Interesse der anderen zu stellen. Und im direkten Vergleich hat sie dann natürlich gewonnen. Klar, denn das Leben ist immer eine Olympiade. Kalkulieren, durchsetzen und wenn es sein muss, auch ein wenig intrigant sein, dann hat man verstanden, worauf es im Leben ankommt: Macht und Durchsetzungsfähigkeit. Max Weber definiert Macht so: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (WuG §16).

Wenn Sie ein blinder Riese sind, dann sind sie auch mächtig, aber sie werden dennoch bei jedem Wutanfall Ihre Küche in Stücke hauen, oder Odysseus entwischen lassen. Das ist schlecht, weil Sie Niemanden nirgendwo kochen werden können. Aber auch andersherum, also dort, wo nicht Kraft gefragt ist, sondern List, verlieren Sie häufig trotz Ihrer Macht: Der Inbegriff der listigen Person ist Sisyphos. Mit seiner ruchlosen Trickserei und „Intrigerei“ brachte er es es sogar fertig, einige Male den Tod zu überlisten. Er galt als der verschlagenste aller Menschen. Und auch das ist eine Form von Macht, die natürlich nichts mit Stärke und Gehorsam von Untergebenen zu tun hat, sondern sich in den kleinen Köpfen vieler Sisyphosse abspielt, die ihre Interessen, ohne die Fähigkeiten des Riesen zu haben, durchsetzen wollen. Würden Sie sich mit einem der beiden Exempel identifizieren wollen (wenn ich sie positiv dargestellt hätte)? Schwer zu entscheiden, oder?

Naja, Platons Zugang zu dem Problem ist klar und überraschend zugleich: Im Dialog Gorgias des Sokrates findet sich die denkwürdige Aussage, es sei besser Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Selbst also wenn man mächtig genug wäre, sich zwischen beiden entscheiden zu können, sollte man lieber Unrecht erleiden wollen. Auch im Mythos des Er am Ende des Dialogs sehen wir außerdem den Odysseus, den Schlauesten aller Menschen, wie er sich sein nächstes Leben kurz vor der Wiedergeburt auswählt: Nach langem Überlegen entscheidet er sich gegen das Leben eines Königs und Tyrannen und für das Leben eines Privatmannes. Auch interessant, oder?

Was hat es also mit diesem Bedenken gegen Durchsetzungsfähigkeit und Macht auf sich? Damit kommen wir wieder bei den Interessen an: Wer seine Talente ausgeprägt hat, wer gelernt hat, mit sich auszukommen und mit sich selbst im Reinen zu sein, hat bereits eines der größten Güter erlangt, die es gibt. Sie denken, das sei Quatsch? Hokuspokus? Nein, schauen Sie, es läuft doch alles auf das selbe hinaus: Wenn Sie Geld machen, dann denken Sie auch an Sorglosigkeit, Befriedigung von Lüsten und die Unabhängigkeit, die daraus resultiert, oder? Mit dem Geld werden Sie diese Ziele jedoch nie gänzlich erreichen, da es immer abhängig von der Geldabwertung, der Zentralbank, der Inflation und so weiter sein wird. Besser wäre da gesellschaftliches Ansehen zu erlangen. Ein guter Job bei einer internationalen Organisation, ein schicker Botschafterposten stärkt Ihre Position in der Gesellschaft und gibt Ihnen Selbstvertrauen und Souveränität. Aber auch hier werden Sie immer von einem Vorgesetzten abhängig sein, von politischen Umwürfen und der Presse. Alles Dinge, auf die Sie nicht weiter zugreifen können. Bleibt also die Frage nach dem, was die reine Selbstgenügsamkeit ist, die unabhängig von solch variablen äußeren Gütern bestehen bleibt. Diese besonders schwere Form der Autarkie muss in erster Linie unmittelbar von Ihnen selbst abhängen, von dem, auf das Sie vollen Zugriff haben, Ihre innere Einstellung. Sollten Sie so weit sein (ich bin es z. B. sicher noch nicht) und eine solche autarke Einstellung erlangt haben, dann werden Sie selbst in einer besonders mächtigen Position Ihre Aufmerksamkeit weg von sich selbst richten (Sie bedürfen ja nichts mehr, sind autark) und weder den Fehler des Riesen noch den Fehler des Sisyphos begehen. Sie werden Ihre Aufmerksamkeit vollkommen auf das richten, was zu tun ist: Ihre Bürger, wenn Sie Politiker sind, Ihre Patienten, wenn Sie Arzt sind. Und das Unrechtleiden? Klar, sie werden lieber Unrecht leiden, als es zu tun, weil es für Sie schlimmer ist, die so wertvolle Autarkie aufzugeben. Wenn jemand anderes diese aufgibt, dann liegt es nicht mehr in Ihrer Macht es zu ändern. Wer Unrecht tut, hat eine hässliche Seele. Wer es erleidet, kann nichts dafür.

