Ein Bild sagt mehr … (V): Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposit (1687) ist eine annotierte Übersetzung von drei der Vier Bücher (sishu 四書) ins Lateinische. Der Band fasst die Arbeiten zahlreicher europäischer China-Missionare zusammen, die zum Teil in separaten Ausgaben erschienen waren; das Vorwort ist von Philippe Couplet (1623-1693) unterschrieben, stammt allerdings zumindest teilweise aus der Hand von Prospero Intorcetta (1626–1696), die Übersetzungen sind unter anderem von Christian Wolfgang Herdtrich (1625–1684) und François de Rougemont (1624-1676). [1]

Der Band enthält

Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposita (1687)
Internet Archive

  • eine Widmung an Ludwig XIV in Briefform
  • eine Karte von China (die 15 Provinzen der Ming-Zeit)
  • eine umfangreiche Einleitung, die Angaben zur Entstehung des Werkes enthält
  • eine Vita des Kong Qiu 孔丘 (vermutlich  551-479 v. Chr.) der Meister Kong (Kongzi 孔子) genannt wurde – woraus im Westen Konfuzius/Confucius wurde
  • die Übersetzungen von drei der “Vier Bücher”
    • eine Übersetzung von Daxue 大學 (“Das große Lernen”)
    • eine Übersetzung der Lunyu 論語 (“Gespräche”)
    • eine Übersetzung von Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”)[2]
  • Couplets Tabulae Chronologicae Monarchiae Sinicae, eine tabellarische Geschichte Chinas in 2 Teilen, Teil 1 von 2952 v. Chr. bis zur Zeitenwende, Teill 2 bis ins Jahr 1683.

Der Vita des Kong Qiu ist eine Illustration vorangestellt, die zum Archetyp westlicher ‘Konfuzius’-Abbildungen wurde. Die Darstellung zeigt eine überlebensgroße stehende Figur in Frontalansicht vor einer Bibliothek.

Die Figur wird durch die Legende unterhalb des Bildes als “孔伕子 CVM FU TSE” identifiziert – und für den des Chinesischen kundigen durch die Schriftzeichen an der Rückwand (s.u.). Sie ist in wallende Gewänder mit fast bis zum Boden reichenden Ärmeln gehüllt und hält in den Händen Hand ein hu 笏 (auch huban 笏板 oder shouban 手板), eine lange, schmale Bambustafel, die von Beamten bei Audienzen benutzt wurde. Die Gesichtszüge sind wenig asiatisch, besonders auffällig ist der üppige Vollbart.

Die Bibliothek entspricht der in Europa vertrauten Form, die dargestellten Bücher sind dicke, auf Bünde geheftete, in Leder gebundene Folianten, die teils in den Regalen stehen, teils liegen. Chinesische Bücher wirken auf den europäischen Betrachter weniger beeindruckend und wenig repräsentativ – es sind überwiegend kleinere Formate/Hefte in der seit dem 16. Jh. verwendeten sog. “Japanbindung” (xianzhuang 綫裝). Da die Hefte weiche Einbände haben, werden werden mehrere Hefte in einem steifen Umschlag (einfacher Wickel-Umschlag oder Schachteln – jeweils mit Knebelverschlüssen) zusammengefasst.

Auf dem Giebel wird diese Bibliothek bezeichnet – in Schriftzeichen 國學, mit Transkription ‘qúĕ hiŏ’ (guoxue) und Übersetzung “Gymnasium Imperii”. Hinter der Figur des Kong Qiu sind an einem langen Tisch Schreiber an der Arbeit. Einzelne Regalböden sind beschriftet, auf den Brettern in Transkription, über den Büchern ‘schweben’ Schriftzeichen.

Links von oben nach unten:

  • 書經 Xu-Kim  (Shūjīng - “Buch der Urkunden”)
  • 春秋 Chun Cieu (Chūnqiū – “Frühlings- und Herbst-Annalen)
  • 大學 ta hio (Dàxué – “Das große Lernen”)
  • 中庸 chum yum (Zhōngyóng – “Mitte und Map”)
  • 論語 Lun yu (Lùnyǔ – “Gespräche”)

Rechts von oben nach unten:

  • 禮記 Li Ki (Lǐjì – “Aufzeichnungen über die Riten”)
  • 易經 Ye Kim (Yìjīng – “Buch der Wandlungen”)
  • 繋辭  Hi Cu (Xici – “Abhandlungen zu den Urteilen”)
  • 詩經 Xi Kim (Shījīng – “Buch der Lieder”)
  • 孟子 mem cu (Mèngzǐ – “Menzius”)

Von dem erst in der Han-Zeit entstandenen Xici abgesehen, sind das die Sìshū Wŭjīng 四書五經, die “Vier Bücher und Fünf Klassiker”, vor 300 v. Chr. entstandenen Texte, die den konfuzianischen Kanon bilden.[3]

Unterhalb der Bücherregale stehen jeweils neun dreieckige Gedenktafeln (páiwèi 神位) mit den Großjährigkeitsnamen (zi 字) von einigen Schülern des Kongzi[4], die teilweise in den Schraffuren fast untergehen – zu erkennen sind u.a. links (von vorne): 子魯 Zilu (i.e. Ran Ru 冉孺), 孟子 Mengzi, 子貢 Zigong (i.e.  Duanmu Ci 端木賜) und 子遲 Zichi (i.e. Fan Xu 樊須).

An der Rückwand, die zu einem Garten geöffnet scheint, stehen große Schrifzeichen, die – zusammen gelesen – einen Hinweis auf den Dargestellten geben: 仲尼天下先師 Zhong Ni, tianxia xianshi (“Zhongni, der erste Lehrer der Welt”). Zhongni 仲尼 war der Großjährigkeitsname (zi) des Kong Qiu, xianshi 先師 “erster Lehrer” ist eine häufige Bezeichnung für ihn.[5]

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao 北京孔庙 Foto: Georg Lehner 2011

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao  北京孔庙 (2011)
Foto: © Georg Lehner

Von den Schriftzeichen abgesehen, hat die Darstellung wenig ‘Chinesisches’ – und doch ähnelt diese wohl früheste Darstellung des ‘Konfuzius’ der auch heute noch in China vertrauten Darstellung des Kong Qiu.

