Bin „mit diesem Gedanken lange schwanger gegangen […], den König von Westphalen zu ermorden“ – Selbstbeschuldigung des Oberrechenkammerreferendars Heinrich F. Kaulwell (März 1813)


RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 10268–10346, hier Nr. 10338 (u.a. Korrespondenz von François Thibault de Guntz, Generalpolizeikommissar in Braunschweig, mit J. F. M. de Bongars, Generalinspektor der Gendarmerie mit der Hohen Polizei beauftragt, 1813)

 

Nr. 10338

[Briefkopf]

Königliche Gendarmerie.

District Cassel

„Proces-Verbal […] die Arrestation des Cammer Refrendaire H. Friedrich Kaulwell aus Mannsfeld District Halle […] Saale gebürtig, und jetzt zu Cassel wohnhaft welcher sich aus wahrscheinlicher Abwesenheit des Verstandes selbst des Verbrechens angeklagt: er habe S.M. den König ermordern wollen, betreffend

Geschehen d. 23 Maerz 1813.

Heute den drei und zwangigsten Maerz achzehnhundert und dreizehn Nachts halb Ein Uhr wurden mir Jaccob Lübbers und Wilhelm Meise, beide Gendarmen im Détachement zu Cassel, Dept. der Fulda in unserem Quartier. [lat. Schrift] Waisenhausstrasse N° 977 von einigen Bewohnern des Hauses aufgeweckt und gebeten, doch zu Hülfe zu eilen, da der ebenfalls im Hause wohnende Cammer Refrendaire Friedrich Kaulwell [lat. Schrift] […] im Begriff sey, die ihm von seiner Frau versperrten Thüren mit Gewalt aufzubrechen.

Zu erst begab ich Lübbers mich herunter in der Hof, kehrte aber wieder um, da man mir sagte, es sey alles wieder gut, und wirklich hörte ich auch keine Lärm mehr.

Kaum waren wir wieder eingeschlafen, als wir gegen drei Uhr morgens abermals geweckt und zur Hülfe gerufen wurden; zugleich hörten wir, wie der p. Kaulwell [lat. Schrift] laut aus dem in der Hof gehenden Fenster nach uns rief.

Sogleich begaben wir uns in unserer Uniform [lat. Schrift] in die Stube des p. Kaulwell [lat. Schrift] und fanden wie selber vor der Kammerthür stand, und so halb entkleidet dieselbe zu öffnen von seiner Frau verlangte welche mit Tochter und Magde darin war. Die Frau weigerte sich es zuthun da sie aber hörte, daß wir in der Stube waren, und sie und […] mit ihr einige schlaffene Tochter und Magd nichts mehr zu fürchten hatten, öffnete sie die Thür; der p. Kaulwell [lateinische Schrift] stürzte nun in die Cammer und warf sich in das darin befindliche Bett.

Nach einem kleinen Wortwechsel mit seiner Frau sprang er wieder auf.

Wir fragten ihn nun nach seinem Namen, Standt, Alter und um die Ursache seines Lärmens.

Er antwortete

Ich heise Friedrich Kaulwell, bin aus Mannsfeld […] stehe hier in Cassel [lat. Schrift] bei der Rechen Cammer [lat. Schrift] als Refrendaire [lat. Schrift] und bin 51 Jahr alt.

Ohne nun die Frage wegen Ursache seines Lärmens zu beantworten sprach er statt dessen unsinniges Zeug und brach endlich dahin aus.

Ich bin unglücklich, ich habe ein Verbrechen begangen, Sie müssen mich arretiren [lat. Schrift], weil ich den festen Vorsatz hatte und schon lange damit umgegangen bin den König von Westphalen zu ermorden, ich habe stets versteckte Waffen zu diesem Zweck bei mir getragen und mit diesem Gedanken lange schwanger gegangen; um gerade jetzt will ich sterben, da mein armes Vaterland wieder in Gefahr ist. Ich bin ein Deutscher und […]eit es, und dergleichen Unsinn, ferner; er müße und wolle das wegen Todt geschaffen seyn.

Da wir nun aus allen seinen Reden nichts anders als gänzlich Abwesenheit des Verstandes vermuthen konnten; ja nehmen wir uns vor, ihn zur Verhütung großen Unglück bis an den Morgen zu bewachen, und als dann die Sache unseren Obern anzuzeigen. Der Kaulwell bat nun wir möchten ihn in […]hauen und in demselben Augenblick griff er auch meinem (des Lübber) Säbel um sich zu erstechen; aber wir hielten ihn noch zeitig genug davon ab, indem wir ihn den Säbel wieder aus den Händen […] den Kaulwell uns batt zurück werfen.

