32. Lepanto oder Der fortgesetzte Missbrauch der Vergangenheit

Es war einmal in Rompizzeria lepanto

Konrad Adam war in Rom. Ist wohl schon ein paar Jahre her, aber aus halbwegs aktuellem Anlass scheint ihm diese Reise wieder in Erinnerung gerufen worden zu sein. Bei dieser Romreise besuchte er den Palazzo eines namentlich nicht genannten Marchese an der Piazza Navona. Der Palazzo beherbergt die Fahne, die Don Juan d’Austria während der Schlacht von Lepanto am 7. Oktober 1571 auf seinem Schiff mit sich führte. Lepanto! Welch‘ Triumph der Christenheit über die ‚ungläubigen Erzfeinde‘ aus dem Osmanischen Reich! Und die Fahne, die als Zeuge für diesen unübertrefflichen Sieg bürgt, hängt immer noch in einem römischen Palazzo! Und Konrad Adam hat sie gesehen! (Sie zu berühren wagte er nicht, der weinrote Brokat schien ihm zu brüchig.) All das weckte in ihm die Erinnerung an dieses große Ereignis, an die Seeschlacht am Golf von Patras, als sich das Osmanische Reich und die „Heilige Liga“ (Papst, Spanien, Venedig, Genua, Malteser, einige italienische Fürstentümer) ein blutiges Gemetzel lieferten. Dabei versuchte, wie Konrad Adam es beschreibt, die „türkische Flotte die Schiffe der Liga zu umfahren und ihnen in den Rücken zu kommen“ (wie hinterhältig!). Aber: „Das Manöver misslang, die christlichen Streitkräfte erwiesen sich als disziplinierter und stärker.“ (Hatten wir auch nicht anders erwartet.) „Die Türken verloren an die 180 Schiffe, die Liga nur zwölf.“ (Dem Herrn sei‘s getrommelt!) „Und sie befreite an die 12.000 christliche Galeerensklaven, die für die Türken hatten rudern müssen.“ (Gloria! Victoria!)

Verfehlter Geschichtsunterricht

Weder der Besuch in einem römischen Palazzo noch die Erinnerung an Lepanto würde irgendjemanden interessieren – wenn es nicht zufällig als Artikel auf Seite 2 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung stünde und wenn der Verfasser nicht zufällig Bundessprecher der Partei „Alternative für Deutschland“ wäre. [1] Eben jener Konrad Adam erinnert uns am christlichen Sonntag in einer Sonntagszeitung daran, welche Bedeutung Lepanto doch einst für die Christenheit besessen hat. Fragt sich nur, warum diese Erinnerung ausgerechnet in dieser Zeit?

Vielleicht geht es um ein wenig Geschichtsunterricht? Der Frühneuzeitler in mir freut sich natürlich, wenn ein Ereignis aus dem 16. Jahrhundert einen prominenten Platz im Politikteil einer großen Sonntagszeitung bekommt. Derselbe Frühneuzeitler in mir ärgert sich aber maßlos, wenn dieses Ereignis in derart verkürzender bis verfälschender Weise für propagandistische Zwecke missbraucht wird, so als seien seither nicht über vier Jahrhunderte ins Land gezogen. Was historisch gesehen an Lepanto wirklich wichtig war, sind zwei Dinge: Erstens verlor das Osmanische Reich (und nicht „die Türken“, wie Adam unkorrekt immer wieder schreibt) seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit. Das hat den europäischen Mächten damals sichtlich gut getan. Zweitens löste Lepanto in ganz Europa einen nachhaltigen Propagandakrieg gegen die Osmanen aus, der sich in zahlreichen Gemälden, Kapellen, Festen, Flugblättern usw. niederschlug. Darin wurden die göttliche Fügung des Geschehens und die Bedeutung des militärischen Schlags gegen den ‚ungläubigen Erzfeind‘ gebührend gefeiert. Es scheint fast so, als wollte Adam hier nahtlos anschließen.

Ansonsten ist aber vor allem interessant, was Adam alles auslässt. Er erwähnt zum Beispiel nicht, dass das Heilige (sic!) Römische Reich Deutscher Nation an der Heiligen (sic!) Liga herzlich wenig Interesse hatte, sondern lieber den Separatfrieden mit den Osmanen aufrechterhalten wollte. Er erwähnt auch nicht, dass Frankreich viel eher an einem Bündnis mit den Osmanen als mit dem Papst, mit Spanien oder den italienischen Staaten interessiert war. Er erwähnt auch nicht, dass die Heilige Liga 1573 schon wieder auseinanderbrach und Venedig einen Separatfrieden mit den Osmanen schloss – weil ihnen Geschäfte und Kooperationen wichtiger erschienen als kostspielige Kriegsführung. Er erwähnt auch nicht die zahlreichen Auseinandersetzungen, die das Zustandekommen der Liga im Vorfeld massiv erschwerten. Er erwähnt auch nicht, dass diese Niederlage die Osmanen nur kurz schwächte; die Flotte war im Nu wieder aufgebaut, so dass Voltaire in einer historischen Rückschau die Vermutung äußern konnte, Lepanto mute eher wie ein Sieg der Osmanen an. Und schließlich erwähnt er auch nicht, dass nicht nur in den Galeeren der Osmanen christliche Sklaven als Ruderer schuften mussten. Auch die Galeeren der Spanier, Venezianer, Genuesen, Malteser oder des Papstes bewegten sich überraschenderweise nicht mit Ökostrom vorwärts, sondern mit der (unfreiwilligen) Hilfe – tausender christlicher Galeerensklaven! Nicht selten handelte es sich um Strafgefangene, für die das Verbüßen ihrer Strafe auf einem solchen Schiff einem nahezu sicheren Todesurteil glich. Aber um solche historischen Differenzierungen muss sich Konrad Adam nicht kümmern, denn dadurch könnte die eigentliche Botschaft verwässert werden.

An die Ruderbänke!

Es geht also nicht um Geschichtsunterricht, es geht auch nicht um ein Jubiläum dieser Schlacht, das demnächst anstehen würde – man wird also nicht ganz fehlgehen, dahinter eine (partei-)politische Intention vermuten zu dürfen. Schade, dass sich die FAS für so etwas hergibt. Garniert wird der Artikel zu allem Überfluss auch noch mit einem Gemälde von Vassilacchi, das untertitelt ist als „Untergang des Morgenlandes“. Eine Einladung für die anstehenden Pegida-Demonstrationen, bei denen sich „Lepanto“ vielleicht als neuer Schlachtruf etablieren wird.

Der Artikel firmiert unter dem kaum missverständlichen Titel „Wie die Christen schon einmal die Türken schlugen“. Das ruft doch geradezu nach Wiederholung! Also ab in die Boote, ihr AfD-Wähler und Pegida-Anhänger, schlagt die ‚Ungläubigen‘, wo ihr sie trefft! Aber passt auf, dass ihr nicht unter Deck landet, angekettet an die Ruderbänke, während oben andere das Kommando führen …

Was lernen wir aus diesem ansonsten gänzlich zu vernachlässigenden Beitrag?

  1. Missbrauche nicht die Vergangenheit in vereinfachender und verfälschender Form für billige politische Anliegen der Gegenwart.
  2. Wenn du schon von dieser Vergangenheit erzählst, dann tue es in möglicher komplexer, möglichst zahlreiche Aspekte berücksichtigender Form.
  3. Wenn du schon einen Artikel schreibst, in dem billige Ressentiments gegen Andere bedient werden, dann schreibe wenigstens einen guten Artikel. Üble Beiträge mit üblen Inhalten sind eine doppelte Beleidigung.
  4. Wenn du etwas aus Lepanto lernen willst, dann lerne dies: Es ist wirklich für alle Beteiligten besser, auf gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zu setzen als auf gegenseitiges Abschlachten.

Muss man so etwas wirklich noch hinschreiben?

[1] Konrad Adam, Wie die Christen schon einmal die Türken schlugen. Die Seeschlacht von Lepanto ist über 400 Jahre her. Der AfD-Politiker Konrad Adam ruft die Erinnerung wach, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Januar 2015, S. 2.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/01/04/33-lepanto-oder-der-fortgesetzte-missbrauch-der-vergangenheit/

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30. Neohistofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land

Wozu?Every story

Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen. Aber aktuell erscheint es noch ein weniger zeitiger. Nicht weil wir es mit einer grundsätzlichen Krise des Geschichtsverständnisses zu tun hätten – sondern ganz im Gegenteil, weil wir es mit ‚Geschichte‘ als einem viel zu großen Selbstverständnis zu tun haben. Können sich die Älteren noch an Diskussionen erinnern, die bis in die 1980er Jahre hinein immer mal wieder aufgeflammt sind und in denen regelmäßig die Frage aufgeworfen wurde: „Wozu Geschichte?“ Der Blick in die Vergangenheit galt tendenziell als konservativ, nostalgisch, weltabgewandt und sogar reaktionär, weil zum Beispiel die Sozialwissenschaften viel besser in der Lage zu sein schienen, mal so richtig die Welt zu erklären. Seit den 1990ern (grob geschätzt) muss man die Frage hingegen anders stellen: „Wozu so viel Geschichte?“ Denn Geschichte ist überall, im Fernsehen, in populären Magazinen, im Internet, im Tourismusyou name it.