 

  1. Zum Entstehungskontext und zur Veröffentlichung vgl. das Kapitel “Printing Confucius in Paris” in: Nicholas Dew: Orientalism in Louis XIV’s France (Oxford: Oxford University Press 2009) 205-233. Digitalisate von Confucius Sinarum Philosophus → Bibliotheca Sinica 2.0
  2. Es fehlt somit das vierte der Vier Bücher,  Mengzi 孟子 (“Mencius”) – die Übersetzung von Mengzi erschien 1711 in den Sinensis Imperii Libri Classici Sex des François Noël. Dazu David E. Mungello: “The First Complete Translation of the Confucian Four Books in the West”. In: International Symposium on Chines e-Western Interchange in Commemoration of the 400th Anniversary of the Arrival of Matteo Ricci, S.J. in China (Taipei 515-1983), vgl. Werner Lühmann, Konfuzius in Eutin. Confucius Sinarum Philosophus – Die früheste lateinsiche Übersetzung chinesischer Klassiker in der Eutiner Landesbibliothek (=Eutiner Bibliothekshefte 7, Eutin: Eutiner Landesbibliothek 2003) 45 f.
  3. Vier Bücher: Daxue 大學 (“Das große Lernen”), Lunyu 論語 (“Gespräche”), Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”),  Mengzi 孟子 (“Mencius”); Fünf Klassiker: Shijing 詩經 (“Buch der Lieder”), Shujing 書經 (“Buch der Urkunden”), Liji  禮記 (“Aufzeichnungen über die Riten), Yijing 易經 (“Buch der Wandlungen”), Chunqiu 春秋 (“Frühlings- und Herbstannalen”).
  4. Nach Sima Qian hatte Kongzi Tausende von Schülern, doch nur 77 meisterten die Lehren, einige dieser Schüler werden in den Lunyu genannt.
  5. Lühmann (2003) 35 übersetzt “Der mittlere Ni”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/607

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Ein Frontispiz sagt mehr als … (IV): Martino Martini, Novus Atlas Sinensis (1655)

Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1905)[1] war voll des Lobes über Martino Martini, SJ (1614-1661)[2]:

In der That hat die ganze chinesische Missionsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts unter ihren hunderten von Sendboten einen einzigen Geographen aufzuweisen. Dies war Martin Martini, und er ist selbst während des achtzehnten Jahrhunderts nicht überboten, kaum erreicht worden. Nicht ein einziger Missionar vor und nach ihm hat so geflissentlich seine Zeit auf die Kenntnis des Landes verwendet, wie er.”[3]

Matini veröffentlichte 1655 seinen Novus Atlas Sinensis ((Zu den zahlreichen Ausgaben/Übersetzungen des Novus Atlas Sinensis s.  [Peter van der Krogt/Cornelis Koeman:]  Koeman’s atlantes Neerlandici. 2. The folio atlases published by Willem Jansz. Blaeu and Joan Blaeu. New ed., comp. by Peter van der Krogt   (‘t-Goy-Houten : HES Publ. 2000) pp. 295-315. Links zu einigen Digitalisaten → Bibliotheca Sinica 2.0.)). Das Werk enthält 17 Karten[4]und etwa 170 Seiten Beschreibungen. Richthofen meinte dazu:

Es ist die vollständigste geographische Originalbeschreibung von China, welche wir besitzen. Die Nachwelt hat wol über einzelne Gegenden sehr viel Besseres geliefert und auf compilatorischem Weg ist in unserer Zeit weit Vollständigeres über das ganze Land geschrieben worden; aber niemand hat Aehnliches in solcher Ausdehnung auf Grund eigener Beobachtungen gegeben, nicht weil es an reisenden Missionaren, sondern weil es unter denen, welche das Land in grösserem Umfang sahen, stets an Beobachtern der Natur gefehlt hat. Ueber die Beschreibung hinausgehend war Martini der erste, welcher nicht nur eine eingermassen correcte Gesammtkarte von China, sondern einen Atlas von Provincialkarten veröffentlicht hat.  Allerdings sind sie nicht das Resultat eigener Aufnahmen, sondern beruhen, wie Martini offen zugesteht, auf chinesischen Originalen. Aber auch diese waren längst den Missionaren zugänglich gewesen, jedoch nicht von ihnen benutzt worden, und Martini ist der Vater der geographischen Kenntnisse von China geworden, indem er den Atlas herausgab. Auch wäre wol dazu kaum ein Anderer fähig gewesen; denn man musste die chinesischen Karten verstehen, um sie in geeigneter Weise verwerthen und berichtigen zu können, und dazu wiederum in erster Linie Geograph sein und das Land aus eigener Anschauung kennen.[5]

Martini: Novus Atlas Sinensis

Novus Atlas Sinensis. By Martino Martini [Public domain], via Wikimedia Commons Ttitelversion 2:26B

Martini benutzte für seinen Atlas chinesisch Quellen, darunter eine Kopie eines (Manuskript)Atlas des Zhu Siben 朱思本 (kompiliert 1311/12) mit Anmerkungen aus dem Guangyutu 廣與圖 des Luo Hongxian 羅洪先 von 1555. Der Atlas, der bei Blaeu in fünf Sprachen – Latein, Französisch, Niederländisch, Deutsch und Spanischj – erschien, enthielt:

  • ein Vorwort mit Erläuterungen Martinis zur Arbeit mit den chinesischen Quellen
  • eine Karte von China (in den Grenzen der Ming-Zeit)
  • Beschreibungen jeder der 15 Provinzen, jeweils mit einer Karte der jeweiligen Provinz)
  • eine Beschreibung von Japan mit einer Karte
  • einen “Catalogus Longitudinum ec Latitudinum” (Liste von Orten mit geographischen Koordinaten)
  • ein Supplement “De Regno Catayo Additamentum Iacobus Golius Lectori”
  • “De Bello Tartarico Historia”, die Beschreibung der Eroberung Chinas durch die Mandschuren, die zuerst 1654 in Antwerpen erschienen war, ergänzt durch einen Brief von Francisco Brancaro, datiert Shanghai, 14.11.1651.

UB Heidelberg

Blaeu, Willem Janszoon; Blaeu, Joan ; Blaeu, Joan [Hrsg.]; Martini, Martino [Hrsg.]; Golius, Jacobus [Hrsg.]: Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: Mit schönen newen außführlichen Land-Taffeln in Kupffer gestochen, vnd an den Tag gegeben: Novus Atlas Sinensis Das ist ausfuhrliche Beschreibung des grossen Reichs Sina ([Amsterdam], [1655])
UB Heidelberg (Lizenz: Creative Commons-Lizenz cc-BY-NC-SA) | Titelversion 2:26A

 

 

Er erschien separat und wurde als sechster Band dem Theatrum Orbis Terrarum beigefügt, unterschieden nur durch den Titelkupfer. Später wurde der Novus Atlas Sinensis mit anderen Texten und Karten zu Asien zu Band 10 des Atlas Maior verbunden.

Die einzelnen Ausgaben[6] unterscheiden sich in der Aufmachung , in vielen Fällen fehlt ein Titelblatt i.e.S. und es gibt ‘nur’ einen Titelkupfer in zwei Variationen. Die Version 2:26A hat ein leeres Feld für den (Reihen-)Titel, die Version 2:26B ist ein ‘typischer’ Titel der jesuitischen China-Literatur.[7]

Gemeinsam ist beiden Versionen, dass auf dem Titel wenig Chinesisches zu sehen ist: Die Putti im Vordergrund halten eine Karte von China hoch, der Globus, mit dem die Gruppe im Vordergrund in der Mitte spielt, zeigt ganz Ostasien.