Weiter sagte er noch

Nun will ich erschossen seyn, will wie Kupfermann sterben, und wenn der König […] ist, so läßt er mich auch todt schießen, gibt er mir aber Gnade, so fange ich Rebellion [lat. Schrift] an, zu den Russen will ich u.s.w.

Aus allendessen leuchtete offenbare Abwesenheit des Verstandes her vor, nur wir hielten fürs beste, ihn bis an den Morgen zu bewachen, und dann ich in das Civil Gefangenhaus zu führen. Gegen Morgen würde er krank mußte sich legen und befindet sich noch jetzt unter Aufsicht der Gendr. Lübbers.

Wir haben hierauf diesen Verbal Process aufgenommen, um denselben Sr. Excellenz den Herrn Genral Inspecteur der Gend-rie […] zals weiteren Verfügung zu übergeben. Copie aber an dessen H. Capt. Dell. Comdt. der Königl. Gendarmerie im Fulda-Departement eingereicht. […]

Meise“.

„Hinrichtung Johann Philipp Palms“ von Unbekannt, lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg#/media/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg

„Hinrichtung Johann Philipp Palms“ von Unbekannt, lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg#/media/File:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg

 

Zur Quelle

Wenn es an Attentatsplänen gegen Napoleon Bonaparte nicht fehlte, zeigt die vorliegende Quelle, dass auch die von Napoleon eingesetzten Regenten in den napoleonischen Modellstaaten, hier für das Königreich Westphalen sein jüngster Bruder Jérôme Bonaparte, die Faszination des crime lèse-majesté auf sich bündelten.[1] Mit dem Referendar der Oberrechenkammer in Kassel, H.F. Kaulwell, wurde sogar ein Mitglied der westphälischen Verwaltung, von dem Gedanken an ein Attentat auf Jérôme Napoleon wahnsinnig.

Die Gendarmen, die damit konfrontiert wurden, nahmen die Sache einigermaßen gelassen. Ein Mann in Wahn durfte offensichtlich das aussprechen, was im gesunden Zustand nicht geduldet worden wäre.

In ihrem Protokoll stellten sie fest, dass das Staatsverbrechen Kaulwells sich bei näherer Untersuchung als recht harmlos herausstellte, denn dieser habe „sich aus wahrscheinlicher Abwesenheit des Verstandes selbst des Verbrechens angeklagt“. Kaulwell wurde letztendlich für labil und psychisch krank erklärt und von seiner selbst beteuerten Schuld freigesprochen. Einige ärztlichen Atteste und zwei Monate später konnte oder wollte sich Kaulwell nicht mehr an seine Absicht erinnern, den König von Westphalen ermordet haben zu wollen.[2]

Wilhelm Kupfermann, den Kaulwell in seinem Wahn als Vorbild nannte, war zehn Tage vor der Vorfallsnacht, die die Gendarmen hier protokollierten, hingerichtet worden. Er war als Lieutnant der westphälischen Armee bei Wolfenbüttel desertiert, hatte circa 30 Männer in seinen Bann gezogen, einige öffentliche Kassen gestohlen, aber war schließlich von zwei französisch-kaiserlichen Bataillons angehalten worden.[3]

Nicht nur Kaulwell hatte die Affäre Kupfermann beeindruckt. Die Berichte der Polizeiagenten melden, dass vielerorts darüber gesprochen wurde.[4] In der Gazette de Berlin wurde ein Artikel über Kupfermann veröffentlicht, deren Verbreitung im Königreich Westphalen von der Hohen Polizei verfolgt wurde.[5]

 

Zitiert

Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807–1813, München 2013 (Pariser Historische Studien, 100), S. 317f.

 

Abbildung

Darstellung der Hinrichtung Johann Philipp Palms in Braunau am 26. August 1806 durch französische Truppen. Palm wurde vorgeworfen die antifranzösische Schrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ verbreitet zu haben.

 

[1] Über das Pamphlet in Briefform von Kocken und Bielstein, das Pfarrer Altenburg in Verdacht zu bringen beabsichtigte, ein crime lèse-majesté gegen den König Jérôme zu planen, vgl. Claudie Paye, Postwesen und Briefkultur im Königreich Westphalen. Das offizielle Netz und sein geheimes und privates Pendant (1807–1813), http://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00793224 (Zugriff vom 25.04.2015).