Auch wenn mich der Umstand dieses nicht nur anhaltenden, sondern – soweit sich das quantifizieren lässt – sogar steigenden Interesses an der Beschäftigung mit der Vergangenheit aus rein professionellen Gründen erfreuen müsste, geht er doch mit diversen Problemen einher. Man kann diese Schwierigkeiten unter dem Stichwort einer Verflachung der Geschichte verhandeln oder mittels näherer Betrachtung gängiger historischer Floskeln genauer unter die Lupe nehmen (geschehen hier, hier, hier und hier). Das sind aber nur kleine Schnitte in das Gewebe der herrschenden Geschichtskultur, die durch zahlreiche weitere Operationsfelder vervielfältigt werden müssten.

Wohin aber soll das führen? In das kulturpessimistische Gejammer selbsternannter Spezialisten im Feld der historischen Forschung, dass sich so viele Amateure in ihren Gefilden herumtreiben? In die Klage über den Verfall historischer Normen und Werte, weil alles und jeder meint, sich mehr oder minder kompetent zur Vergangenheit äußern zu müssen? Wohl kaum. Denn wer wäre ich, irgendjemandem vorschreiben zu wollen, ob er/sie sich auf die eine oder andere Art und Weise mit Geschichte beschäftigen darf? Nein, es soll und kann nur um den Versuch gehen, die etablierten Formen historischen Verständnisses zu befragen – und ihnen mögliche Alternativen entgegenzusetzen.

Geschichte als Außen

Nun ließe sich zum Beispiel die Beschäftigung mit historischen Floskeln recht schnell und unproblematisch als wenig erhellend beiseiteschieben. Das Alltagswissen und die Alltagsüberzeugungen von Vergangenheit und Geschichte erscheinen für ein weitergehendes historisches Verständnis als irrelevant. Aber was heißt schon „weitergehendes historisches Verständnis“? Unterscheidet sich das Bild von „der Geschichte“, das sich in Floskeln niederschlägt, denn tatsächlich so grundsätzlich von demjenigen, das beispielsweise in den historischen Wissenschaften zirkuliert? Zumindest wird man kaum behaupten können, dass diese Floskeln keinerlei Bedeutung für herrschende Geschichtsbilder hätten. Hier werden tatsächlich sozial wirksame Vorstellungen davon konstituiert, was „Geschichte“ und „Vergangenheit“ sein könnten.

Wenn man historische Floskeln in diesem Sinn ernst nimmt und wenn man sich deren wesentliche Aussage vor Augen führt – wenn man also von der Vergangenheit eingeholt wird oder sie ruhen lassen will, wenn man Geschichte macht oder in die Geschichte eingeht, wenn man den Lauf oder die (Nicht-)Wiederholbarkeit von Geschichte beobachtet – dann zeigt sich in der Quersumme ein ganz wesentliches Charakteristikum derjenigen „Geschichte“, von der hier die Rede ist. „Geschichte“ ist immer etwas Äußeres, Eigenständiges, eine andere Dimension, die man beobachten oder zu der man Zugang erlangen kann – vielleicht sogar etwas Transzendentes. Und das ist natürlich höchst problematisch. Denn damit wird ja so getan, als hätte die historische Beschäftigung einen Gegenstand, der „irgendwo dort draußen“ liegt, als könnte man Zugang erhalten zur Vergangenheit als einer zeitlich zurückliegenden Dimension. Problematisch ist das, weil die historische Beschäftigung es nicht mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern mit dem aus der Vergangenheit übriggebliebenem Material. Deswegen kann man sogar behaupten, dass „Geschichte“ nicht in der Zeit stattfindet, sondern im Raum, weil sie nicht auf die Vergangenheit als einer abwesenden Zeit rekurrieren kann, sondern nur auf das historische Material, wie es in bestimmten Räumen eingelagert ist, in Archiven, Bibliotheken, Museen, Bunkern, Kellern, Dachkammern … Und wenn das tatsächlich so ist, dann brauchen wir auch neue Floskeln, die dieses Verständnis von Geschichte zum Ausdruck bringen

Neue Floskeln braucht das Land

Ein Stück Geschichte in die Gegenwart hineinsetzen

Wenn wir uns schon nicht in die Vergangenheit hineinversetzen können, dann sollten wir doch wenigstens versuchen, das angemessen zu beschreiben, was wir ohnehin die ganze Zeit tun – nämlich Geschichte als ein Stück erzählter Vergangenheit in unsere Gegenwart integrieren. Ist vor allem deswegen vergnüglich und erfolgreich, weil man immer Neues in dem Alten entdeckt.

Vergangenheiten sehen uns an!

Dass sich ein bestimmtes Hier und Jetzt in den Mittelpunkt der Welt und ihrer Weltgeschichte setzt, ist für Gesellschaften, die sich selbst als „modern“ zu bezeichnen pflegen, ein verhältnismäßig normaler Vorgang (seit das Jenseits als ein späteres und ewiges Hier und Jetzt an Überzeugungskraft eingebüßt hat). Insofern ist es durchaus folgerichtig (und auch nicht gänzlich falsch), wenn dieses Hier und Jetzt von sich behauptet, in die Vergangenheit blicken zu wollen. Zugleich ist ein solcher Zugang recht vereinseitigend. Denn auch die Vergangenheiten haben durch ihre Weltsichten und ihre Formen der Überlieferung schon ganz erheblich dasjenige geprägt, was wir als Geschichte begreifen können. Sie sehen uns also mindestens ebenso sehr an wie wir sie.

Wir machen zukünftige Vergangenheit!

In der Tat, das tun wir, und zwar jeden Tag. Es könnte durchaus sein, dass diese zukünftige Vergangenheit von etwas längerer Haltbarkeit ist, möglicherweise sogar für Jahrzehnte und Jahrhunderte Bedeutung erlangt. Aber recht nüchtern muss man wohl feststellen, dass vieles von dem, was heute noch Geschichte machen will, morgen schon wieder vergessen ist. (Das ist der Effekt, wenn man in alten Zeitschriften oder Zeitungen blättert und einstmals bedeutsame Ereignisse aus der inzwischen eingetretenen historischen Amnesie wieder auftauchen.) Man kann also gut und gerne versuchen, Geschichte zu machen, ob das aber tatsächlich gelingt, liegt nicht allein in der Hand der Gegenwärtigen. Bis dahin bleiben wir recht gegenwärtig darum bemüht, heute schon festlegen zu wollen, was morgen am Gestern interessiert. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft dazu sagt.

Wo die Zeiten nicht wieder überall hinlaufen?!

Klingt – wie vieles andere hier – gewöhnungsbedürftig, sollte aber dabei helfen, sich vom eindimensionalen Zeitstrahl und seiner eindeutigen Richtung zu befreien. Denn „die Zeit“ gibt es nicht (höchstens als Wochenzeitung), und eine eindeutige Richtung hat sie auch nicht. Stattdessen sollte man sich öfter wundern, wo denn die vielen Zeiten nicht überall hinlaufen.

Lasst uns Geschichte wiederholen!

Wohlgemerkt: Geschichte, nicht Vergangenheit. Letztere steht als Vergangenes der Repetition nicht zur Verfügung, aber Ersteres wiederholen wir beständig. Wenn man Geschichte begreifen darf als Beschreibung einer Vergangenheit durch eine Gegenwart, und diese Beschreibung im Sinne einer Verknüpfung zwischen diesen unterschiedlichen Zeiten funktioniert, dann muss diese Relation beständig erneuert werden. Wahrscheinlich bedarf es in diesem Fall gar keiner eigenen Floskel, denn die Praxis der Geschichtsschreibung ist nichts anderes als die immer wieder notwendige Geschichtswiederholung.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2014/12/09/30-neohistofloxikon-oder-neue-floskeln-braucht-das-land/

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29. Histofloxikon, Vierte Lieferung

Eine Sammlung historischer Floskeln ließe sich – wie es einem Lexikon gebührt – entweder alphabetisch ordnen oder aber nach TunnelThemengruppen sortieren. Wählte man die letztere Variante, könnte man sich die Frage stellen, mit welchen Emotionen das Vergangene jeweils belegt wird. Ist es der Sehnsuchtsort des goldenen Zeitalters, die stolze Ahnengalerie vergangener Großtaten, das Schandmal auf der nicht mehr gar so weißen Weste der eigenen Identität oder gar das mit Angst und Schrecken besetzte Gestern? Es ist wohl nicht nur ein Spezifikum der deutschen Sprache, dass sich in diesem Zusammenhang einige sprachliche Formeln finden, die ein eher düsteres Bild von der Vergangenheit zeichnen.Drei Beispiele aus diesem Segment sollen im Folgenden Erwähnung finden. Weitere, weder alphabetisch noch sonstwie sortierte Einträge aus dem Lexikon historischer Floskeln finden sich hier, hier und hier.

Von der Vergangenheit eingeholt werden

Der Gemeinplatz, man könnte von der Vergangenheit eingeholt werden, ließe sich wahlweise auch ersetzen durch die Rede von den „Schatten der Vergangenheit“, die einen heimsuchen. Kriminalgeschichten leben nicht selten davon, dass irgendeine olle Kamelle aus dem Keller des Gewesenen hervorgeholt wird, um dem gegenwärtig so glücklich und erfolgreich Lebenden, aber in der Vergangenheit irgendwie bösartig Gewesenen mal zu zeigen, was eine historische Harke ist. Dahinter steckt wohl die Hoffnung, dass es doch so etwas wie historische Gerechtigkeit geben könnte.