“Und muss der autarke Mensch nicht auch Essen und Schlafen? Soll er selbst Gemüse anbauen, oder was?”

“Diese Frage können Sie nach der Stunde gerne noch einmal Stellen.”

Aber sind Sie vielleicht Realpolitiker oder Realpolitikerin und denken tatsächlich, das sei immer noch Quatsch? Sie denken, die Welt sei ein Schachbrett und wer nicht angreift und kalkuliert, gehe zugrunde, weil er irgendwann nichts mehr zu essen haben werde? Klar, wenn Sie einmal in dem Spiel drin sind, dann ist ein Ausstieg schwer. Aber die Realpolitiker tun sich eben auch seit vielen Jahren sehr schwer damit zu verstehen, wie souveräne Einzelstaaten Ihre Macht freiwillig an eine andere „Organisation“ abgegeben haben konnten: An die EU.

Ich glaube ich werde noch etwas dazu schreiben müssen, oder?

Ich verabschiede mich jetzt aber, um wieder etwas an meiner Autarkie zu arbeiten.

Grüße

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/368

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27. Geisteswissenschaft und Urlaub

Ich war gerade im Urlaub. Ich weiß. Geisteswissenschaftliche Tätigkeit ist eigentlich keine Arbeit, deshalb braucht man auch eigentlich keinen Urlaub. Denn Arbeit ist nur das, was anstrengend und am besten körperlicher Natur ist. Sie ist nämlich dann besonders Arbeit, wenn man sich über sie beschwert und keine Lust darauf hat und wenn man dabei schwitzt und andere Leute sehen, dass man sich anstrengt. So wie Joggen eben nur mit Gehalt.

Aber lassen Sie doch mal Fünfe gerade sein und auch einen Geisteswissenschaftler, der nur selten bei der „Arbeit“ schwitzt und dem seine Tätigkeit Spaß macht, in den Urlaub gefahren sein. Um genau zu sein einmal mehr in das Land des Diderod, Dumas und Hugo. Bei meiner Reise an die atlantischen Pyrenäen sind mir drei Dinge aufgefallen, wovon nur eines relevant ist: 1. Das Wort Pyrenäen ist schwerer zu schreiben, als man denkt. 2. Deutsche Urlauber sind nicht mehr an ihrem Outfit von anderen Urlaubern zu unterscheiden. Denn Funktionskleidung, Dreistufenhose für alle Wetterlagen, weiße Sportsocken, Sturmfeste Jacken und Fahrradsonnenbrillen sieht man bei engagierten französischen Vätern neben Kindern in Schlappen und normal gekleideten Ehefrauen ebenso wie einst wohl vornehmlich bei Deutschen. Europa wächst eben zusammen. Und das mit gutem Recht, denn besonders wenn man den eleganten Aufstieg zum ca. 900m hohen Gipfel von La Rhune unternehmen möchte, ist es wichtig, dass ein einziges Familienmitglied auf alle Witterungen und unvorhersehbaren Launen der Natur vorbereitet ist. Zumindest bis es oben in der Hütte Cola, Burger, Fisch und Souvernirs aus der Gegend zu kaufen gibt. Ich glaube, ich habe sogar jemanden mit Kompass gesehen. Naja, jedenfalls habe ich mich auch dort irgendwie heimisch gefühlt.