[2] Vgl. RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 10268–10346, hier Nr. 10337.

[3] Vgl. GStA PK, V. HA, Nr. 741, Akte der Hohen Polizei im Königreich Westphalen: Schreiben Nr. 576 PS. von Moisez an J. F. M. de Bongars, 02.03.1813; RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., Nr. [13852], Registre des personnes arrêtées, où sont indiqués les NN d’ordres, date de l’entrée, les noms et prénoms des susdites personnes, les signalements, les motifs de l’arrestation, les décision, dates de la sortie et les observations différentes la-dessus, depuis le 1811, 1812, 1813, Eintrag Nr. 112

[4] Vgl. RNB St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, Nr. 9882-9987, hier Nr. 9952, Rapport Nr. 57 vom Polizeiagent WZ, 14.03.1813

[5] Vgl. Lha Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, B 18 II. 123. II. a., fol. 233.

Quelle: http://naps.hypotheses.org/1249

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Westphälische Deserteurs in Holland (1810): „mesures rigoureuses”


Nationaal Archief Den Haag, Archief Prins Stedehouder, 1810–1813 (2.01.01.08), Nr. 18, Différentes autorités civiles et militaires de l’Empire: Philippe François Maurice de Rivet d’Albignac (ministre de la Guerre ad interim à Kassel) à Charles François Lebrun (à Amsterdam), 26 juillet 1810.


„Jusqu’ici les déserteurs et les réfractaires westphaliens ont trouvé asyle dans les pays qui composaient la Hollande.

S. M. éprouverait de grandes difficultés dans le recrutement de son armée, si des mesures rigoureuses n’étaient prises pour leur arrestation.

J’ai l’honneur de prier V. A. S. de vouloir bien donner les ordres qu’elle jugera convenables, pour que les déserteurs et conscrits réfractaires westphaliens qui se trouvent dans les départemens de la ci-devant Hollande soient arrêtés et remis à la gendarmerie westphalienne aux points des frontières que V. A. S. désignera. J’ai donné les instructions nécessaires à cet égard aux autorités frontières et à la gendarmerie”.

 

Königlich westfälische Truppen, 1812

Abbildung: Richard Knötel, Uniformenkunde, Lose Blätter zur Geschichte der Entwicklung der militärischen Tracht, Berlin 1890. Band I, Tafel 43. (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kn%C3%B6tel_I,_43.jpg?uselang=de)


Zur Quelle:

Dieser Brief von Philippe François Maurice de Rivet d’Albignac an Charles François Lebrun, einige Tagen nach der Eingliederung des Königreichs Holland in das Kaiserreich, betrifft Deserteure aus Westfalen in Holland. Die Aushebung von Soldaten im Rahmen einer allgemeinen Kriegsdienstpflicht wurde in ganz Europa, auch in Westfalen, zum Symbol für das Napoleonische Regime. In der Theorie galt die Einberufung für zwei Jahre, aber während des Krieges galt sie praktisch, solange Napoleon wollte.

Als Napoleon das Königreich Holland von Louis Bonaparte eingliederte, durch das Dekret von Rambouillet, 8./9. Juli 1810, ordnete er sofort an, dass Charles-François Lebrun die Pflichten von Louis Bonaparte übernehmen sollte. In erster Linie sollte Lebrun den Übergang zur französischen Herrschaft beaufsichtigen. Charles-François Lebrun war gewiss ein geeigneter Mann für diese Position. Er besaß viele Jahre politischer Erfahrung und war einer der einflussreichsten Männer im Staatsapparat. Lebrun war 1799 von Bonaparte neben Jean Jacques Régis Cambacérès zum Dritten Konsul berufen worden. Mit Gründung des Kaiserreichs 1804 wurde Lebrun architrésorier (Erzschatzmeister) des Französischen Empire. Zudem war Lebrun nach der weitgehend problemlosen Eingliederung der einstigen Ligurischen Republik ins Kaiserreich, im Jahre 1805/06, Generalgouverneur mit Sitz in Genua gewesen.