Aber keine Sorge, weder gibt es historische Gerechtigkeit noch werden wir von der Vergangenheit eingeholt. Ob man will oder nicht, all das findet gegenwärtig statt (was auch immer da stattfindet). Man muss nicht warten, bis die mehr oder weniger untoten Sünden eines früheren Lebens wieder aus den Gräbern steigen, um die noch Lebenden vor Gericht zu ziehen. Man muss höchstens warten, bis eine Gegenwart bereit ist, sich auf andere Art und Weise mit einer Vergangenheit zu beschäftigen oder überhaupt erst eine Vergangenheit zu entdecken, von der sie bis dato noch gar nicht wusste (oder nicht wissen wollte), dass es sie gibt. Die Vergangenheit holt uns dabei nicht ein, denn die Vergangenheit selbst tut überhaupt nichts. Wir Gegenwärtigen holen uns höchstens eine andere Vergangenheit heran – und das kann für manche Beteiligte allemal unangenehm werden.

Die Vergangenheit begraben

Von der Vergangenheit begraben zu werden, wäre dann wohl eher das Gegenteil zur Vergangenheit, die einen einholt: Ein Gestern, das einfach nicht vergehen will und das man endlich loszuwerden wünscht. Sollte ja, nach dem oben Gesagten, besser funktionieren. Denn wenn man sich eine Vergangenheit heranholen kann, dann ließe sie sich möglicherweise auch wieder abstoßen – oder eben gleich begraben. Aber gar so einfach ist es nicht, weder mit dem Abstoßen noch mit dem Begraben. Hier offenbart sich vielmehr der reziproke Charakter temporaler Relationen, oder zu deutsch: Die Zeitmuster, in denen wir leben, werden nicht ausschließlich und willkürlich von der Gegenwart bestimmt, sondern sind ebenso durch Prägungen und Voraussetzungen besetzt, die schon in der Vergangenheit getroffen wurden. Das Spiel zwischen den Zeiten findet statt von allen Seiten. Das wird besonders auffällig beim Verlust von Vergangenheiten. Überlieferungen, die zerstört, nicht weitergetragen, vergessen oder – weit häufiger – erst gar nicht zeitresistent festgehalten wurden, können entweder ihren Status als Vergangenheit verlieren oder für eine Gegenwart nie zur Vergangenheit geworden sein. Sie existieren für eine Gegenwart schlicht nicht, können daher auch nicht begraben werden und schon gar nicht irgendetwas oder irgendjemand einholen.

Aber dasjenige Wenige, das es in den Überlieferungsstrom geschafft hat, also die Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs, aus der wir dann unsere ‚Geschichte‘ zu fabrizieren pflegen, lässt sich kaum zu Grabe tragen. Sie mag in einen Dämmerzustand verfallen, phasenweise unbedeutend werden, unbeachtet bleiben oder andere Formen des Aufmerksamkeitsdefizits erleiden. Aber verschwinden wird sie nicht. Von sich aus können ad acta gelegte Vergangenheiten zwar nicht aktiv werden, aber man hüte sich vor den Bestrebungen einer Gegenwart, neue Zeitbeziehungen zu etablieren – denn man weiß nie, was sie in den Kellern finden und sich eigensinnig aneignen wird.

Ende der Geschichte

Es ist wahr, Geschichten können enden. Aber die Geschichte kann es nicht. Verwendet man beide Substantive in der Singularform – das Ende der Geschichte –, dann haben wir es tatsächlich mit einer blanken Unsinnsaussage zu tun. Nicht nur scheint mir immer weniger klar zu sein, was die Gesamtheit derjenigen Vorgänge sein soll, die wir mit dem Wort ‚Geschichte‘ zu belegen pflegen, auch weiß ich nicht, wie man Veränderung stoppen will. Ein Nicht-Wandel ist – nach allem was wir über den Menschen und die ihn umgebende Welt wissen – nicht möglich. Wenn man daher vom ‚Ende der Geschichte‘ spricht, ist das eher Ausweis der Arroganz oder der Fantasielosigkeit der Jetztlebenden, die sich nicht vorstellen wollen/können, dass nach ihnen tatsächlich noch etwas grundsätzlich anderes kommen mag. Dabei dürfte das Gegenteil nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu belegen sein: Wieso sollte ausgerechnet der aktuelle Zustand festgefroren werden und durch nichts mehr ersetzt werden? Transformationen zu blockieren erfordert einen deutlich höheren Energieaufwand als sie auszuführen.

Zugleich kann man immer wieder feststellen, dass bestimmte Phänomene verschwinden, Entwicklungen aufhören, Traditionen abbrechen und aus ‚der Geschichte‘ verschwinden. Wenn das aber geschieht, dann handelt es sich in nicht wenigen Fällen darum, dass ein historischer Vorgang seinen Aggregatzustand verändert, also nicht vollständig verschwindet, sondern so gravierend transformiert wird, dass die Geschichte anders erzählt werden muss. Wenn also Geschichten enden – oder wir sogar ‚die Geschichte‘ enden lassen wollen –, dann weniger, weil irgendeine übergeordnete transzendente Einrichtung den entsprechenden Faden durchschneidet, sondern weil wir die Erzählung dieser Geschichte enden lassen.


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27. Kontemporalismus oder Mit den Zeiten leben

Ein ManifestUhren

Es scheint die Zeit der Manifeste zu sein. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert, als Marinetti 1909 das Manifest des Futurismus veröffentlichte oder André Breton ab 1924 gleich mit mehreren Manifesten den Surrealismus zu installieren versuchte [1], bemüht sich auch das frühe 21. Jahrhundert darum, Orientierung in manifester Form zu gewinnen. Was müssen das für Zeiten sein, in denen solche Texte gedeihen? Phasen, die bestimmt sind durch die Verunsicherung einst unhinterfragter Parameter, durch den Verlust richtungsweisender Wegmarken, durch die Suche nach Alternativen zum Bestehenden. Es müssen vielleicht gar nicht politisch oder wirtschaftlich krisenhafte Zeiten sein, eher scheinen die systemischen Zusammenhänge, in denen man existiert, gerade deswegen so irritierend und verunsichernd, weil sich keine echte Alternative aufdrängt – und weil man zugleich weiß (oder zumindest ahnt), dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Vielleicht ist das aber auch völliger Unsinn. Womöglich ist jede Zeit eine gute Zeit für Manifeste. Wobei es natürlich eine Sache ist, ein Manifest aufzusetzen, und eine ganz andere, damit auch Gehör zu finden. In der allerjüngsten Vergangenheit konnte man gleich über mehrere Vertreter dieser Textgattung stolpern, die in den Feuilletons zumindest kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgten. Wie weit ihre Halbwertzeit reicht, wird sich erst noch weisen müssen. So erschien vor ein paar Jahren erschien in Frankreich „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“, worin unter kommunistischen Vorzeichen – nun ja, der kommende Aufstand angekündigt wurde. [2] Ganz anders geartet ist das „Manifest des neuen Realismus“ von Maurizio Ferraris, als, offen gestanden, wenig überzeugender Versuch, den „Wert der Wirklichkeit“ gegen Postmoderne und Konstruktivismus zu retten, um sich damit nicht nur in befremdliche Selbstwidersprüche zu verheddern, sondern mit dieser Oppositionshaltung selbst schon wieder ‚postmodern‘ zu wirken. [3] Und kaum hat man einmal fünf Minuten nicht hingesehen, erscheint auch schon wieder ein neues Manifest: „The History Manifesto“ wurde veröffentlicht, während ich an diesem Beitrag schrieb.

Konvivialismus

Ein weiteres, ebenfalls sehr frisches Beispiel ist „Das konvivialistische Manifest“ (als PDF kostenfrei herunterzuladen). Auf eine vornehmlich französische Initiative zurückgehend, stellen in diesem Manifest etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teils sehr unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, Forderungen auf, die sich in zwei Richtungen hin zuspitzen lassen. Erstens geht es um die Überwindung der ökonomischen Religion, um ein Hintersichlassen des nackten Wachstumswillens, der seinen Endzweck nur noch in sich selbst hat, und um die Ersetzung eines Eigennutzdenkens durch eine stärkere Gemeinnutzorientierung. Zweitens geht es um das Aufzeigen oder vielmehr Zusammenführen alternativer Modelle zur Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, die sich nicht mehr auf Wachstum und Eigennutz kaprizieren, sondern – wie der Name schon sagt – das Zusammenleben mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in den Mittelpunkt rücken.