Und drittens ist mit aufgefallen, dass es mir viel leichter fiel, Platon zu lesen als wenn ich in meiner Alltags-Routine bin. Warum? Tja, wenn ich das wüsste. Ich konnte aber einige Dialoge lesen, ohne dass ich am Ende den Eindruck hatte, nur einen Brei mit Informationsstücken aufgenommen zu haben, bei dem ich eigentlich im Nachhinein nichts mehr wiedergeben kann, als dass ich etwas gelesen habe, dessen Zusammenfassung eine andere Person im Internet veröffentlicht hat und die ich mir zum Verständnis holen muss. – Ich glaube, ich habe Muße gehabt. – Und dabei ist es mir ganz deutlich geworden, dass geisteswissenschaftliche Arbeit zwar einerseits aus Anstrengung und Verwaltung der Literatur, Recherche und Korrekturen besteht, dass der Hauptteil der Arbeit aber etwas von Hephaistos’ Netz hat. Denn wenn man ein Problem hat und sich mit aller Macht versucht herauszuwinden, wird es einfach unlösbarer und fester. Die Strategie muss dort genau andersherum laufen und zwar mit Lockerung und ohne heftigen Trotz mit Milde die Probleme zu lösen zu versuchen, ohne ihnen Gewalt antun zu wollen, sondern mit Feingefühl, Zeit und Eleganz. Fragen Sie mal Aphrodite und Ares, was diese jetzt im Nachhinein davon halten und auch Eros, den Landstreicher. Für mich ist es jedenfalls klar: Intellektuelle Arbeit lässt sich nicht durch Gewalt zu Ende bringen, sondern braucht immer seine Zeit, seine Muße.

Und übrigens heißt Muße oder Ruhe im Griechischen scholê (σχολή). Und von diesem Wort ist unsere Schule abgeleitet. Aristoteles schreibt, dass wir um der Muße willen arbeiten, nicht Erholungsurlaub nehmen, um arbeiten zu können, wie man meinen könnte, wenn man sich die Gesetzeslage anschaut. Aber damit das nicht missverstanden wird: Muße ist nicht die Zeit der Untätigkeit. Muße ist die Zeit, in der man zwanglos der wertvollsten Tätigkeit nachgehen kann. Welche die Wertvollste Tätigkeit ist? Na, das wissen Sie doch.

[Alternatives Ende:] Muße ist nich der Aufstieg zu La Rhune, sondern der Moment an dem man der Schönheit des Ausblickes über den Golf von Biskaya gewahr wird. (Jaja, ich weiß, was Sie denken: “Wenn ich den dat nächste Mal sehe, klatscht et. Aber nisch Beifall.”)

LG

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/361

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28. Westliche Meditation, Ausgeglichenheit und Kalkül

Sollten Sie sich nicht in der komfortablen Lage befinden, ein hübsches Gesicht zu einer Rastafrisur präsentieren zu können, einen schicken Travelerrucksack aus wasserfestem Material zu besitzen und in einem Land zu leben, dessen Einkommensstandard es Ihnen erlaubt, ferne Länder so zu besuchen als spiele Geld keine Rolle, um dort Unzufriedenheit über die heimischen Einkommensstrukturen zu leben, seien Sie beruhigt, denn Anweisungen zur Meditation gibt es auch bei Ihnen zu Hause (wenn Sie sich als Westler verstehen und falls Sie Griechenland und Rom zum Westen zählen möchten).

