Antisemitismus im 19. Jahrhundert in transnationaler Perspektive

Die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten hat in Deutschland zu einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Antisemitismus geführt. Die Literatur ist mittlerweile in einer Weise angewachsen, dass sie auch von Experten kaum noch übersehen werden kann. Trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen ist der Forschungsstand aber durch eine deutliche Fehlstelle gekennzeichnet, denn vergleichende oder transnationale Untersuchungen zum Antisemitismus sind bisher kaum vorgelegt worden.[1] Auch wenn dies angesichts des erheblichen organisatorischen Mehraufwands von Untersuchungen zur Transfer- und Verflechtungsgeschichte zwar nachvollzogen werden kann, so ist dies dennoch umso bedauerlicher, da der festzustellende nationale Tunnelblick zu Überzeichnungen und Ungenauigkeiten führt.[2]

Das Projekt wird an dieser Stelle ansetzen und ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert (Untersuchungszeitraum: 1830er-1890er Jahre) in einer transnationalen Perspektive als Transfer- und Verflechtungsgeschichte untersuchen. Da eine systematische Analyse des Antisemitismus in zwei oder mehr Ländern kaum geleistet werden kann, wird das Projekt am Beispiel des linken politischen Spektrums – und damit eines weiteren Forschungsdesiderats[3] – den Antisemitismus in Deutschland, Frankreich und Belgien in seiner transnationalen Dimension untersuchen.[4] In methodischer Hinsicht wird es sich um einen ideengeschichtlichen Zugang handeln, der um sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte wie den Kulturtransfer und die soziale Reichweite antisemitischer Ideen erweitert wird. Der quantitative und qualitative Stellenwert des linken im Vergleich zum rechten Antisemitismus wird dabei ebenso zu messen sein wie die mögliche gegenseitige Beeinflussung beider politischer Lager. Auch wenn der Antisemitismus in den Programmen linker Parteien und Organisationen bekämpft wurde, schließt das keineswegs aus, dass unter ihren Mitgliedern trotzdem antisemitische Ideen, Bilder und Stereotypen im Sinne eines „kulturellen Codes“ präsent waren.[5]

Charles Fourier 1772-1837

Charles Fourier (1772-1837)

Neben der Untersuchung der gegenseitigen Rezeption zwischen Deutschland und Frankreich (beispielsweise der Rezeption französischer Frühsozialisten in Deutschland), soll auch die Bedeutung von Emigranten in Westeuropa für die Verbreitung antisemitischer Stereotypen herausgearbeitet werden (herausragendes Beispiel hierfür ist sicherlich Michail Bakunin).[6] Belgien in seiner geographischen Mittellage zwischen Deutschland, Frankreich und den Britischen Inseln, als Zufluchtsstätte für politische Emigranten nicht nur aus Osteuropa und mit seiner Bedeutung für die Geschichte der politischen Linken in Europa wird die deutsch-französische Untersuchungsperspektive erweitern. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, welche Rolle Gruppen und Organisationen in Belgien für die Vermittlung antisemitischer Stereotypen zwischen den linken Milieus in Deutschland und Frankreich spielen konnten.[7] Ein weiterer Aspekt, der im Rahmen des Projekts angesprochen werden soll, betrifft die in der Frühzeit der Arbeiterbewegung noch festzustellenden Formen von Gewalt gegen Juden. Hier ist neben der Frage, warum diese Gewalt im Gegensatz zum rechten Antisemitismus verschwand, zu untersuchen, in welcher Weise in den Argumentationslinien und Legitimationsstrategien der Verantwortlichen eine transnationale Dimension nachgewiesen werden kann.[8]

Bakunin Portrait

Michail Bakunin (1814-1876)

Das Projekt wird auf einer breiten Quellenbasis aufbauen. Neben Publizistik aus dem linken Spektrum und Veröffentlichungen in Zeitungen entsprechender Parteien und Organisationen sollen Nachlässe sowie Behördenbestände (beispielsweise Zensur- und Polizeiakten) in Archiven in Frankreich, Deutschland und Belgien sowie im „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ in Amsterdam herangezogen werden. Außerdem werden Karikaturen und gegenständliche Überlieferung, die antisemitisch grundierte Kapitalismuskritik wie Darstellungen des „jüdischen Bankiers“ oder Rothschilds thematisieren, in die Analyse integriert, um eine breitere und vielfältigere Quellengrundlage für das Projekt zu erhalten.[9]

Abbildungen: Charles Fourier, Michail Bakunin, beide public domain

 

[1] Zum Forschungsdesiderat der international vergleichenden Antisemitismusforschung vgl. Thomas Gräfe, Antisemitismus in Deutschland 1815-1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt 22010, S. 217.