Titel und Widmung sind in die geöffnete Tür rechts im Bild eingefügt – wobei unklar bleibt, auf welcher Seite dieser Tür zu China sich der Betrachter befindet …

  1. Zur Biographie: Uta Lindgren: „Richthofen, Ferdinand Paul Wilhelm Dieprand Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 543-544 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118745085.html.
  2. “Martin Martini” in: Louis Pfister: Notices biographiques et bibliographiques sur les jésuites de l’ancienne mission de Chine (1552-1773) Tome I, XVIe et XVIIe siècles (Shanghaï: Impr. de la Mission catholique 1932) 256-262.
  3. Ferdinand Richthofen: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien. Bd. 1 (Berlin: Reimer 1877) 674
  4. Scans: National Library of Australia
  5. Ferdinand Richthofen: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien. Bd. 1 (Berlin: Reimer 1877) 676
  6. Übersicht: [Peter van der Krogt/Cornelis Koeman:]  Koeman’s atlantes Neerlandici. 2. The folio atlases published by Willem Jansz. Blaeu and Joan Blaeu. New ed., comp. by Peter van der Krogt   (‘t-Goy-Houten : HESPubl. 2000) pp. 295-315.
  7. Zu den Versionen: Koeman, Atlantes Neerlandici. 2, 296.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/448

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Ein Frontispiz sagt mehr als 1000 Worte (I): Johan Nieuhof: Gezandtschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham (1665)

Die Serie “Ein Frontispiz/Bild sagt mehr als 1000 Worte” hält Beobachtungen bei der (ersten) Sichtung von vor 1700 publizierten Texten zu China fest.

In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts unternahm die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) große Anstrengungen, das portugiesische Monopol in Macau (Aomen 澳門) zu brechen, 1603 und 1607 scheiterten Versuche, Macau einzunehmen. In den 1620ern versuchte man erneut, Macau zu erobern und sich auf den Pescadoren festzusetzen. Während diese Versuche scheiterten, gelang es 1624, auf Formosa einen Stützpunkt einzurichen (Fort Oranje (ab 1627: Fort Zeelandia; [heute Anping 安平/Distrikt Tainan 臺南]) der bis 1661 gehalten werden konnte. Um Zugang zum China-Handel zu bekommen, schickte die VOC wiederholt Gesandtschaften nach Beijing, die erste war 1655-1657 unter Pieter de Goyer (fl. 1655-1657) [1] und Jacob de Keyser (fl. 1655-1657). Hofmeister, vor allem aber als Zeichner und Schreiber dieser ersten Expedition war Johan Nieuhof (auch Joan Nieuhoff, 1618-1672 [2])

Zwei Schiffe der VOC, die Koudekerke und die Bloemendaal verließen Batavia am 19.7.1655 mit Kurs Guangzhou 廣州, die Koudekerke erreichte den Hafen von Guangzhou am 4.9.1655, die Bloemendaal am 05.10.1655. Von Guangzhou aus machte man sich im März 1656 auf die etwa 2400 km lange Reise nach Beijing 北京, wo die Gesandtschaft am 16.7.1656 eintraf und rund drei Monate blieb. Am 16.10.1656 verließ die Gesandtschaft Beijing und erreichte, kam am 28.1.1657 Guangzhou und kehrte von dort nach Batavia zurück. Das Ziel der Gesandtschaft, der freien Zugang zum chinesischen Markt, wurde nicht erreicht – die Niederländer ‘durften’ alle acht Jahre eine Handelsdelegation in Verbindung mit einer Tributgesandtschaft nach China schicken und nur in dieser Zeit in Guangzhou Handel treiben. [3]

Nieuhofs Het Gezandtschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China, die 1665 in niederländischer Sprache erschien [4], gibt eine ausführliche Beschreibung dieser Reise – und darüber hinaus  eine Beschreibung des Landes und seiner Geschichte. Der Band wurde – wie Nieuhofs andere Bücher – von seinem Bruder Hendrik auf der Basis von Joans Skizzen und Aufzeichnungen herausgegeben. Das Besondere an diesem Band sind die etwa 150 Abbildungen, die darin enthalten sind – und die einen ‘authentischen Blick’ auf China versprachen. Nicht zuletzt die Abbildungen machten  den Titel  schnell zu einem ‘Bestseller’, es gab nicht nur mehrere Ausgaben in niederländischer Sprache, sondern auch Übersetzungen ins Deutsche, ins Englische, ins Französische und ins Lateinische, u.a.:

Von den beiden englischen Ausgaben und der in Antwerpen 1666 veröffentlichten Ausgabe abgesehen, erschienen alle Versionen bei Jacob van Meurs [5]. Die Frontispize dieser Ausgaben unterscheiden isch nur durch den in dem in eine Art Vorhang eingefügten Titel in unterschiedlciehn Sprachen.

Das Frontispiz kann als Programm für Nieuhofs Bericht und Beschreibungen gelesen werden für einen der ersten Texte eines ‘Augenzeugen’, der außerhalb katholischer Missionarskreise stand: Oben steht – klein und unauffällig ins Bild gefügt – der Titel, zusammen mit den drapierten Stoffbahnen bildet er gleichsam den Theatervorhang, der sich vor einem seltsamen Schauspiel hebt.

Im Zentrum der Komposition – quasi auf der Bühne – entfaltet sich die Szene, die den größten Teil der Darstellung einnimmt. Da sitzt der Kaiser auf einem mit geflügelten Drachen reich verzierten Thronsessel. Er hat eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere ruht auf einem Globus. Der Globus zeigt Teile Zentralasiens, Indien, Südostasien, China, Japan und den Umriss Westaustraliens (soweit er von den Fahrten des Dirk Hartog (1616), des Frederick de Houtmann (1619) und des Abel Tasman (1644) bekannt war – der Norden Asiens und der Pazifik verlieren sich im Schatten.

Der Kaiser ist ein junger Mann, seine Gesichtszüge sind ebenmäßig, er trägt einen kleinen Kinnbart und einen Schnurrbart. Die Augenbrauen über schmalen, gerade stehenden Augen zeigen einen eleganten Schwung. Auf dem Kopf trägt er eine Art Kappe mit zwei Pfauenfedern, die nach rechts unten (vom Betrachter aus gesehen) hängen. Er trägt ein langes Kleid aus einem gemusterten Stoff, das mit drei Knöpfen geschlossen (Knopfleiste vom Halsansatz bis unter den Arm) wird, und eine lange Kette aus großen Perlen mit einer Quaste.

Rund um den Thron stehen Diener /einer hält einen Schirm über den Kaiser), Bewaffnete und Würdenträger – direkt rechts und links neben dem Thron zwei Beamte mit langen Perlenketten. Alle tragen Kopfbedeckugnen, bei einigen hängt im Rücken der Zopf herunter.

‘Realistischer’ Blick?