Mit dem konvivialistischen Manifest liegt ein weiterer Beitrag vor, der versucht deutlich zu machen, dass und wie Alternativen zu herrschenden Formen des Wirtschaftens und Lebens aussehen könnten. Sympathisch daran ist nicht nur die undogmatische Herangehensweise, sondern auch der konkrete Bezug zu bereits bestehenden Projekten in diese Richtung sowie nicht zuletzt die Einsicht, dass die Grundlage eines solchen Konvivialismus ein Umdenken sein muss, das nichts weniger wäre als eine kulturelle Revolution. Diese Revolution kann allerdings nicht über Nacht vonstattengehen kann, sondern wird Zeit in Anspruch nehmen – sehr viel Zeit, einfach weil sie ein grundsätzliches Umstellen kollektiver Handlungsmaximen und Denkschemata erfordert (und um das zu erreichen, wird es wahrscheinlich noch vieler Manifeste und Denkanstöße bedürfen). Das mag vielleicht nicht alles ganz neu sein (was, wenn man den Konvivialismus ernst nimmt, auch gar nicht sein muss – denn ist nicht auch der beständige Ruf nach Neuem in den Wissenschaften ein Ausdruck des Wachstumsdenkens?), aber es ist konzise auf den Punkt gebracht.

Kontemporalismus

Die Feststellung dürfte nicht allzu gewagt sein, dass in diesen Prozess des Umdenkens auch der Faktor Zeit mit einbezogen werden muss. Das scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam zu sein. Erstens findet das Miteinanderleben nicht nur unter Anwesenden statt, nicht nur gemeinsam mit Lebewesen und Gegenständen, mit denen wir unsere Gegenwart teilen, sondern ebenso mit den zeitlich Abwesenden. Mit Blick auf die Zukunft ist das unmittelbar einsichtig, denn gerade aus Sorge um das Leben auf (und mit) diesem Planeten in den kommenden Jahrzehnten machen sich ja solche Überlegungen wie der Konvivialismus breit, wächst seit geraumer Zeit das Bewusstsein, dass – wie es immer mit einem sonntagspredigenden Unterton heißt – wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Aber es trifft eben auch mit Blick auf die Vergangenheit zu. Das äußert sich nicht nur in ganz praktischen Aspekten wie dem Recyceln, Reparieren, Bewahren und Weiterverwenden von Dingen, die nicht allein schon deswegen weggeworfen werden müssen, weil sie ein gewisses Alter haben. Sondern das sollte sich auch äußern in einer Art und Weise, die Komplexität von Vergangenheiten ernst zu nehmen, diese Vergangenheiten nicht zu schlichten und unvollkommenen Vorläuferstadien der eigenen Gegenwart zu reduzieren, um stattdessen all die Möglichkeiten zu entdecken, die in diesen Vergangenheiten stecken und die für uns heute noch von Bedeutung sein können.  Es geht also darum, die Geschichte immer auch auf Wirklichkeiten hin zu befragen, die noch nicht realisiert worden sind oder die einst realisiert wurden, aber zwischenzeitlich dem Vergessen anheimfielen (ohne deswegen ausgelöscht worden zu sein). Ein sehr offensichtliches Beispiel ist das Verhältnis von Gemeinnutz und Eigennutz, das bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein immer wieder intensiv debattiert wurde, bevor der Eigennutz als diskursiver Sieger hervorging und der Gemeinnutz als ‚vormodern‘ und ‚traditionalistisch‘ in die Asservatenkammer verbannt werden konnte. [4]

Wohlgemerkt: In dieser Weise auf die Kontemporalität als einem Miteinander der Zeiten hinzuweisen, soll nicht auf die Allerweltsweisheit hinauslaufen, es sei alles schon einmal dagewesen. Es gilt vielmehr deutlich zu machen, dass auch die nicht verfügbaren Zeiten der Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart zusammenfallen und zur Gestaltung des Hier und Jetzt von elementarer Bedeutung sind.

Diese gegenwärtige Anwesenheit abwesender Zeiten scheint mir in einer zweiten, eher theoretischen Hinsicht noch bedeutsamer zu sein, weil sie unmittelbar das nötige Umdenken und die angesprochene kulturelle Revolution betrifft. Denn wenn man ernsthaft das Wachstumsdenken überwinden will, dann muss man unweigerlich auch das damit verbundene Zeitmodell verabschieden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Schließlich ist es die immer noch herrschende Vorstellung vom Zeitstrahl, von einer homogenen und linearen Zeit, die üblicherweise als Grundlage dafür dient, innerhalb dieser Zeit eine entsprechende Entwicklung anzunehmen. Dieser Entwicklung wird zumindest implizit ein – wenn auch nebulöses – Ziel unterstellt, das wahlweise Dekadenz und Niedergang oder eben Fortschritt und Wachstum heißen kann. Erst wenn wir lernen, Zeit anders zu denken, nämlich als Pluralität unterschiedlicher Verzeitungen, die parallel zueinander existieren, sowie als Ergebnis von praktischen Differenzierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in einer Gegenwart getroffen werden, dann wird auch ein Abschied von der Wachstumsreligion möglich, der nicht mehr als Verlust erscheint, sondern als veränderte temporale Organisation. Denn wir leben nicht in der Zeit, wir leben mit den Zeiten.

 

[1] André Breton: Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986.

[2] Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010.

[3] Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626.


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Linkdossier 2: „Im Gedenkjahr nichts Neues?“ Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas

Aus der Vielzahl der Beiträge zum Gedenkjahr haben wir hier erneut eine Auswahl getroffen um Ihnen einige Denkanstöße für unsere Veranstalltung “Im Gedenkjahr nichts Neues?” Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas zu geben.

All Quiet on the French Front: France Remembers World War I

Sylvie Kauffmann, Chefredakteurin und Kollumnistin der Le Monde, vergleicht in ihrem Kommentar in der New York Times das Erinnerungsjahr in Frankreich, Deutschand und Großbritannien:

What is more perplexing is that, for a country so prompt to disagree on almost everything, the surge of interest in the war hasn’t set off any new debate. Even the historians agree: This is a very consensual centennial. We don’t feel like looking beyond our attics and official databanks. While our German and British neighbors have been passionately debating theories about the origins of the war or its utility, all is quiet on the French front.

 

Erster Weltkrieg: Anderes Land, anderer Krieg

Auch in diesem Artikel der Zeit wird die Erinnerung an den Krieg aus transregionaler Perspektive erläutert und dabei Bezug auf die heutige gesellschaftliche und politische Situation genommen: In Frankreich beschweren sich Rechtsextreme, dass die Gegner des Algerienkrieges bei der Militärparade am Nationalfeiertag teilnehmen, in Algerien fordert man derweil eine Entschuldigung für die Verbrechen der Kolonialzeit. Für Indien spielt der Krieg eine vollkommen andere Rolle und wird oft als erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit von den Briten gesehen – diese wiederum inszenieren die Kriegserinnerung möglichst emotional und gerne auch in der Popkultur.

 

Der Erste Weltkrieg in bewegten Bildern

In Zusammenarbeit mit dem Guardian präsentiert die Süddeutsche Zeitung eine interaktive Grafik mit Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Historiker aus mehreren Ländern geben dabei Analysen und Hintergrundinformationen zu dem Kriegsgeschehen. Die Beiträge sind in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

 

1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War

Hören Sie sich hier die Aufzeichnung der Diskussion “1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War” vom 18. Juni an. Im DHI London diskutieren Margaret MacMillan, Annika Mombauer, Sönke Neitzel und John Röhl unter der Leitung von Mark Hewitson über den Grund des Kriegsausbruchs. Obwohl Andreas Gestrich, Direktor des DHIs, treffend feststellt, dass “jeden Tag ein Buch über den Ersten Weltkrieg erscheint und wahrscheinlich jede Sekunde eine Veranstaltung stattfindet – zumindest in London” geht die Meinung der Historiker bezüglich der Gründe des Krieges, und somit auch der Schuldfrage, stark auseinander.

 

Quelle: http://gid.hypotheses.org/1129

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Linkdossier: „Im Gedenkjahr nichts Neues?“ Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas

Auch anlässlich der Podiumsdiskussion „Im Gedenkjahr nichts Neues?“ Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas am 16. September 2014 haben wir hier wieder einige Links zu interessanten Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg und Erinnerungskultur gesammelt, da das Internet immer mehr zum Gedächtnisort wird.

Online-Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung

Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet nicht nur ein umfangreiches Dossier zum Ersten Weltkrieg an, sondern gibt auch ein kostenloses E-Book heraus – Aus dem Vorstellungstext:

Die Edition versammelt 22 Texte zum Ersten Weltkrieg und zur unmittelbaren Vorkriegszeit: 13 davon sind 2013 und 2014 in “Aus Politik und Zeitgeschichte” erschienen, sechs wurden als Radioessays in der Reihe “Wegmarken” im Deutschlandfunk gesendet. Den Abschluss bilden drei Impulsreferate, die im April 2014 auf dem Symposium “1914–2014″ des Deutschlandfunks gehalten wurden.

Kein Denkmal für den Toten

In ihrem Artikel in der Zeit setzen sich Alma Hannig und Paul Miller mit der Erinnerung an Franz Ferdinand auseinander und beleuchten die Frage, warum der Tod das Lebenswerk des Erzherzogs überschattet:

Man kann nicht erwarten, dass die Erinnerung den folgenreichen Tod des Thronfolgers ausklammert. Aber er wird darauf reduziert. Der Erzherzog hat ein halbes Jahrhundert lang gelebt, sich für die Habsburgermonarchie sowie die Modernisierung ihrer Armee engagiert und schließlich eine der glücklichsten Ehen und Familien in der habsburgischen Geschichte geführt. Vielleicht ist all dies nicht so aufregend wie das Drama vom 28. Juni 1914, aber es verdient einen prominenteren Platz im kollektiven Gedächtnis der Österreicher.