[2] Ein besonders markantes Beispiel ist sicherlich die umstrittene These eines nahezu überzeitlichen „eliminatorischen Antisemitismus“ in Deutschland, die Daniel Jonah Goldhagen formuliert hat. Siehe Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s willing executioners: ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996. Zum Vergleich siehe einführend Ulrich Wyrwa, Aus der Werkstatt des Vergleichs: Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien, in: Werkstatt Geschichte 46 (2007), S. 65-73.

[3] Siehe jetzt aber Michel Dreyfus, L’antisémitisme à gauche. Histoire d’un paradoxe, de 1830 à nos jours, Paris 22011 [12009]. Siehe außerdem Michel Winock, La gauche et les juifs, in: Ders., Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 2004 [11982], S. 153-182. Michel Dreyfus spricht in seiner Studie zahlreiche Aspekte an, die für transnationale Fragen von Bedeutung sind, beispielsweise die Rezeption der französischen Frühsozialisten durch die deutsche Arbeiterbewegung.

[4] Vgl. Christoph Nonn, Antisemitismus. Darmstadt 2008, S. 114.

[5] Zum „kulturellen Code“ siehe Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in : Dies., Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000 [1. Auflage unter dem Titel: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990], S. 13-36; J. Friedrich Battenberg, Antisemitismus als kultureller Code in der deutschen Geschichte. Anmerkungen zu Elementen einer antijüdischen Denkweise, in: Der Aufklärung zum Trotz: Antisemitismus und politische Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1998, S. 15-52.

[6] Reinhard Rürup hat jüngst die Erforschung der Bedeutung französischer Autoren für die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland als wichtiges Desiderat ausgemacht. Vgl. Reinhard Rürup, Antisemitismus und moderne Gesellschaft: Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Christina von Braun/Eva-Maria Ziege (Hgg.), Das bewegliche Vorurteil: Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 81-100, hier S. 87-88.

[7] In seiner Studie verweist Michel Dreyfus auf den Antisemitismus in der belgischen Arbeiterbewegung und auf die hohe Relevanz dieses Untersuchungsgegenstands. Vgl. Dreyfus, S. 344-345.

[8] Siehe Arno Herzig, Judenhaß und Antisemitismus bei den Unterschichten und in der frühen Arbeiterbewegung, in: Ludger Heid/Arnold Paucker (Hgg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992, S. 1-18, zu den gegen Juden gerichteten Handwerkerunruhen in Wien 1848 vgl. ebda., S. 11.

[9] Hier ist darauf zu achten, ob diese Darstellungen tatsächlich linken Ursprungs waren oder im linken Milieu nur tradiert wurden. Zur bildlichen Überlieferung in der Emanzipationszeit siehe Peter Dittmar, Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, München/London/New York/Paris 1992. Dort ist auch eine der frühen Rothschild-Karikaturen unter dem Titel „Seyd umschlungen Millionen!“ zu finden, die im Übrigen eine naturgetreue Übernahme einer 1817 in England entstandenen Darstellung Nathan Rothschilds an der Londoner Börse darstellt. Vgl. ebda., Abb. 116, S. 211. Die englische Vorlage mit dem Titel „A View from the Royal Exchange“ befindet sich im British Museum in London (vgl. Inventar-Nr. AN00675449_001). Zu den Karikaturen siehe außerdem den Klassiker von Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, München 1921. Einen sehr guten Einstieg in die dreidimensionale Überlieferung bietet Falk Wiesemann, Antijüdischer Nippes und populäre „Judenbilder“. Die Sammlung Finkelstein, Essen 2005.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/798

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