Im Vordergrund – also vor der Bühne im Parterre – , finden sich vier weitere Figuren – ohne Kopfbedeckungen, eher ärmlich gekleidet. In der Mitte liegt eine Gestalt in einem einfachen langen Kleid mit einem sehr dicken Holzbrett um den Hals auf dem Boden. Die Arme der Figur, die zu Füßen des Liegenden sitzt, und die der Figur ganz links sind durch Ketten gefesselt. Alle drei haben dichtes Haar, das am Oberkopf zu einem Zopf zusammengebunden ist. Ganz anders erscheint die Figur rechts außen,  die zwar ebenfalls nur in Tücher gehüllt ist, aber wirres Haar und einen wirren Bart trägt.

‘Realistischer’ Blick auf China?

  • Die ab 1645 proklamierten Gesetze (tifaling  剃髮令 “Haarschneidedekrete”) befahlen den Han-Chinesen, den Großteil des Kopfes kahl zu scheren und das verbleibende Haar zum Zopf (bianzi 辮子) zu flechten. Die Durchsetzung stieß auf großen Widerstand, eine flächendeckende Umsetzung gelang erst in den 1660ern, also nach Nieuhofs Aufenthalt in China. Ausgenommen von dieser Regelung waren buddhistische Mönche, die vollständig kahl geschoren waren, und daoistische Priester, die Haar und Bart nicht schoren.

    Diese Veränderung beschreibt Nieuhof im Abschnitt über das Aussehen der Chinesen (dt. Ausg. S. 289, frz. Ausg. S. 47 , nl. Ausgabe (1665) S. 57, engl. Aus. (1669) S. 209)
  • Die Figur mit dem Halsbrett findet sich bei Nieuhof noch einmal in der ‘Beschreibung Chinas im Kapitel über Gaukler und Bettler  (frz. Ausg. S. 36, nl. Ausgabe  (1665) S. 36, dt. Ausg. (1666) S. 267); in der englischen Version (1669) ist die Abbildung spiegelverkehrt (S. 171)). Allem Anschein nach findet sich nur in der deutschen Version eine kurze Beschreibung der  Szene:”Unter andern Possen und Triegereyen / womit die Bettler in ·Sina· den Leuten das Geld vexieren / habe ihch auchzum offtern in unterschiedenen Städten und Dörffern / gesehen / daß sie den Hals durch einen grossen viereckten Stein / der ihren gantzen Leib wol zuschmettern konte [sic!] / gesteckt / und also auff der Erden gelegen; massen im beygefügten Kupffer recht lebendig abgebildet.” (S. 268)Bei dem ‘Stein’ handelt es sich um den sogenannten “Kang” (frz. cangue, von port. canga ‘Joch’, chin. mujia 木枷  oder jiasuo 枷鎖) wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert zur Bestrafung eingesetzt (ähnlich dem in Europa verbreiteten Pranger). Der Apparat bestand aus zwei Teilen, die zusammen ein schweres, flaches Brett mit einem Loch in der Mitte bildeten. Die Öffnung war so bemessen, dass der Delinquent atmen und schlucken konnte, aber mit seinen Händen nicht an den Mund kam (und daher beim Essen Hilfe brauchte).  Je nach Schwere des Verbrechens war das Halsholz unterschiedlich schwer, das jeweilige Strafmaß war seit dem Da Ming lü 大明律 von 1397 geregelt. Darstellungen dieser Bestrafung sind in der westlichen China-Literatur sehr häufig. [8]

Die Darstellung ist Programm: Einerseits wird in dem Band ausführlich die Gesandtschaft, die vor allem mit Beamten und Würdenträgern zusammentraf beschrieben, andererseits gibt es auch Informationen über ‘das gemeine Volk’ und dessen Sitten und Gebräuche. Anders als bei (in den nächsten Posts dieser Reihe zu diskutierenden) Texten von – in der Regel – jesuitischen Autoren fehlen hier sämtliche Bezüge auf göttliche Allmacht und/oder religiöse Symbole.

[1] Zur Biographie: “Goyer [Pieter de]” in Van der Aa e.a., Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Deel 7 (1862), 328.

[2] Nieuhof verbrachte den größten Teil seines Lebens fern seiner niederländischen Heimat: im Dienst der Geoctroyeerde West-Indische Compagnie (WIC) 1640-1649 in Brasilien, danach im Dienst der VOC – und später als Privatmann – auf dem indischen Subkontinent, auf Ceylon, in China und auf den Molukken.

[3] Dazu (mit Literaturhinweisen und kursorischen Verweisen auf Quellen im VOC-Archiv) Friederike Ulrichs: Johan Nieuhofs Blick auf China (1655-1657). Die Kupferstiche in seinem Chinabuch und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob van Meurs. (=SInologica Coloniensia 21, Wiesbaden: Harrassowitz 2003) 10 f.

[4] Links zu zahlreichen Digitalisaten → Bibliotheca Sincia 2.0.

[5] Zur Biographie: “Moers [Jacob van]” in: A.J. van der Aa, Biographisch woordenboek der Nederlanden. Deel 12. Tweede stuk. J.J. van Brederode, Haarlem 1869.

[6] S. Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Tokyo/Rutland/Singapore: Tuttle 2008) S. 257.

[7] H. S. Brunnert/V. V. Hagelstrom: Present day political organization of China (New York : Paragon (s. l. s. a.; Vorwort datiert “Foochow, 1911″), Nr. 950, S. 498.

[8] Zwei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert: Plate 13 in Mason/Dadley (engr.): The punishments of China (1804) und eine Photographie von John Thomson (Nr. 13, Abb. unten links) in Bd. 3 seiner  Illustrations of China and Its People (1874). Der Mann mit dem Halsbrett findet sich in einer der in den 1980ern von Leonard Blussé (wieder)entdeckten Skizzen. R. L. Falkenburg bezeichnet diese Skizze als Darstellung von “bedelaars en acrobaten (afb. 13)”, also “Bettlern und Akrobaten” ohne weiter zu kommentieren. Vgl.R. L. Falkenburg: “Johan Nieuhofs beelden van China” in:  L. Blussé and R. Falkenburg (ed.):  Johan Nieuhofs beelden van een Chinareis, 1655-1657 (1987) 63, Abb. S. 70 unten. (Online: Leiden University Repository)

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/428

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Klassiker und Zeichentrick (I): Sun Wukong 孫悟空, der ‘Affenkönig’

Der Affe gilt in Asien als klug, liebenswürdig und respektlos, er spielt vor allem  im Süden Chinas und in Tibet eine bedeutende Rolle in der Mythologie. Vielfach erscheinen Götter und/oder übernatürliche Wesen in der Gestalt von Affen, so in Indien der Affenkönig Hanuman, in China ist es Sun Wukong (japanisch: Son Gokū), der den Pilger Xuanzang auf der Reise nach Indien begleitet [1]. Diese Reise wird im 西遊記 Xīyóujì [Die Reise in den Westen], das Wú Chéng’ēn 吳承恩 (um 1500-1582) zugeschrieben und einer der vier klassischen Romane [2] der chinesischen Literatur ist, dargestellt. Der phantastisch-komische Roman erzählt von den 81 Bewährungen des ‘Affenkönigs’ Sun Wukong und des Mönchs auf der Reise zum ‘westlichen Himmel’ [3].