 

Kollektives und kulturelles Erinnern

In seinem Aufsatz setzt sich Christoph Cornelißen mit Erinnerungskultur auseinander. Er kontrastiert das “kollektive Gedächtnis” und das “kulturelle Gedächtnis”, schildert die Wandlung vom Heldenmythos zum Opfergedenken und der (pop-)kulturellen Auseinandersetzung mit Geschichte.

Erinnerungskulturen sollten aber nicht, wie es oft geschieht, als statische Gedächtnisse von Gruppen verstanden werden, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozess, in dem politische und gesellschaftliche Aspekte ausgehandelt werden. Wenn man also Erinnerungskulturen moderner Gesellschaften untersucht, geht es darum, das In-, Mit- und Nebeneinander eines von diversen Erinnerungskokurrenzen geprägten dynamischen Geschehens auszuloten. Je nach Generationszugehörigkeit, Geschlecht, Religion, Ethnie oder auch sozialen wie milieubedingten Zusammenhängen werden die gleichen Vorgänge untereschiedlich erinnert, auch deswegen, wie die Wortführer der jeweiligen Gruppen spezifische soziale Autobiografien konstruieren, die dann den Individuen eine zumindest partielle Identitätsfindung erlauben.

 

Umkämpfte Erinnerung – wie mit Geschichte Politik gemacht wird

Schon 2012 wurde Erinnerungskultur im Rahmen von Geisteswissenschaften im Dialog unter dem Titel besprochen. Bei perspectivia.net finden Sie Audiomitschnitte der Vorträge von Prof. Dr. Ute Daniel, Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt, Prof. Dr. Günther Heydemann sowie der Podiumsdiskussion mit der Moderation von Hilde Weeg. Falls Ihnen der Audiomitschnitt nicht genügt und Sie die TeilnehmerInnen in voller Person sehen möchten gibt es ebenfalls einen Videomitschnitt. Auch unser Linkdossier zur Geschichtspolitik bietet eine Übersicht.

Aktivitäten der Max Weber Stiftung zum Centennium

Auch die Institute der Max Weber Stiftung begleiten den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Die Projekte widmen sich dabei unterschiedlichen regionalen Perspektiven, von der virtuellen Ausstellung und Katalog der Bandō-Sammlung des Deutschen Instituts für Japanstudien Tokyo, das Originalmaterialen aus dem Kriegsgefangenenlager Bandō zugänglich macht bis zum Grande Guerre-Blog, das die Projekte der Institute näher vorstellt.

WeberWorldCafé

Vor der Podiumsdiskussion findet das zweite WeberWorldCafé statt. Unter dem Titel „Narrating the First World War – Experiences and Reports from Transregional Perspectives“ diskutieren NachwuchswissenschaftlerInnen mit Experten an mehreren Tischen zu Fragestellungen aus transregionaler Perspektive. So rückt das alltägliche Leben im Krieg in außereuropäischen Regionen ebenso in Blickfeld wie der Umgang mit dem Kriegsleid in der Literatur. Auf dem Blog zur Veranstaltung finden Sie weitere Linktipps sowie vorab Interviews mit den ExpertInnen.

Quelle: http://gid.hypotheses.org/1121

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24. Europa oder die Neue Unbehaustheit

faltenWann leben wir eigentlich?

Wenn die kritisch-zweifelnde Systemfrage aufgeworfen wird, dann geschieht das zumeist in räumlicher Hinsicht: „Ja, wo leben wir denn eigentlich?“ – das ist so ein Satz, der Empörungen der unterschiedlichsten Art zum Ausdruck zu bringen vermag. Interessanterweise gibt es die zeitliche Variante dieses Satzes meines Wissens nicht: „Ja, wann leben wir denn eigentlich?“ Eine solche Frage erscheint auch nicht sonderlich sinnvoll. Ein kurzer Blick auf Datum und Uhrzeit verschafft Klarheit: Wir leben jetzt. Eine Existenz in anderen Zeiten mag zwar wünschenswert sein, erweist sich aber hartnäckig als unmöglich.

Die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament hatten ein eindeutiges Datum. Sie wurden am 25. Mai 2014 abgeschlossen und gehören inzwischen der (allerjüngsten) Vergangenheit an. Das Ergebnis dieser Wahlen lässt aber nicht nur die Frage berechtigt erscheinen, wo wir denn hier leben, sondern auch wann das europäische Wahlvolk eigentlich leben möchte.

Abgesehen von der Wahlbeteiligung, die immer wieder Anlass zur Sorge bereitet, ist es das Abschneiden der Parteien an den politischen Rändern, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgt. In diesem Jahr gab es für genau diese Sorge wohl so viel Anlass wie selten zuvor. Der Front National wurde in Frankreich zur stärksten Partei, die FPÖ fährt in Österreich Traumergebnisse ein, die UKIP proletet sich zu kontinentaler Aufmerksamkeit, auch aus in Dänemark, Finnland oder den Niederlanden ziehen rechtsgerichtete Parteien in das neue Parlament ein. Sie richten sich, ebenso wie die deutsche AfD, mehr oder minder deutlich gegen die Europäische Union – und lassen sich trotzdem in deren Vertretung wählen. Was in jedem Kleingärtnerverein aufgrund offensichtlicher Absurdität unmöglich wäre, nämlich einen bekennenden Feind des Kleingartenwesens in den Vorstand zu befördern, geht auf der europäischen Ebene problemlos. Das Paradox der Demokratie wird hier auf die Spitze getrieben, dass sich nämlich Menschen und Parteien in ein Parlament wählen lassen, um dort das Ziel zu verfolgen, genau dieses Parlament zum Verschwinden zu bringen – und somit an ihrer eigenen Abschaffung zu arbeiten.

Die Suche nach den Ursachen dieses nicht ganz überraschenden, weil bereits prognostizierten Ergebnisses wurde unmittelbar nach der Wahl hektisch aufgenommen, hielt ungefähr eine Woche an (immerhin so lange war diese Nachricht eine „Nachricht“), um dann nicht abgeschlossen, sondern abgebrochen zu werden. Bis zum nächsten Mal.

Was könnte der Grund dafür sein, dass Populisten unterschiedlicher Couleur mit einem Mal so erfolgreich sind? Es könnte natürlich an ihnen selbst liegen: Geschickte Despoten, die mit steilen, populistischen Thesen, mit dem Angebot einfacher Rezepte für komplexe Phänomene, mit einer gelungenen PR-Maschinerie und nicht zuletzt mit dem einen oder anderen exotischen Aperçu (Wilders‘ Frisur, die Pub-Auftritte von Farage, die Erbmonarchie der Familie Le Pen, die musikalischen Ausfälle von HC Strache) das leicht verführbare Wahlvolk um den Finger wickeln. Oder ist es doch der nicht auszurottende Mythos vom EU-Bürokratiemonster, mit dem man kleine Kinder erschrecken und die wahlberechtigte Bevölkerung Europas auf die Palme treiben kann? (Denn bekanntermaßen ist keine Bürokratie auch keine Lösung [1].) Oder liegt es vielleicht an der sogenannten „Bürgerferne“ der Europäischen Union, also an dem Umstand, dass die europäischen Einrichtungen noch unnahbarer wirken als andere Institutionen politischer Entscheidungsgewalt, weil sie nicht nur räumlich weit weg erscheinen, sondern auch aufgrund geringerer medialer Präsenz undurchschaubar anmuten? Und wenn die EU so „weit weg“ ist – so eine weitere mögliche Erklärung für dieses Ergebnis –, muss man die Wahlen zum Parlament (das ja nun tatsächlich verhältnismäßig wenige Kompetenzen besitzt) auch nicht sonderlich ernst nehmen, muss sie nicht durch eine hohe Wahlbeteiligung adeln und kann auch mal eine Partei am Rande des politischen Spektrums wählen, der man bei nationalen Wahlen die Stimme verweigern würde. All diese Faktoren werden eine Rolle spielen, erklären aber noch nicht hinreichend, warum europafeindliche Parteien mit dem Argument punkten konnten, das Europa eine Bedrohung sei, warum man die eigene Bevölkerung vor Europa schützen müsse, warum man die Union am besten gleich zerschlagen solle.

Ein temporaler Faltenwurf

Ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die sich bei diesen Wahlen gegen Europa ausgesprochen haben, in ein einfaches Rechts-Links-Schema eingeordnet werden können. Es sind nicht nur rechtsgerichtete Gruppierungen, sondern ebenso linke Parteien, die Europa massiv kritisch gegenüberstehen, wie die italienischen Cinque Stelle, die griechische Syriza oder die tschechischen Kommunisten. Europa hat also keinen Rechtsruck erlebt, wie man vielfach lesen konnte, sondern eher einen temporalen Faltenwurf. Denn die Europäische Union scheint ja nicht deswegen bedrohlich zu wirken, weil es „zu links“ oder „zu rechts“ wäre (wüsste denn irgendjemand aus dem Stegreif zu sagen, wie die politischen Gewichte im europäischen Parlament oder in der wesentlich einflussreicheren Kommission verteilt sind?). Europa wirkt bedrohlich – weil es Europa ist! Und hier haben wir es nicht nur bei den EU-Institutionen, sondern bei all den Ideen, Konzepten und Vorstellungen, die man mit „Europa“ verbinden kann, mit einer komplexen Gemengelage zu tun, die sich nicht mehr auf einfache Schemata herunterbrechen lässt.

