Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit

 

Die Urlaubszeit ist vorbei. Jetzt lohnt sich eine kritische Rückschau auf den Sommer und die Begegnungen mit Geschichte im Urlaub. Ich stolperte im Juli im Hongkong Museum of History in der ur- und frühgeschichtlichen Abteilung auf eine Interpretation, welche mir zwar zugänglich war, mich jedoch zum Nachdenken anregte. Vor einer Vitrine mit Keramikfunden aus dem Neolithikum am südchinesischen Meer wurde von der Museumsführerin erklärt, dass es sich hierbei um einige der ersten Keramikfunde handelt, welche bereits sehr früh auf die spätere große Tradition der weltbekannten chinesischen Keramiken verweisen würden. Ist es auch zulässig, dies für eine bekannte im oberösterreichischen Salzkammergut ansässige Keramikmanufaktur zu behaupten? Funde aus der Eiszeit würden dies auch für den österreichischen Fall dokumentieren. Ein Blick von außen, vielleicht sogar aus einem anderen Kulturkreis, ermöglicht es eben, die Besonderheiten von Erzählungen über die Vergangenheit wahrzunehmen und mit der nötigen Distanz zu hinterfragen.

 

Soll man sich damit beschäftigen?

Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob diese Umstände von geschichtsdidaktischer Relevanz sind. Sind es nicht ganz andere Probleme, die im Rahmen des schulischen historischen Lernens zu erörtern wären? Wozu sollten SchülerInnen mit unausgewogenen, einseitigen historischen Interpretationen, noch dazu vielleicht aus der Hand der Tourismusbranche oder Werbefachleuten konfrontiert werden? Die Antwort ist aus geschichtsdidaktischer Perspektive schnell zur Hand. Es handelt sich dabei eben um einen besonderen Bereich der Geschichtskultur, auf den Kinder und Jugendliche auch noch als Erwachsene stoßen werden. Es sind lebensweltlich relevante, im Morgen und bereits im Heute auftretende Aspekte eines Umgangs mit der Vergangenheit. Die Potenziale dieser Begegnungen mit Geschichte, wie sie im Umfeld touristischer Angebote auftreten, finden jedoch derzeit im schulischen Lernen erst wenig Beachtung. Anregungen wie jene von Bodo von Borries aus dem Jahr 2006, nämlich Schulbuchkapitel neu zu strukturieren (z.B. „Geschichte im Tourismus“ am Beispiel Altägypten), fanden bis dato keinen wirklichen Widerhall.1

Urlaub als Ausnahmesituation

„Geschichte im Urlaub“ meint eine besondere Situation, in die sich viele SchülerInnen und andere Reisende begeben. Dabei wird die Darstellung der Vergangenheit eben oft in einer uns fremden Kultur offenbar. Dies bietet den besonderen Blick auf das Andere und seine historische Positionierung zwischen urlaubsbedingter Flüchtigkeit und entspannter Wahrnehmung. Es könnte sich daher lohnen, die eigene Region oder typische Urlaubsregionen über touristische Materialien zu erforschen, um sie auf historische Sinnbildungsmuster, die Verwendung von historischen Mythen und Legenden, Werbestrategien unter Einbeziehung von historischen Aspekten etc. hin zu untersuchen. So könnte man etwa danach fragen, warum eine slowenische Hotelkette auf die römische Antike setzt, um neue Gäste anzusprechen2 oder warum in Wien in einem Kellergewölbe eine 5D-Zeitreise durch die Stadtgeschichte TouristInnen anzieht.3 Die Gemachtheit von solchen touristischen Angeboten führt dabei tief in die jeweilige Geschichtskultur, aber auch in die Vergangenheit der Orte. Ziel sollte es jedoch sein, historisches Denken und interkulturelle Haltungen zu schulen, welche auf andere Beispiele transferierbar bleiben.

Urlaub zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Auf einer methodischen Ebene würde dies bedeuten, die sich „im Urlaub“ auftuende Distanz zum Fremden und zum Eigenen produktiv zu nutzen. Es gilt dabei, gattungsspezifische Reflexionen zu tätigen, welche danach fragen, wer uns in einem bestimmten Fall was und warum über die Vergangenheit erzählt, wie die verfügbaren historischen Quellen im Sinn der Multiperspektivität auch legitim anders gedeutet werden könnten und welche ästhetischen Überformungen den Blick auf die Vergangenheit lenken uvm. Besonders spannend werden derartige Analysen vermutlich dann, wenn man touristisch inszenierte Darstellungen anderen historischen Narrationen zum gleichen Sachverhalt gegenüberstellt und sich dadurch Fragwürdigkeiten auftun.