Im  Xīyóujì wird diese Geschichte in eine zweite eingebettet: Der Mönch Xuánzàng 玄奘 (603-664) war im 7. Jahrhundert von China nach Indien gereist, um heilige Schriften Buddhas nach China zu holen. Über diese sechzehn Jahre dauernde Reise verfasste Xuanzang einen ausfürhlichen Reisebericht [4], um den sich im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Legenden entwickelten – eine davon eben die über den Affenkönig.

Sūn Wùkōng 孫悟空, der ‘Affenkönig’, ist ein übernatürliches Wesen, das aus einem Felsen geboren wurde und durch daoistische Praktiken immense Kräfte erworben hat: Er kann schwere Lasten stemmen, ist pfeilschnell – und kennt 72 Verwandlugen (in Tiere und Objekte), jedes seiner Haare hat magische Eigenschaften, er kann Wind und Wasser beschwören und sich mit Beschwörungen vor Dämonen schützen, und er kann Menschen, Dämonen und Götter erstarren lassen. Er missbraucht seine Fähigkeiten und wird bestraft und für 500 Jahre unter einem Felsen gefangen. Um geläutert zu werden, darf er den Mönch Xuanzang nach Indien begleiten. Auf der Reise errettet er den Mönch aus zahlreichen Gefahren, spielt ihm aber auch zahlreiche Streiche.

Princess Iron Fan (1941)

Princess Iron Fan | Video

Eine Episode rund um den Affenkönig wird in Tiě shàn gōngzhǔ 鐵扇公主 [Princess Iron Fan/Prinzessin Eisenfächer] thematisiert, im ersten chinesischen Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge, der 1941 uraufgeführt wurde: Auf der Reise nach dem Westen kommen der Mönch und seine Begleiter – Sun, Shā Wùjìng 沙悟凈 und Zhū Bājiè 豬八戒 – in das Land des Feuerdämons, wo feuerspeinde Berge alles verbrennen. Sie erfahren, dass es einen magischen eisernen Fächer gibt, der die Macht des Feuerdämons bricht und das feuer löscht.

Die Prinzessin, die diesen Fächer hat, ist allerdings ein böser Geist, der nicht helfen will – im Gegenteil: Sie kämpft mit Sun Wukong und gibt ihm einen falschen Fächer, der die Feuer noch mehr anfacht. Im Kampf um den Fächer nehmen alle Beteiligten – die Prinzessin, ihr Mann, der Stier-Dämon und seine Geliebte, ein Fuchsgeist, ebenso wie Sun Wukong, der Sha Wujing und Zhu Bajie – unterschiedlichste (Tier-)Gestalten an, um durch List eine Entscheidung herbeizuführen. Der Affenkönig nimmt die Gestalt eines Käfers an, und lässt sich von der Prinzessin verschlucken. Er zwickt dann solange ihre Eingeweise, bis sie den Fächer abgibt. Mit dem Fächer kann Sun Wukong das Feuer löschen. Auch der Stierdämon wird gefangen und angekettet und kann so nicht weiter Schaden anrichten.

Produzenten und Regisseure des Films waren die Brüder Wan, Wàn Làimíng 萬籟鳴 (1900-1997) und Wan Guchan  萬古蟾 (1900-1995). die Pioniere des chinesischen Animationsfilms. Die beiden hatten in den 1920ern begonnen, mit Animation zu experimentieren und schließlich 1938-1940 an dem ersten Film in Spielfilmlänge gearbeitet, der am 1.1.1941 herauskam. Der Film wurde bald nach Japan gebracht, wo er nicht nur Manga-Künstler beeinflusste, sondern auch japanische Animationsfilme anregte, u.a. den Propagnadafilm Momotarō: Umi no Shinpei 桃太郎 海の神兵 (lit. Momotaro’s Gods-Blessed Sea Warriors, Regio: Seo Mitsuyo 瀬尾 光世, 1945).

Die Brüder Wan wandten sich dem Stoff noch einmal zu: Anfang der 1960er Jahre entstand Dànào tiāngōng 大鬧天宮 ['Uproar in Heaven'/'Havoc in Heaven'/'Aufruhr im Himmel].

[1] Wolfram Eberhard, Lexikon chinesischer Symbole. Die  Bildsprache der Chinesen (München: Diederichs 1996) 17 f.

[2 ]Die anderen drei: 三國演義 Sānguó Yǎnyì Die Geschichte der Drei Reiche (spätes 14. Jahrhundert);  水滸傳 Shuǐhǔ Zhuàn Die Räuber vom Liang-Shan-Moor (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) und 紅樓夢  Hónglóumèng Der Traum der roten Kammer  (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts).

[3] Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München: C.H. Beck, 2. Aufl. 1999) 433-435 gibt eine kurze Inhaltsübersicht und die wichtigsten Übersetzungen.

[4] Das Dà Táng Xīyù Jì 大唐西域記 ist eine der wichtigsten Quellen für das mittelalterliche Zentralasien, die erste franzöische Übersetzung von Stanislas Julien erschien 1857.

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/391

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Ein chinesisches ‘Phantom der Oper’: 夜半歌聲 (“Song at Midnight”, 1937)

Yèbàn gēshēng 夜半歌聲 [Song at Midnight, wörtlich: Gesang um Mitternacht] von Mǎ-Xú Wéibāng 馬徐維邦 aus dem Jahr 1937 wird häufig als der erste chinesische Horrorfilm bezeichnet. Der Film ist eine leicht bizarr anmutende Mischung aus Horrorfilm, Propagandastreifen und Musical, der Plot ist eine Adaption von Le Fantôme de l’Opéra von Gaston Leroux.

Der Film beginnt ganz im Stil von The Old Dark House (1932) mit der Ankunft einer Theatertruppe in einem verlassenen, vernachlässigten Theater, das von einem alten Verwalter bewacht wird. Das Haus stand 10 Jahre leer und war dem Verfall preisgegeben, nachdem dort der berühmte Opernstar Song Danping 宋丹平 umgekommen war. Die Truppe bringt das Haus wieder in Schuss und beginnt mit der Probenarbeit. Der junge Star hat schwierigkeiten mit seiner Partie und bleibt allein zurück, um weiter zu proben. Plötzlich hört er eine wunderbare Stimme, die ‘seinen’ Part singt. Es ist die Stimme von Song Danping, der auftritt und seine Geschichte in Rückblenden erzahlt: Song hatte sich in Li Xiaoxia, die Tochter eines reichen und mächtigen Feudalherrn. Der Vater war strikt gegen die Verbindung. Um seine Tochter von der Eheschließung abzuhalten, und lässt ihn verprügeln und durch Säure entstellen. Als die Verbände gelöst werden, ist Song so schockiert, dass er darum bittet, seiner Geliebten zu sagen, er wäre tot. Li verfällt daraufhin beinahe dem Wahnsinn.

