Dissertationsprojekt: Konstruktionen und Repräsentationen des Auslands in der französischen und deutschen Presse
Der erste Zeitungsartikel, der in Frankreich publiziert wird, ist eine Meldung über das Ausland, in der Gazette am 2. April 1631. Seit dieser ersten Meldung ist das Ausland fester Bestandteil der journalistischen Berichterstattung, sei es in Form von Korrespondenzberichten, Agenturmeldungen oder Börsennachrichten. Das Dissertationsprojekt hinterfragt die Formierung der Auslandsberichterstattung in Abhängigkeit von infrastrukturellen, technischen und journalistischen Bedingungen im 19. Jahrhundert, ein Jahrhundert, in dem sich die Massenpresse entwickelt, die Nachrichtenagenturen aufkommen und sich die Auslandsberichterstattung formal und geographisch stark wandelt. Dabei soll sowohl die Präsentation des Auslands in der Zeitung analysiert als auch das grenzüberschreitende Zirkulieren von Informationen nachverfolgt werden.
Präsentation des Auslands in der Presse
Journalisten entscheiden über die Inhalte der Auslandsberichterstattung und konstruieren somit eine Themenagenda, die an die jeweilige Leserschaft angepasst wird. Zudem entscheiden sie über die Art und Weise der Präsentation, übersetzen Texte oder lassen Texte übersetzen. Auslandsberichterstattung ist „vermittelnde, journalistische Kommunikation und unterscheidet sich von anderen Formen grenzüberschreitender Kommunikation [...], die auch ohne Vermittlung von Journalisten stattfinden können“1. Die Sprache, die Gemeinschaften voneinander abgrenzt oder die Gemeinschaften bilden kann, ermöglicht durch diese Vermittlung gleichzeitig eine sprachliche Aneignung des “Auslands”. Ein Ort, zu dem in der Regel kein Zugang besteht (aufgrund von Distanz, zeitlicher Verschiebung oder sprachlicher Barrieren) wird durch die Zeitungslektüre zugänglich.
Im Rahmen des Forschungsprojekts soll die damalige von den Redaktionen vorgenommene Länder- und Themenauswahl vor dem Hintergrund der journalistischen Praxis des 19. Jahrhunderts analysiert werden. Dies umfasst zum einen das Geschriebene, also die thematische Zusammensetzung der Auslandsberichterstattung, sowohl im Zeitverlauf als auch im Ländervergleich. Zum anderen steht der journalistische Schreibprozess, die Nachrichtenauswahl und -aufbereitung sowie die Darstellungsform der Auslandsberichterstattung im Fokus.
Zudem möchte ich der Frage nachgehen, wie die schriftliche Repräsentation einer Geographie erfolgt und wie das Ausland an sich be- und geschrieben wird. Denn die einfache Unterscheidung Inland-Ausland wird in vielen Zeitungen nicht immer gemacht, wenn beispielsweise der Bereich der Auslandsberichterstattung keine eigene Überschrift hat oder Berichte aus Kolonien unterschiedlich zugeordnet werden. Wie wird etwas so Weites also sinngerecht unter einen Begriff subsummiert? In diesem Zusammenhang interessiere ich mich für die Rubrizierung des Auslands in der Presse und für die Veränderungen dieser Rubrik im Lauf der Zeit. In der Regel vereinen Rubriken Texte, die einem bestimmten Thema oder einem bestimmten Lebensbereich angehören (z.B. Wirtschaft, Sport, Kultur), während die Rubrik des Auslands durch ihre Geographie definiert wird, die offen ist, da potentiell jeder Ort der Welt dort thematisiert werden kann, unabhängig vom Thema des Artikels. Obwohl die Rubriken Klassifikationen von Informationen in der Zeitung sind, also eine Spezialisierung innerhalb der Zeitung darstellen, ist die Rubrik des Auslands eine Öffnung zum Entfernten und damit eine Öffnung der Zeitung über die Landesgrenzen hinaus.