Das Leben der Anderen … und der Vergangenen

In der interkulturellen Begegnung geht es darüber hinaus um ein Einordnen der getätigten Aussagen über die Vergangenheit, um mit Mitgliedern anderer Kulturen in eine kritische Diskussion darüber eintreten zu können. Die eigene Perspektive auf das Problem gilt es stets zu berücksichtigen. Damit sollte eben auch ein historisch-politisches Lernen verstärkt berücksichtigt werden, um die hinter den Beispielen liegenden politischen und gesellschaftlichen Perspektiven der jeweiligen Gegenwart miteinzubeziehen. Man könnte etwa danach fragen, wem eine bestimmte Art der Darstellung der Vergangenheit einen Vorteil bringt. Dabei sind wirtschaftliche Interessen einer Region oder historische Identitätsmuster ebenso in den Blick zu nehmen wie die Reisenden selbst. Letztere möchten nicht selten mit vorgefertigten trivialen bis naiven Vorstellungen an bestimmten Orten unreflektiert bestimmte Inszenierungen konsumieren. Realitätsverschiebungen, Vorurteile, Auslassungen, Umdeutungen, Maskeraden etc. sind dabei mancherorts zentrale Magneten eines Umgangs mit Geschichte, um vor allem das Erwartete aus einer mit dem Ort assoziierten historischen Epoche zu bieten. Kulturspezifische Darbietungsmodi und Interpretationen bilden dazu überraschende Ergänzungen.

Urlaub in den Schulalltag integrieren

Diese sicherlich wichtigen Aspekte sollte man jedoch für den konkreten Unterricht ausreichend wenden. Der Lebensweltbezug für die SchülerInnen sollte dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Ist es ein Ziel, dass SchülerInnen sich ein kritisches historisches Denken aneignen, dann wird es darauf ankommen, geschichtskulturelle Produkte auch tatsächlich zu durchdenken und zu hinterfragen. Dabei steht etwa das Störtebekerdenkmal in Hamburg, an dem TouristInnen im Hafen vorbeigeschleust werden, ebenso im Programm, wie Werbekataloge für Schlösser oder andere touristische Inszenierungen der Vergangenheit, wie man auf sie etwa in Funparks trifft. Dazu zählen sicherlich auch gedruckte oder digitale Reiseführer, welche neben geografischen und kulturellen Zusammenhängen Geschichte präsentieren. Gerade dort findet man oft seltsame Ausprägungen an tradierter Einseitigkeit, welche gerade dazu einladen, durch kritisches Denken Grundprinzipien eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu erwerben.

Ein Hoch auf die Globalisierung

„Geschichte im Urlaub“ als Anwendungsgebiet für den Erwerb eines kritischen historischen Denkens zu nutzen, bedeutet den bisherigen geschichtskulturellen Blick des schulischen Lernens zu weiten. Unzählige neue Beispiele, die je situationsabhängig in den Unterricht integrierbar sind, drängen sich dabei auf. Die sich globalisierende Welt und ihre Digitalisierung erleichtern dabei die reale und virtuelle interkulturelle Begegnung mit Geschichte: ein Labor an zu durchdenkenden Beispielen von ganz anderen Orten des Globus, an denen sich die Menschen ganz andere Geschichten über die Vergangenheit erzählen als zu Hause. Es gilt daher, die SchülerInnen auf ein Leben vorzubereiten, das vielleicht ganz abseits vom traditionellen Kanon des Geschichtsunterrichtes mit touristischen Darstellungen der Vergangenheit konfrontiert wird. Dies geschieht dann vermutlich ganz heimlich, oft dicht und unerwartet, nämlich auf Urlaub.

 

Literatur

  • Frank, Sybille: Der Mauer um die Wette gedenken. In: Kühberger, Christoph / Pudlat, Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft,  Innsbruck u. a. 2012, S. 159-172.
  • Isenberg, Wolfgang (Hrsg.): Lernen auf Reisen? Reisepädagogik als neue Aufgabe für Reiseveranstalter, Erziehungswissenschaft und Tourismuspolitik, Bensberg 1991 (Bensberger Protokolle 65).
  • Mütter, Bernd: Historisches Reisen und Emotionen. Chance und Gefahr für die geschichtliche und politische Erwachsenenbildung. In: Mütter, Bernd / Uffelmann, Uwe (Hrsg.): Emotionen und historisches Lernen: Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1992 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 76).

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Christoph Kühberger, Ur- und frühgeschichtliche Abteilung des Hongkong Museum of History, im Juli 2013.

Empfohlene Zitierweise
Kühberger, Christoph: Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit. In: Public History Weekly 1 (2013) 6, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-338.

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