Songs at Midnight | Internet Archive

Songs at Mighnet – Video im Internet Archive

Song aber versteckte sich all die Jahre im Theater und wartete auf einen Sänger, der sein Erbe antreten könnte. Song unterrichtet den jungen Sänger und erzählt ihm auch,  dass er täglich um Mitternacht für Li Xiaoxia singt (worauf sich der Titel bezieht), sich ihr aber niemals zeigt. Song verlangt von seinem Schüler als Gegenleistung für den Unterricht, dass dieser ihn selbst verkörpern muss, der von den Toten zurückgekehrt ist. Li Xiaoxia ist überglücklich über seine’Rückkehr’ – und Song, der die beiden beobachtet, freut sich, dass seine Geliebte wieder glücklich ist.

Als Lis Vater, der Songs Gesicht zerstört hatte, versucht, eine junge Schauspielerin zu vergewaltigen, geht Song dazwischen und zeigt sich ihm. Song will sich rächen, indem er ihn mit Säure attackiert, verfehlt aber in seinem Furor den Gegner. Die beiden ringen miteinander und Song wirft sienen Gegner aus dem Fenster. Der wütende Mob verfolgt Song bis zu einem alten, verlassenen Gebäude und steckt es in Brand. Song entkommt durch einen Sprung in den See hinter dem Gebäude.

Am Ende stehen Li Xiaoxia und Song Danping nebeneinander …

Oberflächlich betrachtet, ist der Streifen, der im Februar 1937 – kurz vor Beginn des Chinesishc-Japanischen Krieges (1937-1945) – uraufgeführt wurde, eine Adaption des ‘Phantom’-Stoffs – allerdings in einer hochpolitischen Variante vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Guomindang 國民黨 und Kommunistischer Partei Chinas. [1] Ein wesentliches Element des Erfolgs dieses Films waren die zahlreichen Lieder nach Texten von Tian Han 田漢 (1898-1968), die Musik dazu war von Xian Xinghai 冼星海 (1905-1945). In der Musik verbinden sich chinesische Volkslieder mit Elementen westlicher und chinesischer Opernmusik  [2].

Der Film, zu dem 1941 eine Fortsetzung (夜半歌聲續集 Yeban gesheng xuji “Midnight Song II”), gedreht wurde, wurde 1999 beim Udine Far East Film Festival gezeigt und seither bei zahlreichen Festivals präsentiert, so auch 2005 bei den 62. Internationalen Filmfestspielen von Vendig in der Reihe “The Secret History of Asian Cinema”, wo in ‘The Secret Histroy of Chinese Cinema’ chinesische Filme aus der Zeit zwischen 1934 und 1990 liefen.

Der Stoff ist überaus populär, es entstanden bisher zwei Remakes:

  • 1962-63 The Mid-Nightmare 夜半歌聲 von Yuan Qiuxia 袁秋楓 (Teil 1 夜半歌聲(上集): 1962; Teil 2 夜半歌聲(下集): 1963) mit Zhao Lei 趙雷 und Betty Loh Ti 樂蒂 in den Hauptrollen
  • 1995 The Phantom Lover (夜半歌聲 Yeban gesheng) von Ronny Yu Yan-Tai 于仁泰 mit Leslie Cheung 張國榮  als Song Danping

[1] David Robinson, “Return of the Phantom,” Film Quarterly Vol. 53 No. 2 (Winter 1999-2000) 43-46, Article Stable URL: http://www.jstor.org/stable/1213720, s. auch Donato Totaro: The Song at Midnight. The Chinese Phantom of the Opera. In: Offscreen Vol. 13, Issue 3 (March 2009)

[2] S. dazu Birgit Häse: “Einzig Dein Herz erkennt meine Gefühle”. Liebe als transkulturelles Kulturmuster in Phantom der Oper und Yeban gesheng. In: Häse, Birgit und Carsten Storm (Hg.), “Eroberungen aus dem Archiv”. Beiträge zu den Kulturen Ostasiens. Festschrift für Lutz Bieg. (Wiesbaden: Harrassowitz 2009) S. 241-280,  Szu-Wei Chen:  The music industry and popular song in 1930s and 1940s Shanghai, a historial and stylistic analysis (University of Stirling 2007 | http://hdl.handle.net/1893/202) 42, 179.

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/381

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Der Telegraph als Synonym für Fortschritt und Modernisierung?

De rebus sinicis notiert in Ein Telefon im Kaiserpalast, dass ein landesweites Telefonnetz erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eingerichtet wurde und kurz vor dem Ende der Qing-Dynastie auch den Kaiserpalast erreichte. Schon lange vorher war der Telegraph in China eingeführt worden. [1] Der Telegraph, der als ein Element der Modernisierung gesehen wurde, war auch Thema im Zusammenhang mit der Reise, die Li Hongzhang 李鴻章 1896 durch mehrere europäische Staaten und die USA führte. Li hatte zwar nach der Niederlage Chinas im Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/1895 vorübergehend seinen Einfluss bei Hof verloren (was seine Reise kaschieren sollte), galt aber im Westen als verlässlicher Ansprechpartner und als Befürworter der Modernisierung, worunter weniger eine Modernisierung des politischen Systems als die Öffnung Chinas für westliche Technologien geehen wurde. Dies zeigt sich im Reiseprogramm: Li Hongzhang traf nicht nur mit Staatsmännern und Herrschern zusammen, sondern besuchte auch zahlreiche Industriebetriebe und Infrastruktureinrichtungen: Fabriken, Werften, Rüstungsbetriebe und Telegraphenämter.

"Früchte von Li Hung-Tschang's Reise" (Kikeriki 23.7.1896)

Kikeriki 23.7.1896, S. 2. Quelle: ANNO

Eine kleine Karikatur im Kikeriki [2] vom 23.7.1896, S. 2 greift das Thema auf: “Früchte von Li-Hung-Tschang’s Reise” – “Li-Hung-Tschang: Ganz Europa ist mit einem Netz von Telegraphen überzogen. Gut, das wollen wir auch bald haben, und besser als die Barbaren.”

Das Bild zeigt einen durch Bart und Zopf als ‘chinesisch’ markierten Mann (durch die Überschrift als Li Hongzhang identifiziert), der in einem Pavillon mit Glaswänden sitzt. Von dem Pavillon führen in alle Himmelsrichtungen Reihen von (durch Zopf und Kleidung) als ‘chinesisch’ markierten Figuren weg. Jeweils zwei Personen stehen Nase, sie sind durch einen breiten Gürtel aneinandergebunden. Über die verknoteten Enden der Zöpfe sind die Paare jeweils mit den banchbarten Paaren verbunden. Der Zopf der Figur, die dem Pavillon jeweils am nächsten steht, hängt durch ein Loch im Fenster in den Pavillon. Die Figur in der Mitte ‘telegraphiert’, indem an einem der Zöpfe gezogen wird und so das Signal bis in die fernsten Ecken Chinas geleitet wird …

