Ich lese gerade Klaus-Michael Bogdals lesenswerte Studie über die diskursive Erfindung und Darstellung der “Zigeuner” in der europäischen Literatur seit dem späten Mitteltalter. Die Vereinnahmung der Romvölker und ihre Darstellung in Wissenschaft und Kunst, ohne mit den Menschen selber zu sprechen und wie dies zu Ausgrenzung und dauerhafter Marginalisierung führt, ist das Thema das Buches. Gut wird auch dargestellt, dass solche “harmlosen” Repräsentationen nicht unschuldig sind, sondern mit Praktiken der Entrechtung und Verfolgung korrespondieren.1
Anregend fand ich die Perspektive, die ich als mit kolonialgeschichte Beschäftigter gerne übersehe, nämlich dass die europäischen Nationen ihr Anderes, gegenüber dem sie ihre eigene zivilisatorische Höherwertigkeit begründeten, zuerst in Europa fanden, vor allem die Romvölker und – mit Unterschieden – die europäischen Juden. Vorurteile von erblicher Kriminalität, widersprüchliche Narrative von “Unzivilisierbarkeit” und gleichzeitigen Assimilations- und Erziehungsversuchen und anthropologische Vermessungen und Klassifizierungen im Geiste einer aufklärerischen Wissenschaft haben hier ihre Wurzeln. Das Instrumentarium, dass der misstrausche Staat gegenüber nicht-sesshaften Gruppen entwickelt hatte, wurde auch in Britisch-Indien im 19. Jahrhundert angewendet, etwa gegenüber den sogenannten “criminal tribes“.
Dass die durch jahrhundertelange diskursive Ausgrenzung und Marginalisierung erzeugten Vorurteile nach 1945 keineswegs aufhörten und sich besonders den Roma gegenüber am stärksten und längsten hielten, hat mich nicht überrascht. Dennoch ist das Urteil des BGH von 1956 bezüglich Wiedergutmachungsansprüchen der “Zigeuner” in seinem unverblümten Rassismus für mich besonders eindrücklich dafür gewesen, wie tief die durch Literatur und Wissenschaft erzeugten Repräsentationen bis heute Realitäten und Wahrnehmungen prägen:
Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.2
Angesichts aktueller Fälle rassistischer Praktiken und den selbstgefälligen Schwierigkeiten, dies auch so zu benennen, zeigt sich, wie tief die konstruierten Bilder des Fremden immer noch unser Denken prägen, selbst wenn man sich vor Rassismus gefeit wähnt.
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011.
- Hier noch ein Interview mit dem Autor.
- zit. n. Lpb BW u. Bogdal 2011, S. 410.
Quelle: http://rajprisons.hypotheses.org/98