Bei der Wahl zum europäischen Parlament sind also weniger eindeutige politische Lager gegeneinander angetreten als vielmehr unterschiedliche Verzeitungen aufeinandergeprallt. Es spricht einiges dafür, dass nicht zuletzt diejenigen mit dem europäischen Projekt unzufrieden sind, die sich als Verlierer von 1989 und seinen Folgen sehen. Die Dualismen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben [2], waren zwar bereits zeitgenössisch zu simpel gestrickt, organisierten aber Wirklichkeit auf eine übersichtliche Weise. Nach 1989 und damit nach dem Versagen vereinfachter Geschichtsnarrative, nach dem Ende der Kalten-Kriegs-Rhetorik, nach dem Wiederauftreten vermeintlicher überkommener Nationalismen (nicht nur im ehemaligen Jugoslawien) sowie nach der wieder erstarkenden neuen Deutungsmacht von Religionen (die doch vermeintlich einer säkularisierten Welt nichts mehr zu suchen hatten) war die Situation, gelinde gesagt, unübersichtlich geworden. [3]

Die Gestrandeten im postideologischen Zeitalter konnten sich nun auf die neuen Offenheiten und Herausforderungen einlassen – oder sich von den Unübersichtlichkeiten und Bedrohungen überfordert fühlen. „Europa“ steht stellvertretend für die Reorganisation der politischen Welt, da es als neue supranationale Einrichtung die bis dahin gültigen Organisationsrahmen sprengt, ohne sie wirklich ersetzen zu können. An die Stelle der erwünschten nationalen Einheit rückt eine europäische Mannigfaltigkeit, die verunsichern kann. Gegen Europa zu stimmen, heißt daher nicht zuletzt, gegen diese als überkomplex wahrgenommene Vielfalt zu votieren. Allerdings wäre es irreführend, dieses Phänomen mit dem Stichwort der Ungleichzeitigkeit fassen zu wollen, so als hätten diejenigen, die sich gegen Europa richten, ein „falsches“ Bewusstsein, das es zu ändern gelte. Vielmehr haben wir es hier mit dem sehr üblichen Phänomen der Pluritemporalität zu tun, also mit einer Vielzeitigkeit, die es Menschen und Kollektiven ermöglicht, Früheres, Späteres und Gleichzeitiges auf unterschiedliche Art und Weise miteinander zu verknüpfen und vor allem auch mit diversen Bedeutungen zu versehen. [4] Insofern muss sich „Europa“ und müssen wir alle uns nicht nur der Frage stellen, wo wir denn eigentlich leben, sondern auch damit beschäftigen, wann wir denn eigentlich leben wollen.

 

[1] Robert Menasse: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012; Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, Berlin 2011.

[2] Alain Badiou: Das Jahrhundert, 2. Aufl. Zürich 2010.

[3] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.

[4] Achim Landwehr: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012) 1-34


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/06/11/24-europa-oder-die-neue-unbehaustheit/

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21. Sarkozy und die Terminkalender

Unordnung und spätes LeidKalender

Nicolas Sarkozy hätte gerne seine Vergangenheit zurück. Bekommt er aber nicht. Der französische Kassationshof hat als höchste gerichtliche Instanz entschieden, dass die Vergangenheit des ehemaligen französischen Präsidenten wenn auch kein nationaler Erinnerungsort, so doch zumindest Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen ist. Also bleibt diese Vergangenheit vorerst in der Obhut des Staates – dessen Stärke bei der Verfolgung von Straftätern Sarkozy als aktiver Politiker, vor allem agiler Innenminister immer wieder so gern betont hat. Ganz Populist, sprach er damals davon, die Jugendkriminalität aus den banlieues herauskärchern zu wollen. Nun ist ihm der Hochdruckreiniger selbst auf den Fersen.

Es gibt ja auch einiges zu tun, selbst wenn im Moment noch nicht klar ist, was strafrechtlich davon übrigbleiben wird. Den Überblick über die Affären und Untersuchungsverfahren kann man derzeit leichthin verlieren. Hier ist nicht der Ort, um das im Detail nachzuerzählen – zumal noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, was denn nun tatsächlich wann passiert ist. Auf jeden Fall geht es um Geld und Wahlkämpfe, um dubiose Freundschaften und befremdliche Kanäle für Spenden und Informationen. Der Prozess wegen illegaler Parteispenden der L’Oreal-Erbin Ingrid Bettencourt wurde aus Mangeln an Beweisen bereits eingestellt, aber da steht ja noch der Verdacht im Raum, vom lybischen Diktator Gaddafi Geld angenommen zu haben (auch keine politische „Freundschaft“, mit der man aktuell noch in Verbindung gebracht werden möchte…). Zudem kam beim Abhören des Mobiltelefons von Sarkozy der Verdacht auf, er hätte Informationen von einem Mitarbeiter des französischen Kassationshofes erhalten. Schließlich ist auch noch nicht geklärt, wie Bernard Tapie zu der erheblichen Entschädigungssumme von 403 Millionen Euro kam – wobei sich der den Sozialisten nahestehende Tapie vor und nach dieser Entscheidung auffallend oft mit dem konservativen Sarkozy traf. Delikat ist schließlich auch Sarkozys ehemaliger Berater Patrick Buisson, der hunderte von Gesprächen mit seinem Chef mitschnitt. Wie praktisch, wenn man der Polizei das Mitlauschen abnimmt, indem man sich die lebende Abhöranlage gleich ins Haus holt.

Synchronisation von Unterschiedlichem

Um Ordnung in diesen Wust zu bekommen, interessieren sich die Ermittlungsbehörden nun für die Vergangenheit Sarkozys in ihrer dokumentierten Form: für seine Terminkalender. So ein Terminkalender ist ein seltsam‘ Ding. Eine Ansammlung weitgehend leerer Blätter, nur versehen mit den wichtigsten Informationen zu den Tagen, Wochen und Monaten. Ansonsten nichts. Und dafür darf man auch noch Geld bezahlen. Gut, spätestens mit den elektronischen Kalendern hat sich das mit dem Bezahlen erledigt, aber das formale Prinzip ist sich gleich geblieben. Und elektronische Kalender, so würde ich mal vermuten, gehen in Regierungskreisen gar nicht. Da könnte man deren Inhalt an alle Geheimdienste dieser Welt gleich selbst übermitteln. Also werden die so genannten politischen „Entscheider“ dieser Welt (einer der hässlichsten Neologismen der Welt) ihre Termine schön abhörsicher auf Papier führen.

Dank Sarkozy wird der Terminkalender endlich einmal in das Rampenlicht gestellt, das ihm gebührt. Dieses ansonsten so unscheinbare und selbstverständliche Medium ist eine der interessantesten Erfindungen der europäischen Kulturgeschichte, weil es Indiz für ein ganz bestimmtes Zeitwissen ist, das sich keineswegs von selbst versteht. Zeit als verfügbare und beplanbare Ressource hat sich – nimmt man die Existenz von Terminkalendern als Indiz – nicht vor dem späten 17. Jahrhundert als Idee durchgesetzt. Damit wurde es möglich, unterschiedliche Dinge zur gleichen Zeit zu synchronisieren – zum Beispiel Treffen mit diversen Wahlkampfspendern.

Werbepause

Wir unterbrechen unsere Argumentation an dieser Stelle für einen kurzen Werbeblock: Vielleicht nicht ganz passend zur französischen Staatsaffäre, aber durchaus passend zum größeren thematischen Zusammenhang möchte ich gänzlich unbescheiden an dieser Stelle auf mein neues Buch aufmerksam machen: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Zugegeben, es handelt nicht von Sarkozy oder sonstigen mehr oder minder tagesaktuellen Angelegenheiten. Tatsächlich konzentriert es sich mit dem 17. Jahrhundert sogar auf einen Zeitraum, der nun tatsächlich verhältnismäßig weit weg von unserer eigenen Gegenwart zu sein scheint. Aber Aktualität bemisst sich ja nicht nur nach diachroner Nähe oder Ferne, sondern nach Relevanz für unser Hier und Heute! Und da denke ich, dass uns das 17. Jahrhundert einiges zu bieten hat. Zum Beispiel den Terminkalender! Und die Gegenwart! Beides wurde nämlich, so versuche ich in diesem Buch zu zeigen, im Verlauf des 17. Jahrhunderts „erfunden“, mit Folgen, die Sarkozy gerade zu spüren bekommt. Wie man im 17. Jahrhundert mit Zeit umgegangen ist, was das mit uns heute zu tun hat und was (Termin-)Kalender uns darüber verraten können – das und einiges mehr wird in diesem Buch verhandelt. Ende der Werbepause.