Die Karikatur erweckt den Eindruck, der Telegraph wäre in China in den 1890ern weitgehend unbekannt gewesen. Die Great Northern Telegraph Company (大北電報公司 Dabei Dianbao Gongsi), eine dänisch-chinesische Initiative,  hatte Anfang der 1870er Jahre die Telegraphie in China eingeführt. [3], die neue Technologie verbreitete sich rasch und wurde an das Sprachumfeld angepasst. Um die Schrifzeichen via Telegraph zu übernmitteln, entwickelte der däänische Astronom Hans Carl Frederik Christian Schjellerup den ersten Telegraphencode, der bald  von einer verbesserten Version von S. A. Viguier abgelöst wurde. [4] /und später kontinuierlich erweitert/verbessert wurde. Eine chinesische Telegraphenveraltung gab es seit 1882 – zunächst als guandu shangban-Unternehmen [ein Unternehmen, das von Kaufleuten geführt, aber von Beamten kontrolliert wurde], das 1908 vom Verkehrsministerium übernommen wurde …

[1] Zum Telegraphen in China (und zur Rolle Dänemarks) im 19. Jahrhundert: Erik Baark: Lightning Wires: The Telegraph and China’s Technological Modernization, 1860–1890. (Westport, CT: Greenwood Press 1997). Erik Baark: Catalogue of Chinese Manuscripts in Danish Archives (= Studies on Asian Topics No. 2, London/Malmö: Curzon Press 1980) verzeichnet eine Reihe von Korrespondenzen zwischen den chinesischen Behöreden und den Vertretern Dänemarks im Zusammenhang mit der Great Northern Telegraph Company.

[2] Der Kikeriki, der sich als “humoristisches Volksblatt” sah, erschien zwischen 1861 und 1933 war eine der einflussreichsten satirisch-humoristischen Zeitungen Wiens.

[3] Zur Great Northern Telegraph Compnay: Erik Baark: “Wires, codes, and people: The Great Northern Telegraph Company in China.” In: China and Denmark: Relations Since 1674, edited by Kjeld Erik Brødsgaard and Mads Kirkebæk (Nordic Institute of Asian Studies 2001) pp. 119–152. 

[4] S. A. Viguier((威基謁 Waijiye): Dianbao xinshu 電報新書 [New numbercode for the telegraph in Chinese made by S. A. Viguier in 1871 based on the first invented code made by the Dane H.C.F.C Schjellerup from 1871] (Published in Shanghai in theTongzhi shiyi year = 1872) [→ Digital version]. 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/330

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Li Hongzhang in New York: Meeting the “The Yellow Kid” (1896)

Li Hongzhang 李鴻章  (1823-1901), einer der bedeutensten Staatsmänner der späten Qing-Zeit, nahm 1896 an der Krönung von Zar Nikolaus II. teil und reiste dann durch mehrere europäische Staaten – unter anderem besuchte er Bismarck in Friedrichsruh – und in die USA. Alle Phasen dieser Reise wurde von den Medien genauestens beobachtet, jeder Schritt des Gastes aus China wurde ausführlich beschrieben, manche sonderbar wirkenden Elemente dem Publikum erläutert. Die Zeitungen waren voll mit Berichten und Analysen; und auch in satirischen Blättern und Comic Strips taucht der Besuch aus China immer wieder auf. Auf 井底之蛙 erinnert Alan Baumler in dem Beitrag Yellow Kid an einen Comic von Richard F. Outcault (1863-1928) aus dem Jahr 1896.

Li Hung-Chang Visits Hogan's Alley

Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley (6.9.1896)  [Quelle: SFCGA - San Francisco Academy of Comic Art Collection, The Ohio State University Billy Ireland Cartoon Library & Museum]

Der one-pager “Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley” (6.9.1896 | → full size/zoomable image) gehört zu den bekanntesten Yellow-Kid-Seiten [1] und taucht in den unterschiedlichsten Kontexten auf. In Darstellungen zur Comic-Geschichte im Zusammenhang mit Copyright-Fragen. Baumler findet die Qualität der Schrifzeichen beachtenswert. Wolfgang Höhne [2] sieht das Bild als Beispiel für “die Welt vor 1945″ und sieht “eines der vielen ärmlichen Einwandererviertel mit seinen viergeschossigen Backsteinbauten und den offenbar schon damals obligatirischen [sic!] Feuerleitern.” [3]Dabei unterbleibt eine Auseinandersetzung mit dem Entstehungskontext und die sich daraus ergebende Deutung – der Witz geht damit verloren …

Li Hongzhang kam Ende August nach New York, er reiste nach Philadelphia und Washington und traf mit dem US-Präsidenten Stephen Grover Cleveland (1837-1908, Präsident 1885-1889 und 1893-1897). Die New York Times berichtete im August 1896 ausführlich über die Vorbereitungen und dann Ende August und Anfang September ausführlich über den Verlauf des Besuchs. Am 28. August 1896 wurde ausführlich über die Vorbereitungen für den Empfang und das Programm des Besuchs in New York berichtet: “Awaiting the Viceroy [...] ‘Chinatown’ to Celebrate with Fireworks. [4] Genauso ausführlich wurde über Lis Besuch am Grab von Gen. Grant (31.8.1896) [5] und Lis andere Aktivitäten berichtet. Der Besuch wurde in mehreren Filmen dokumentiert. [6]

Richard Felton Outcault (1863-1928) gilt mit Hogan’s Alley als ‘Erfinder’ des modernen Comic Strips. Seine Arbeiten erschienen in den Sonntagsbeilagen großer Tageszeitungen The Yellow Kid ist eine Schlüsselfigur in Hogan’s Alley, einer Seire, die zwischen 1895 und 1898 (zunächst in der New York World, später im New York Journal) erschien. Die one-pager greifen in der Regel aktuelle Themen der vergangenen Woche auf und bewegen sich an der Grenze zwischen Comic und Karikatur – so auch “Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley” (New York World, 6. September 1896):

Das Bild zeigt die typische Straßen-Szene der Hogan’s Alley, die – dem Anlass entsprechend – mit zahlreichen chinesischen Lampions geschmückt ist. Die explodierende Feuerwerkskörper erleuchten die Szenerie. Im Zentrum des Bildes sitzt eine männliche, als Chinese markierte Gestalt auf einem etwas merkwürdigen Karren, der von einem Ziegenbock gezogen wird. Der Bock wird vom Yellow Kid am Bart geführt. Wie in jedem Yellow Kid-Comic erzählt der (wie üblich mit zahlreichen orthographischen Fehlern behaftete) Text auf dem gelben Kleid die Geschichte: “Me & LI has made a big hit with each oter. Say! He tinks I’m a Chinaman – don’t say a woid. I’m goin ter give a yellow tea fer him – I know my Q.”
Rechts spielen “The Hogan’s Alley Guards” für den Gast, links und im Hintergrund sieht man zahlreiches Publikum – mit Lampions an Stangen, Klapp- und Faltfächern, mit Stars & Stripes und einer “chinesischen” Fahne
[7]- eine eigentlich recht idyllische Szene …

Liest man die Texte auf Plakaten, Fächern, Wimpeln, Transparenten etc., ergibt sich ein ganz anderes Bild.