Anstatt eine sofortige umfassende Eingliederung vorzunehmen, entschied sich Napoleon, dafür, die Holländischen Departements bis auf weiteres erst einmal teilweise in das Kaiserreich zu integrieren. Napoleon betonte, dass er die Niederlande nicht als ein Pays conquis ansehe und nicht beabsichtige viele französische Beamte dorthin zu schicken, oder holländische Institutionen rücksichtslos zu ersetzen. Am 16. Oktober 1810 gab der Kaiser das Décret contenant réglement général sur l’organisation des départements de la Hollande heraus. Im Wesentlichen sah das Dekret an der Spitze der Holländischen Departements einen Generalgouverneur vor (Lebrun), assistiert von einer Anzahl Intendanten. Der Generalgouverneur hatte die fast absolute Kontrolle über zivile und militärische Angelegenheiten in den niederländischen Departements.

Das Generalgouvernement musste als Mittler zwischen den niederländischen Departements und der Zentralregierung in Paris fungieren. Die Niederlande waren jetzt in sieben Departements gegliedert, ausgestattet mit den üblichen französischen Ziviladministrations- und Rechtspflegeinstitutionen, unterteilt in Arrondissements und Kantonen. Verwaltungs- und Gerichtssprache wurde nicht das Französische allein, vielmehr wurden die französische und die niederländische Sprache konkurrierend verwandt. Selbstverständlich aber korrespondierten die französischen Beamten nicht nur in Paris, sondern auch in Amsterdam mit ihren Untergebenen in Französisch.

Charles François Lebrun versuchte Dienstpflichtige aus Westfalen festzunehmen. Es gab in Holland 127 Gendarmerie-Brigaden, die über das Land verstreut waren und je aus fünf bis zehn Männern bestanden. Die paramilitärische Gendarmerie wurde bei Bedarf von den Behörden, entweder vom Maire einer Gemeinde, oder von einem höherrangigen Beamten zur Amtshilfe herangezogen. Weder dem Innen-, noch dem Polizei- noch dem Kriegsministerium eindeutig zugeordnet, war die so gut wie unkontrollierte Gendarmerie ein promptes, loyales und gefürchtetes Instrument der sozialen Kontrolle, aber auch der politischen Unterdrückung in Europa.


Weiterführend:

Alan Forrest, Conscripts and Deserters: the Army and Society during the Revolution and Empire, New York (Oxford University Press) 1989. Auch auf Französisch: Déserteurs et insoumis sous la Révolution et l’Empire, Paris (Librairie Académique Perrin) 1988.

Johan Joor, Resistance against Napoleon in the Kingdom of Holland, in: Michael Broers, Peter Hicks und Agustin Guimerá (hrsg.), The Napoleonic Empire and the New European Political Culture, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2012, S. 112−122.

Aurélien Lignereux, Servir Napoléon. Policiers et gendarmes dans les départements annexés (1796−1814), Seyssel, (Éditions Champ Vallon) 2012.

Kevin Linch, Conscription, in: European History Online, [veröffentlicht am 30.01.2012], http://www.ieg-ego.eu/linchk-2012-en (eingesehen am 29.06.2013).

Matthijs Lok, Martijn van der Burg, The Dutch Case: the Kingdom of Holland and the Imperial Departments, in: Michael Broers, Peter Hicks und Agustin Guimerá (hrsg.), The Napoleonic Empire and the New European Political Culture, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2012, S. 100−111.

Bettina Severin-Barboutie, Vom freiwilligen Söldner zum dienstpflichtigen Untertan. Militärische Massenmobilisierung im Königreich Westfalen, in: König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen (Ausstellungskatalog Museumslandschaft Hessen, Kassel 2008), München 2008, S. 120–126.

Martijn van der Burg, Napoleons Generalgouvernement Holland, 1810–1813. Die Frage von Assimilation und Integration, in: Helmut Stubbe da Luz (hrsg.), Statthalter Regimes (im Druck).


Zitiert in:

H.T. Colenbrander (hrsg.), Gedenkstukken der Algemeene Geschiedenis van Nederland van 1795 tot 1840 VI, ’s-Gravenhage (Martinus Nijhoff) 1911, Nr. 996. Digitalisiert: [http://www.historici.nl/Onderzoek/Projecten/GedenkstukkenGeschiedenisVanNederland1795-1840/index_html_en]

Abbildung Banner: C. G. H. Geißler, Französische Soldaten, welche auf dem Marsche zur Armee unter einem Baum biwaquieren, Radierung, um 1807, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Gei III/5a, CC BY-NC-ND 2.0 DE.

Quelle: http://naps.hypotheses.org/336

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