Die antike Stoa zeigt Ihnen, wie es geht: Anders als das aristotelische Ziel der mesotes-Lehre, das ja besagte, man solle immer die gute Mitte zwischen zwei schlechten Affekten treffen, also weder feige noch tollkühn (verrückt) sein, wenn man bedroht werde, sondern eben mutig, und dadurch sehr unklar bleibt (denn was genau ist jetzt jeweils die Mitte?), erklären die Stoiker die Seelenruhe zum obersten Ziel. Um diese Seelenruhe in jeder Lage zu bewahren, müssen Sie sich darin üben, Übel zu antizipieren: Praemeditatio futuri mali nennt es der gute Seneca. Wenn Sie nämlich vorbereitet sind auf das, was auch immer kommen kann, trifft es Sie nicht so schlimm, wie auf unvorbereitete Weise.

In einer anderen Tradition finden wir zwar nicht dieselben Meditationsanweisungen (es gibt übrigens sehr viele davon und ich kann Ihnen nur Empfehlen, die römischen Stoiker zu lesen, Epiktet, Seneca, Marc Aurel), wohl aber denselben Begriff, den sie Stoa für die Seelenruhe verwenden: Apatheia, wieder: Bei den Neuplatonikern. Man soll sich von den Leidenschaften unabhängig machen. Nun gibt es bei Plutarch eine Szene, die einen möglichen Unterschied zwischen der stoischen und der neuplatonischen Apatheia formuliert. Es geht um die Passagen, in denen Plutarch schreibt, dass Perikles beim Tod seines Sohnes, seiner Schwester und vielen Verwandten aufgrund der Schwarzen Pest nicht einmal weinte. Später jedoch beim Tod seines letzten rechtmäßigen Sohnes Paralos übermannt vom Schmerz dem Anblick nicht mehr stand hielt und ausgiebig und lange weinte.

Worum geht es also bei der Apatheia? Geht es darum, abzustumpfen oder geht es darum, die Verbindung zwischen Gefühl und Reaktion zu unterbinden? Die Praemeditation futiri mali der Stoiker weist auf die Schleifung der Empfindung hin, die neuplatonische Apatheia hingegen auf die Entkoppelung der Reaktion. Ich glaube es ist Ihnen beides möglich, zu einem gewissen Grade zu erreichen. Ich denke aber, dass die erste Art der Apatheia von der Umgebung als Kälte wahrgenommen wird. Dass die zweite Art hingegen mit Zuspruch und Mitleid einhergeht. Der Unterschied ist deshalb von außen wahrzunehmen, weil die Entkoppelung der Reaktion vom Gefühl immer den Funken des inneren Kampfes hinausträgt.

Dennoch sollte man auch die Empfindungen der ersten Apatheia nicht unbearbeitet lassen. Geht man aber zu weit, müssen automatische und natürliche Reflexe durch überlegte Rationalität aufgewogen werden. Zwar behaupteten die Stoiker, dass die Philanthropie, die Liebe zu den Menschen, zu den guten Gefühlen gehöre, die nicht abgelegt werden sollen. Woher weiß aber der Meditierende, dass er durch seine Schleifung nicht bereits zu weit gegangen ist und die Grenze zwischen Apatheia und Stumpfsinn nicht schon längst überschritten hat – unter dem Mantel der Ausgeglichenheit zum kalkulierten Egoisten geworden ist?

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/349

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29. Die Schachmaschine

Es gibt eben diese Leute, die sich in den Kopf gesetzt haben, besonders rational sein zu wollen. Dabei bedeutet Rationalität für die meisten von ihnen die richtige Vorausschau dessen, was passieren wird. Eine besonders kluge Person ist für sie also eine, die zukünftige Geschehnisse aufgrund der eigenen scharfen Auffassungsgabe aktueller Gegebenheiten vorhersehen kann und so auch dazu fähig ist, korrigierend in zukünftige Geschehnisse einzugreifen. Manchmal zeichnen sich solche Leute dadurch aus, dass sie kurz warten, bevor sie eine Antwort geben, wenn man sie etwas fragt. Dies wirkt abwägend.