Illusion des Kalenders

Wenn nun die französische Polizei die Terminkalender von Sarkozy beschlagnahmt hat, dann könnte es allerdings sein, dass die Hoffnungen auf ein eindeutiges Ermittlungsergebnis enttäuscht werden. Denn Terminkalender teilen die Schwierigkeiten aller Medien, die uns aus einer Vergangenheit überliefert sind. Sie stellen zwar bestimmte Verbindungen zwischen gegenwärtigen und vergangenen Wirklichkeiten her, diese müssen aber keineswegs eindeutig sein. Wenn in den Terminkalendern von Sarkozy ein Treffen mit Bettencourt, Tapie oder Gaddafi eingetragen ist, muss es dann zwangsläufig um Parteispenden gegangen sein? Vielleicht wurden mit guten Freunden auch nur ein paar Beziehungsprobleme diskutiert? Vielleicht hat das Treffen auch gar nicht stattgefunden, denn nur weil ein terminkalendarischer Eintrag vorhanden ist, muss dem nicht zwangsläufig ein Ereignis in der außerkalendarischen Welt entsprechen. Wir haben es also mit bestimmten Übertragungsleistungen zu tun, die das historische Material erbringt, bei denen das Ausgangsmaterial aber auch jedes Mal verändert wird, ohne dass sich die Transformationen bis ins Letzte ausleuchten lassen. Erst unser Zeit- und Geschichtsverständnis bastelt aus Gründen der Nachvollziehbarkeit daraus im Nachhinein eine eindeutige Erzählung.

Und auch hierbei spielt der Kalender wieder eine wesentliche Rolle. Denn er gibt mit seinem strengen zeitlichen Nacheinander der Illusion weitere Nahrung, wir hätten es bei unserem eigenen Leben mit einem stringenten „Lebenslauf“ zu tun. Wenn man nur Tag für Tag etwas hineinschreibt, ergibt sich quasi von selbst eine Geschichte. [1] Aber nicht weil diese Geschichte tatsächlich so passiert ist, sondern weil wir diese Geschichte so erzählen. Helmut Kohl hat mit seinen Erinnerungen unter anderem vorgemacht, wie das geht. Nicht zuletzt deswegen sind die Terminkalender für Sarkozy so wichtig. Sicherlich geht es um Dokumente, die im Moment aus juristischen Gründen für ihn problematisch werden könnten. Darüber hinaus geht es aber auch um die Deutungsmacht über seine Biographie und seine Präsidentschaft. Jetzt könnte es nämlich sein, dass diese nicht mehr bei ihm selbst liegt, sondern von anderen übernommen wird. Wenn Sarkozy also irgendwann die Terminkalender wieder ausgehändigt bekommt, wird er dadurch wohlmöglich nicht mehr seine Vergangenheit zurückbekommen. Er könnte stattdessen eine bereits fertig geschriebene, aber nicht seinen Interessen entsprechende Geschichte vorgesetzt bekommen.

[1] Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte, Berlin 2012.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2014/03/17/21-sarkozy-und-die-terminkalender/

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Delegitimation eines linken Verlages …

Offener Brief von Markus Mohr

Der LAIKA-Verlag hat mit einer Pressemitteilung (PDF) vom 25. Februar 2014 anlässlich der Buchmesse in Leipzig für den 15. März zu einer Podiumsdiskussion zum Thema »Antifaschismus als Feindbild« eingeladen. Der Titel spielt auf ein vom Verlag dankenswerter Weise jüngst publiziertes Buch zum Zwecke der Solidarität mit dem durch die sächsische Justiz kriminalisierten Pfarrer Lothar König an. Zu den Eingeladenen der Podiumsdiskussion zählt auch die rund ein Jahrzehnt bis Ende Mai 2013 amtierende Leiterin der Abteilung Verfassungsschutz (VS) aus dem Innenministerium des Landes Brandenburg Frau Winfriede Schreiber.

Dem LAIKA-Verlag ist natürlich bekannt,

  • dass der VS Brandenburg über Jahre hinweg den vom ehemaligen Generalbundesanwalt Wolfgang Pfaff angeworbenen Neofaschisten Carsten Szczepanski unter dem Decknamen „Piato“ auf seiner Lohnliste geführt hat. Szczepanski war am 13. Februar 1995 vom Landgericht Frankfurt / Oder wegen Beihilfe zu versuchten Mord an dem nigerianischen Flüchtling Steve Erinhi zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden.
  • dass der Neofaschist Szczepanski in den Jahren zwischen 1994 bis 1998 mit dem Mitarbeiter des VS Brandenburg Herrn Gordian Meyer-Plath in excellenter Weise zusammengearbeitet hat. Beide haben sich in mehr als 30 Treffen geduzt oder um es mit den Worten des V-Mann-Führers Meyer-Plath zu sagen: „Hier hat alles gepasst …”
  • dass der VS Brandenburg mit Hilfe von Falschbehauptungen gegenüber den Justizbehörden eine vorzeitige Freilassung von Szczepanski erreicht hat, um ihn danach als Beisitzer im NPD-Landesvorstand und Leiter des Ordnungsdienstes dieser Partei finanziell großzügig zu alimentieren.
  • dass es dem VS Brandenburg gelungen ist Szczepanski im Chemnitzer Netzwerk der NSU-Unterstützer um Sachsens Blood & Honour-Sektionschef Jan Werner, der Vertrauensperson des Berliner Landeskriminalamtes Thomas Starke sowie Antje Probst, der Eigentümerin einer Nazi-Devotionalienfirma, erfolgreich zu integrieren.
  • dass der Duz-Kumpel von „Piato“ Herr Meyer-Plath noch als Referatsleiter Rechtsextremismus Anfang September 2010 für die lokale Neofaschistenszene in Strausberg bei Berlin eine Fortbildungsveranstaltung durchgeführt hat, um sich auch so für den Posten des Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen zu qualifizieren, das er ab August 2013 ausübt
  • dass der VS Brandenburg in der Amtszeit von Frau Schreiber die links-alternativen Wohnprojekte Inwole e.V. aus Potsdam, das JugendWohnProjekt (JWP) „MittenDrin“ aus Neuruppin und die Punkband Krachakne in der Öffentlichkeit als „linksextremistisch“ und „gewaltbereit“ in Verruf gebracht hat – mit zum Teil negativen Konsequenzen was den Zufluss staatlicher Gelder für die Jugendarbeit betrifft.
  • dass von Frau Schreiber gegen Ende ihrer Amtszeit mit dem sogenannten „Extremographen“ eine Landkarte Brandenburgs erstellt worden ist, in der autonome Gruppen und Ortsgruppen der Roten Hilfe an die Seite von neofaschistischen Organisationen gestellt und visualisiert werden.
  • dass auch in Folge dieser Verrufspraxis mittlerweile gegen den Landtagsabgeordneten der Partei die Linke Norbert Müller in der Öffentlichkeit ein Kesseltreiben wegen seiner Mitgliedschaft in der Roten Hilfe betrieben wird.
  • dass die Leiterin des VS Brandenburg a. D. Frau Schreiber eine prominente Spielerin im Zitierkartell des Verfassungsschutzprofessors Armin Pfahl-Traughber ist. Dieser hat im Jahre 2010 das Buch: „Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes“ herausgegeben. Mit dieser programmatischen Schrift, inklusive eines Aufsatzes von Frau Schreiber, wird aktuell das Neuarrangement der VS-Behörden nach den „Irritationen“ begründet, die man dort wohl nach dem auffliegen der NSU-Mordserie empfindet. In diesem Bezug weiß Frau Schreiber nur zu gut, worin der eigentliche Sinn in der öffentlichen Verwendung  der Manipulationsformeln eines Verfassungsschutzes „zum Anfassen“ oder eines „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ liegt: Sie dienen allerdings dazu die operative Eindringtiefe dieser irregulär arbeitenden Institution der inneren Sicherheit in die Gesellschaft weiter zu erhöhen.

Und doch hat sich der LAIKA-Verlag dazu entschlossen mit Frau Schreiber ein, so hat es mir der Geschäftsführer Karl-Heinz Dellwo auf Anfrage erklärt, „kritisches“ Gespräch zu führen. Das ist zulässig, jeder Beamte der Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik wird das bestätigen. Was sich die als VS-Funktionärin sowieso irregulär wie intransparent argumentierende Frau Schreiber von der besagten Veranstaltung des LAIKA-Verlages erhofft, kann schon jetzt als bekannt vorausgesetzt werden. Und auf die Frage danach, ob denn der Antifaschismus „kriminell“ ist wird sie natürlich antworten: „Sofern der sich immer nach den jeweiligen Anordnungen des Einsatzleiters der Polizei richtet, iwo!“  Kurz: Mit einem harmlosen Antifaschismus hat auch Frau Schreiber kein Problem und die umsichtige staatliche Verwaltung des Neofaschismus wird sie sich auch in der Zukunft sowieso von niemanden streitig machen lassen.

Warum aber nur will der LAIKA-Verlag seinem Publikum solche VS-Binsen zumuten? Was – bitte schön – verspricht er sich von der geplanten Integration einer VS-Funktionärin in einer Veranstaltung ausgerechnet zum Thema Antifaschismus? Will er womöglich, um hier einmal K.H. Dellwo mit einer schmackigen Aussage aus einem Statement Anfang Oktober 2013 anlässlich der Buchmesse in Frankfurt zu zitieren „die Leute systemkompatibel ins Grab (…) bringen bevor sie den allumfassenden Betrug an ihrem Leben begreifen“?