Internationales Zirkulieren von Informationen
Zusätzlich zu den Fragen bezüglich der journalistischen Darstellung der Auslandsberichterstattung interessiere ich mich für den Parcours der Informationen, von ihrem Ursprung bis zum Druck in der Zeitung. Ziel ist die Erstellung einer Nachrichtengeografie, um das Wechselspiel von internationaler Information und nationalem Journalismus zu verstehen.
Welche Wege nehmen Informationen? Hier gibt es zahlreiche Beispiele für Ereignisse, die an einem bestimmten Ort geschehen, an einem anderen Ort geschrieben und schließlich an einem dritten Ort gedruckt werden. So verfasst ein Korrespondent der Agence Havas am 30. Januar 1870 in Belgrad eine Nachricht den Präsidenten der Vereinigten Staaten betreffend; diese wird von der Agentur dem Abschnitt Türkei zugeordnet, was schließlich von der Redaktion der Zeitung Le Temps übernommen und gedruckt wird.
Daran anschließend stellt sich die Frage, woher „gute“ Nachrichten über ein Land kommen. Aufgrund der Kabelverbindung zwischen den Vereinten Staaten und England liegt auf der Hand, dass die aktuellsten Informationen über Amerika zum Teil über England nach Europa gelangen. Neben den technischen Gegebenheiten spielen aber auch politische Verhältnisse eine Rolle. So werden die Nachrichten in den französischen Zeitungen über Preußen in der Regel aus Berlin geschrieben, weil die beiden großen Nachrichtenagenturen (Wolff’s Telegraphisches Bureau und Agence Havas) zusammenarbeiten. Nach Beginn des deutsch-französischen Krieges jedoch kommen die aktuellsten Informationen über Deutschland von einem Korrespondenten an der deutsch-belgischen Grenze.
Diese Fragen gehen über die Beschreibung der Auslandsberichterstattung hinaus und geben einen Einblick in die journalistische Praxis des 19. Jahrhunderts. Zudem geben die Analysen Aufschluss über die Bildung von Kommunikationsräumen und Informationsnetzwerken innerhalb der französischen und der deutschen Presselandschaft und über die Entstehung journalistischer Verbindungen zwischen Frankreich und den deutschen Ländern. Daran schließt sich auch eine Untersuchung des Zusammenhangs von Technikentwicklung und Kommunikation sowie des Zusammenhangs von Geschwindigkeitsentwicklung und Nachrichtenauswahl und -aufbereitung an.
Zur methodischen Herangehensweise
Das kommunikationswissenschaftliche Dissertationsprojekt stellt methodisch eine Kombination aus quantitativer Inhaltanalyse und kommunikationeller Betrachtung2 dar. Dabei orientiere ich mich sowohl an der deutschsprachigen als auch an der französischsprachigen Kommunikationswissenschaft, die jeweils unterschiedliche Fachtraditionen haben und dementsprechend verschiedene Forschungsansätze vertreten.3
Abbildungen: Gallica
1. Ausschnitt aus La Gazette, 2.4.1631 http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k106358h/f41.image
2. Ausschnitt aus Le Temps, 1.2.1870 http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k224148p.langFR
- Hafez, Kai (2005): Auslandsberichterstattung. In: Weischenberg, Siegfried/Kleinsteuber, Hans J./Pörksen, Bernhard (Hrsg.): Handbuch Journalismus und Medien. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 22.
- Dies ist eine Anlehnung an den französischen Forschungsansatz, der als communicationnel bezeichnet wird; eine semiotische Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der Kontextbedingungen.
- Die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft ist eine Sozialwissenschaft, das französische Fach geht aus der Literaturwissenschaft hervor. Während in der deutschsprachigen Tradition der Journalismusforschung die Zeitung an sich (ihr Aussehen, ihre journalistische Aufmachung, ihr Textbild, etc.) eine untergeordnete Rolle spielt, ist diese Betrachtung Ausgangspunkt der u.a. am Celsa (École des hautes études en sciences de l’information et de la communication) vertretenen Journalismusforschung.