Ein besonders gutes Beispiel für das, was ich sagen möchte, war Themistokles (525 – 459 v. Chr.) der Stratege aus Athen mit poliertem Helm, der den persischen Angriff auf die griechische Flotte bei Salamis nicht nur mit Worten provozierte. Kennen Sie die Geschichte? Sie geht in etwa so: Die ollen Perser standen vor dem Angriff auf die versammelte griechische Flotte, die sich (erstaunlicherweise) nicht einig darüber war, was sie tun sollte. Zwist lähmte ihre Koordination und Gedanken an Flucht und Rettung unter einen gemeinsamen Schirm einer neuen Kolonie verbreiteten sich unter den Soldaten. Themistokles kannte das Problem und löste es durch eine List: Er schickte nämlich einen Boten zu Xerxes, dem er seinen Seitenwechsel anbot. Xerxes war misstrauisch und dachte sicher, Themistokles wolle lediglich erreichen, dass er ungehindert an den persischen Schiffen vorbeifahren und fliehen konnte, solange Xerxes eben denke, dass er die Seiten wechseln wolle. Genau deshalb schickte er also gleich Schiffe auf Themistokles zu, die ihn einfangen sollten. Hätten Sie sicher auch so gemacht, oder? Ich jedenfalls ganz bestimmt, solange der Feldherrenmantel richtig säße. Sie wissen ja, die B-Note zählt immer. Jedenfalls ging Themistokles’ versteckte Strategie in doppeltem Sinne auf. Die entmutigten Griechen, die dem Kampf mit den Persern ja eigentlich eher entkommen wollten, dachten, es handele sich beim Versuch der Perser, Themistokles’ Schiff einzufangen, nun um einen frühzeitigen Gesamtangriff. Für Flucht war es demnach natürlich zu spät. Was blieb, war also der Kampf mit bekanntem Ausgang: Xerxes wurde nass gemacht und Themistokles hat auf voller Linie gewonnen.

Und alle so „Wuuuaah, Themistokles, voll tapfer und so.“ „Buuah, der wollte alleine gegen die Perser kämpfen.“ Statue hier, Kranz da. Sie wissen ja, wie das geht.

Themistokles ist also rational an das Problem des Zwistes zwischen den Griechen ran gegangen, hat die Begebenheiten erkannt, gewusst, dass die Griechen gewinnen könnten, und klug gehandelt. Sein Ziel erreicht. Derselbe Themistokles hatte einige Zeit später aber eine ähnliche Idee: Als nämlich die Perser gänzlich zurückgeschlagen waren, haben die Griechen sich dafür entschieden, eine gemeinsame Flotte aufzubauen und sie in Athen zu stationieren. Quasi als sichere Anleihe gegen künftige Angriffe von Barbaren an Athen. Themistokles hatte nun den Einfall, einfach all nicht-athenischen Schiffe anzuzünden. Zack. Ich nenne das den Default Swap Trick. Das hätte bedeutet, dass Athen die absolute Übermacht gegenüber den anderen Stadtstaaten gewonnen hätte, da die Perser eben geschlagen waren und es damit auf lange Zeit auch keine innergriechischen Konkurrenten mehr gegeben hätte. In den Geschichtsbüchern hätte Themistokles für eine solche Tat den Titel „Asi“ erhalten. Themistokles, der Asi. Denn seine Tat wäre einfach ruchlos gewesen.