Kurz: Eine rationale Diskussion mit VS-Beschäftigten ist schon alleine deshalb eine logische Unmöglichkeit, da sie qua ihrer Institution in jeder Weise dazu ermächtigt sind, bei Bedarf  zu tricksen, zu täuschen, zu manipulieren, zu betrügen und zu lügen. Das und nichts anderes ist noch immer die handfeste Theorie wie Praxis eines Geheimdienstes.

Bei allem Respekt vor warmen Reputationssehnsüchten und notwendig abgewichsten Businessinteressen des LAIKA-Verlages: Die Entscheidung Frau Schreiber eine Bühne zur Propagierung ihrer Manipulationsformeln zur Praxis ihres VS zu eröffnen, ist in einem politischen Sinne in jeder nur erdenklichen Art und Weise falsch – sofern  man sie an die allerdings zu stellenden Ansprüche an einen sich selbst als „links“ etikettierenden Verlag misst. Wie man es auch dreht und wendet: Dieser Angelegenheit ist beim besten Willen kein Humor abzugewinnen.

Markus Mohr, Hamburg, den 10. März 2014

Markus Mohr ist u.a. Herausgeber des Buchprojektes „bambule – Zur Geschichte der Roten Hilfe in der BRD“ im LAIKA Verlag.


Einsortiert unter:Erfahrungen, Geschichtspolitik, Historiker, Interna, Linke Debatte, Medien, Meinung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2014/03/10/delegitimation-eines-linken-verlages/

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Delegitimation eines linken Verlages …

Offener Brief von Markus Mohr

Der LAIKA-Verlag hat mit einer Pressemitteilung (PDF) vom 25. Februar 2014 anlässlich der Buchmesse in Leipzig für den 15. März zu einer Podiumsdiskussion zum Thema »Antifaschismus als Feindbild« eingeladen. Der Titel spielt auf ein vom Verlag dankenswerter Weise jüngst publiziertes Buch zum Zwecke der Solidarität mit dem durch die sächsische Justiz kriminalisierten Pfarrer Lothar König an. Zu den Eingeladenen der Podiumsdiskussion zählt auch die rund ein Jahrzehnt bis Ende Mai 2013 amtierende Leiterin der Abteilung Verfassungsschutz (VS) aus dem Innenministerium des Landes Brandenburg Frau Winfriede Schreiber.

Dem LAIKA-Verlag ist natürlich bekannt,

  • dass der VS Brandenburg über Jahre hinweg den vom ehemaligen Generalbundesanwalt Wolfgang Pfaff angeworbenen Neofaschisten Carsten Szczepanski unter dem Decknamen „Piato“ auf seiner Lohnliste geführt hat. Szczepanski war am 13. Februar 1995 vom Landgericht Frankfurt / Oder wegen Beihilfe zu versuchten Mord an dem nigerianischen Flüchtling Steve Erinhi zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden.
  • dass der Neofaschist Szczepanski in den Jahren zwischen 1994 bis 1998 mit dem Mitarbeiter des VS Brandenburg Herrn Gordian Meyer-Plath in excellenter Weise zusammengearbeitet hat. Beide haben sich in mehr als 30 Treffen geduzt oder um es mit den Worten des V-Mann-Führers Meyer-Plath zu sagen: „Hier hat alles gepasst …”
  • dass der VS Brandenburg mit Hilfe von Falschbehauptungen gegenüber den Justizbehörden eine vorzeitige Freilassung von Szczepanski erreicht hat, um ihn danach als Beisitzer im NPD-Landesvorstand und Leiter des Ordnungsdienstes dieser Partei finanziell großzügig zu alimentieren.
  • dass es dem VS Brandenburg gelungen ist Szczepanski im Chemnitzer Netzwerk der NSU-Unterstützer um Sachsens Blood & Honour-Sektionschef Jan Werner, der Vertrauensperson des Berliner Landeskriminalamtes Thomas Starke sowie Antje Probst, der Eigentümerin einer Nazi-Devotionalienfirma, erfolgreich zu integrieren.
  • dass der Duz-Kumpel von „Piato“ Herr Meyer-Plath noch als Referatsleiter Rechtsextremismus Anfang September 2010 für die lokale Neofaschistenszene in Strausberg bei Berlin eine Fortbildungsveranstaltung durchgeführt hat, um sich auch so für den Posten des Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen zu qualifizieren, das er ab August 2013 ausübt
  • dass der VS Brandenburg in der Amtszeit von Frau Schreiber die links-alternativen Wohnprojekte Inwole e.V. aus Potsdam, das JugendWohnProjekt (JWP) „MittenDrin“ aus Neuruppin und die Punkband Krachakne in der Öffentlichkeit als „linksextremistisch“ und „gewaltbereit“ in Verruf gebracht hat – mit zum Teil negativen Konsequenzen was den Zufluss staatlicher Gelder für die Jugendarbeit betrifft.
  • dass von Frau Schreiber gegen Ende ihrer Amtszeit mit dem sogenannten „Extremographen“ eine Landkarte Brandenburgs erstellt worden ist, in der autonome Gruppen und Ortsgruppen der Roten Hilfe an die Seite von neofaschistischen Organisationen gestellt und visualisiert werden.
  • dass auch in Folge dieser Verrufspraxis mittlerweile gegen den Landtagsabgeordneten der Partei die Linke Norbert Müller in der Öffentlichkeit ein Kesseltreiben wegen seiner Mitgliedschaft in der Roten Hilfe betrieben wird.
  • dass die Leiterin des VS Brandenburg a. D. Frau Schreiber eine prominente Spielerin im Zitierkartell des Verfassungsschutzprofessors Armin Pfahl-Traughber ist. Dieser hat im Jahre 2010 das Buch: „Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes“ herausgegeben. Mit dieser programmatischen Schrift, inklusive eines Aufsatzes von Frau Schreiber, wird aktuell das Neuarrangement der VS-Behörden nach den „Irritationen“ begründet, die man dort wohl nach dem auffliegen der NSU-Mordserie empfindet. In diesem Bezug weiß Frau Schreiber nur zu gut, worin der eigentliche Sinn in der öffentlichen Verwendung  der Manipulationsformeln eines Verfassungsschutzes „zum Anfassen“ oder eines „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ liegt: Sie dienen allerdings dazu die operative Eindringtiefe dieser irregulär arbeitenden Institution der inneren Sicherheit in die Gesellschaft weiter zu erhöhen.

Und doch hat sich der LAIKA-Verlag dazu entschlossen mit Frau Schreiber ein, so hat es mir der Geschäftsführer Karl-Heinz Dellwo auf Anfrage erklärt, „kritisches“ Gespräch zu führen. Das ist zulässig, jeder Beamte der Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik wird das bestätigen. Was sich die als VS-Funktionärin sowieso irregulär wie intransparent argumentierende Frau Schreiber von der besagten Veranstaltung des LAIKA-Verlages erhofft, kann schon jetzt als bekannt vorausgesetzt werden. Und auf die Frage danach, ob denn der Antifaschismus „kriminell“ ist wird sie natürlich antworten: „Sofern der sich immer nach den jeweiligen Anordnungen des Einsatzleiters der Polizei richtet, iwo!“  Kurz: Mit einem harmlosen Antifaschismus hat auch Frau Schreiber kein Problem und die umsichtige staatliche Verwaltung des Neofaschismus wird sie sich auch in der Zukunft sowieso von niemanden streitig machen lassen.

Warum aber nur will der LAIKA-Verlag seinem Publikum solche VS-Binsen zumuten? Was – bitte schön – verspricht er sich von der geplanten Integration einer VS-Funktionärin in einer Veranstaltung ausgerechnet zum Thema Antifaschismus? Will er womöglich, um hier einmal K.H. Dellwo mit einer schmackigen Aussage aus einem Statement Anfang Oktober 2013 anlässlich der Buchmesse in Frankfurt zu zitieren „die Leute systemkompatibel ins Grab (…) bringen bevor sie den allumfassenden Betrug an ihrem Leben begreifen“?

Kurz: Eine rationale Diskussion mit VS-Beschäftigten ist schon alleine deshalb eine logische Unmöglichkeit, da sie qua ihrer Institution in jeder Weise dazu ermächtigt sind, bei Bedarf  zu tricksen, zu täuschen, zu manipulieren, zu betrügen und zu lügen. Das und nichts anderes ist noch immer die handfeste Theorie wie Praxis eines Geheimdienstes.

Bei allem Respekt vor warmen Reputationssehnsüchten und notwendig abgewichsten Businessinteressen des LAIKA-Verlages: Die Entscheidung Frau Schreiber eine Bühne zur Propagierung ihrer Manipulationsformeln zur Praxis ihres VS zu eröffnen, ist in einem politischen Sinne in jeder nur erdenklichen Art und Weise falsch – sofern  man sie an die allerdings zu stellenden Ansprüche an einen sich selbst als „links“ etikettierenden Verlag misst. Wie man es auch dreht und wendet: Dieser Angelegenheit ist beim besten Willen kein Humor abzugewinnen.

Markus Mohr, Hamburg, den 10. März 2014

Markus Mohr ist u.a. Herausgeber des Buchprojektes „bambule – Zur Geschichte der Roten Hilfe in der BRD“ im LAIKA Verlag.


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2014/03/10/delegitimation-eines-linken-verlages/

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