Was ist aber der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Kalkül? Danke, genau, die Ziele. Extremer ausgedrückt hätte Themistokles ja auch sehr kalkuliert oder mit einer funktionierenden List alles athenische Geld in die bretonische Keulen-Produktion investieren können. Wer aber ein solch hirnloses Investitionsziel verfolgt und erreicht, gleich wie, wird sicher nicht mehr als klug oder rational angesehen. Oder? Wäre die Verbrennung der anderen griechischen Schiffe klug gewesen? Das hängt eben davon ab, welche Ziele man als gut oder schlecht ausmacht. Sehen Sie, ich glaube nämlich, dass es ein großer Fehler ist, Rationalität einfach mit Kalkül gleichzusetzen. Kalkül gehört klarerweise irgendwie dazu. Aber was dem Kalkül natürlich vorausgeht, ist die Auswahl der richtigen Ziele auf welche das Kalkül hinarbeiten kann, oder? Themistokles wollte die Freiheit Griechenlands. Das war sein erstes Ziel. Und das hat er mit dem beschriebenen Kalkül erreicht. Deshalb gilt er als klug, rational und hat eine Statue bekommen. Bravo. Das freiwillig gewählte Ziel, schlechte Investitionen in die bretonische Keulen-Produktion zu tätigen, ist hingegen dumm, gleich wie kalkuliert man die Sache einfädelt. Rationalität und Klugheit hängt also selbstverständlich mit den Zielen zusammen, die man wählt. Welche Ziele haben Sie gewählt? Die eigene Durchsetzung? Fraglich, ob es ein gutes Ziel ist. Einen hohen sozialen Status zu erreichen? Reichtum? Eine hohe Publikationsdichte? Wissen? Sorglosigkeit? Ausgeglichenheit? Macht?

Was sind gute Ziele?

Es ist immer dasselbe. Man sucht nach einer Antwort und stößt auf weitere Fragen. Aber diese gibt es beim nächsten Mal. Denn bald macht die Börse in Rennes auf.

Gut geschrieben und interessant: Plutarchus: Die grossen Griechen und Römer.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/343

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30. Nachtflug nach Lissabon

Scharl gesprochen, Charles geschrieben, ist der Name, der mir zweimal begegnete auf meiner kurzen Reise in das schöne Lissabon. Wer diesen Namen verliehen bekommt, der steht bereits a priori in einer Reihe mit den Großen Europas. Der Vater unseres mittelalterlich-westlichen Kontinents, der Große, trug ihn und auch der französische General und Präsident. Manch ein Karl oder Karol kickt in den Gassen Jenas oder Warschaus den Fußball zu ehren seiner Vorfahren und zur Hoffnung seiner Großtanten. Als die Benennung des Pariser Flughafens, in dem ich nun zweimal umsteigen musste, anstand, gab es deshalb keine andere Möglichkeit, als ihn Charles zu nennen, de Gaulle, mit Bezug zur eigenen Geschichte, Paris vorne dran. – Ich habe mir deshalb ein Hemd angezogen und Lederschuhe, um in der Stadt der Städte nicht negativ aufzufallen, nicht unhöflich zu sein gegenüber den Reisenden, die aus St. Tropez kommen und weiter nach Las Vegas und Moskau fliegen. Ich war vorbereitet auf Jetset und hatte mir bereits die philosophischen Argumente für Mäßigung und gegen Gewinn- und Luxussucht zurechtgelegt, als ich mit der Wahrheit konfrontiert wurde.

Anspruch und Wahrheit divergieren nämlich an diesem Ort so weit voneinander, dass ich mich wundere, ob Einsteins Relativitätstheorie hier nicht eher als soziale Theorie Anwendung finden sollte. Die Kategorie der Relation zum Beispiel wird soweit gedehnt, dass sie eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielen kann. Sie möchten z. B. eine Kleinigkeit essen, weil Sie noch lange auf Ihren Weiterflug warten müssen? Suchen Sie sich ruhig etwas aus. Egal was. Es wird Sie einen Phantasiepreis kosten und auf keinen Fall satt machen ggf. auch so trocken sein, dass Ihnen danach die Kehle brennt. Und klar. Wer so viel für plastikables Nichts zahlt, der ist so was vom im Trend, dass er seinen nachhaltigen Pappbecher auch direkt selbst nachhaltig an die Theke zurückbringen kann. Kosten-Nutzen 2.0. Aber stopp, denn freie Marktwirtschaft gibt es hier ja auch. Wenn Sie nämlich in den nächsten Laden gehen, können Sie gleich erkennen, wie die Konkurrenz um Kunden den Preis gesenkt hat – könnte man denken, wenn Sie nicht auch hier wieder einen Phantasiepreis vorfinden würden. Aber Sekunde mal, denn das Gute an diesem Konzept ist nicht nur, dass man sich immer noch als teuerste Stadt der Welt behaupten zu können glaubt, sondern auch, dass die Einnahmen zu Feenstaub und Regenbogenfarbe verpuffen. Jedenfalls gibt es auch hier keine Korrelation (wohlgemerkt -relation) zwischen diesen und der Ausstattung sowie dem Knowhow, das man antrifft. Gangway, um aus dem Flugzeug steigen zu können? „Später“. Klo? „Benutzen Sie bitte das Damenklo, da dieses hier nun eine Stunde lang gereinigt wird.“ Boarding? „Ja, stellen Sie sich einfach auch in den Weg, damit hier niemand mehr durch kommt, weil wir das Terminal zu eng konzipiert haben.“ Flug nach Lissabon? „Klar, aber erst wenn der Streik vorbei ist, der genau so lange andauert wie das französische Fußballspiel.“ Jetzt Flug nach Lissabon? „Klar, benutzen Sie einfach denselben Eingang wie diejenige, die nach Malaga fliegen, aber ganz hinten bitte dann in das richtige Flugzeug steigen, hihihi.“ Hahahaha. „Hihihihi.“ Wo sind eigentlich die Franzosen, die die Concorde und so etwas vor 40 Jahren konzipiert haben? „…“.

Scharl, ich glaube, du warst der Grund dafür, dass es einmal eine Theorie des gerechten Preises gegeben hat, der richtigen Relation zwischen Waren. Erinnern Sie sich an die aristotelische Mitte? Nicht zu viel, nicht zu wenig, dann sind Sie tugendhaft? Es scheint im Mittelalter ein Konzept des Preises gegeben zu haben, das sich an dieser Idee ausgerichtet hat und die Preiskatastrophe des Pariser Flughafens vielleicht hätte abwenden können. Preisvariation gab es. Aber irgendwie konnte man wohl sagen: „Junge, ein Haus in Saint-Denis kostet etwa so viel wie Einhunderttausend kleine Salate mit Dressing.“ Und alle sagten: „Ja, irgendwie schon, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger, aber diese Relation stimmt schon, wenn wir gerade kein königliches Salatverbot oder so haben.“ Und nicht: „Ein Haus kostet genau so viel wie ein Salat, ein kleiner Salat ohne Dressing.“

Jetzt ist es so, dass diese Theorie des gerechten Preises wohl kaum erforscht ist. Und außerdem ist es so, dass jeder Ökonom mir an die Gurgel springen würde, da es diese genaue Relationsbestimmung zwischen Objekten nicht geben kann. Schließlich gibt es kein genaues und festes Maß, mit dem man messen kann. Außerdem macht das ja, wenn überhaupt, die „Invisible Hand“ schon. Hier am Flughafen herrschen nämlich, deshalb funktioniert es ja “ausnahmsweise” nicht, keine idealen Bedingungen etc., fünf gegen einen und so.

Aber dennoch ergibt sich irgendwie ein Gefühl in uns, das Unbehagen gegen ungerechte Preise verlautbart. Und damit meine ich nicht die immerwährende Abneigung, etwas vom eigenen Hab und Gut rauszugeben. Sondern ich meine die moralische Abwägung des Wertes von Gütern. Medikamentenpreise müssen doch einer anderen Bewertungsgrundlage standhalten als Luxusprodukte. Es gibt also schon einen gewissen Unterschied in der Bewertung des Preises verschiedener Waren, der nicht nur von der Nachfrage und dem Angebot abhängig ist, oder? Liebe Ökonomen, rettet mich vor diesem Flughafen und erklärt mir etwas über diese mittelalterliche Theorie des gerechten Preises, ohne Thomas von Aquin oder Benvenuto Olivieri oder wer sich damit beschäftigt hat, gleich zum Gespenst in Europa zu machen.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/339

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