  • Einer der Sänger, die vor der Kapelle marschieren singt nach anderen Noten
  • An dem Bretterzaun hängt ein Plakat “The new song / Did you  ever get the money that you loaned? / Or / Where are all your Friends? – A Park Row Ballad.”
  • Das Mädchen vorne links trägt einen Blattfächer mit der Aufschrift: “HURRAH! FER LIE-HANG-CHUNK.
  • Darüber sieht man ein großes Plakat “Quiet Corner Club Picnic fer Li-Hung-Chang in Ryan’s Vacant Lot next Thursday – Gents 50 cents, Ladies 25 [cents], real Ladies free”, in der Ecke das Schriftzeichen 李 [Li].
  • Der Hund im Vordergrund rechts balanciert auf seinem Schwanz, am Halsband ein Etikett “I am leading an upright life. We are all at our best Today”
  • Links vorne steht ein “gepinseltes” Banner: “Bee Gee!” Nothing so much fun as lots of noise”
  • Rechts vorne: “Quit yer kiiddiin.”

Die dargestellte Szene mit all ihren Widersprüchlichkeiten lässt sich durch die Sprechblase bei der kleinen Ziege am Dach des Hauses deuten: “They are giving him some genuine Chinese music.”

In die Neugierde, mit der man dem seltenen Gast begegnete, mischen sich gängige Klischees und Vorurteile und Anspielungen auf die aktuelle politische Lage – u.a. die schwierige finanzielle Lage Chinas, der Umgang mit chinesischen MigrantInnen in den USA (der Chinese Exclusion Act von 1882, der 1892 erneuert worden war, beschränkte deren Einwanderung) massiv. Lampions, Feuerwerke und (dissonante) Musik evozieren das Leben in den Chinatowns – obwohl auf dem Bild außer Li niemand als Chinese oder Chinesin markiert ist.

Li Hongzhang (der durch die Überschrift und den Text auf dem gelben Kleid zusätzlich identifiziert wird) selbst ist eine Mischung aus Fakt und Phantasie, aber durchaus erkennbar, wie ein Vergleich mit einer Photographie aus dem Jahr 1896 zeigt. Zwei Elemente erscheinen merkwürdig: die gelbe Kleidung – die im Qing-zeitlichen China den Angehörigen des Kaiserhauses vorbehalten war – und die Pfauenfedern, die an Lis Hut steil hochstehen. Diese Pfauenfedern sind ein Element, das in Karikaturen mit China-Bezug häufig auftaucht, aber nur selten so, wie sie tatsächlich getragen wurden: Die Federn – Auszeichnungen, die Beamten für ihre Verdienste verliehen werden konnten (lingzhi 翎枝) – wurden tatsächlich mit einer Öse am Rangsknopf befestigt und hingen nach unten. [8]

Yellow Kid gilt zwar als Urform des modernen Comic Stips, steht aber in Form und Inhalt an William Hogarths Beer Street and Gin Lane (1751) [9], wo sich hinter einer vordergründig heiteren Szene beißende Ironie und Satire verbergen, die dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleiben …

[1] Zu “The Yellow Kid” vgl. Mary Wood: The Yellow Kid on the Paper Stage.

[2] So u.a. bei Wolfgang Höhne: Technikdarstellung im Comic. Der Comic als Spiegel technischer Wünsche und Utopien der modernen Industriegesellschaft [online] (Diss, Univ. Karlsruhe 2003).

[3] Wolfgang Höhne: Technikdarstellungen im Comic (2003) – Bildteil online: http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/2003/geist-soz/1/html-1/3-welt/fr-w-02.html.

[4] U.a.:  The Arrival of Li Huang Chang (imdb), Li Hung Chang Driving Through 4th St. and Broadway(imdb), und Li Hung Chang at Grants Tomb (imdb).

[5] New York Times, 28. Augst 1896.

[6] New York Times, 31. August 1896.

[7] Die “chinesische” Fahne ist hier dreieckig mit gezacktem/geflammtem Rand. Sie zeigt eine art von Drachen oder Fabelwesen und erinnert an die dreieckige Variante der “Gelbe-Drachen-Flagge” [huanglongqi 黃龍旗], die zwischen 1862 und 1889 von der Marine und von “offiziellen” Schiffen verwendet worden war, bevor die viereckige Form in Gebrauch kam.

[8] Zu den Abstufungen: Present day political organization of China. By H.S. Brunnert and V.V. Hagelstrom; rev. by N. Th. Kolessoff ; tr. from the Russian by A. Beltchenko and E.E. Moran (New York : Paragon [s. d., Foreword dated Foochow, 1911] Nr. 950 (p. 498).

[9] William Hogarth, Beer Street and Gin Lane (1751) – Kurzbeschreibung und kurze Erläuterung → The British Museum.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/270

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Imaginationen des Anderen: Dr. Fu Manchu, ein chinesischer (?) Gangster

Chinesische Gangster waren ‘die Bösen’ in zahllosen Groschenromanen und Dime Novels [1] im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesen Geschichten wie Hop Lee, The Chinese Slave Dealer; or, Old and Young King Brady and the Opium Fiends. A story of San Francisco (1899) oder The Bradys and Hi-Lo-Jak; or, Dark Deeds in Chinatown (1903) oder The Bradys and the Yellow Crooks(1910) erscheinen Chinesen als betrügerische Händler, Betreiber von Opiumhöhlen und sonstigen zwielichtigen Etablissements und Chinesinnen als ihre besonders listige Gehilfinnen in Verbrechersyndikaten. Die Verbrecher werden von (in der Regel weißen) Polizisten oder Privatdetektiven gejagt und letzhin dingfest gemacht.

The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E1

Glen Gordon (Fu Manchu) in “Prisoner of Fu Manchu” (air date: Sept 3 1956) -

Eine neue Dimension erreicht der Topos vom chinesische Gangster mit der Figur des Dr. Fu Manchu aus den Romanen des Briten Sax Rohmer (egentlich Arthur Henry Sarsfield Ward, 1883-1959). Der erste Fu-Manchu-Roman, The Mystery of Dr. Fu-Manchu [2] erschien zwischen Oktober 1912 und Juni 1913 als Fortsetzungsroman, bis 1917 folgten zwei weitere Roman. Ab 1931 nahme Rohmer die Serie mit The Daughter of Fu Manchu wieder auf. Insgesamt gibt es dreizehn Fu Manchu-Romane von Sax Rohmer, dazu eine posthum veröffentlichte Sammlung von kürzeren Geschichten, The Wrath of Fu Manchu.

Die Romane erzählen in Varianten eine immer gleiche Geschichte: Der chinesische Super-Gangster Dr. Fu Manchu will die Weltherrschaft an sich reißen. Dies wird von (Sir) Denis Nayland Smith und dessen Assistent Dr. Petrie (der – ähnlich wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson – die Geschichte erzählt) im allerletzten Moment vereitelt. Die Ideen Fu Manchus werden immer abstruser, die Verbrechen monströser, die Foltermethoden immer perfider – speziell in den zahlreichen Filmen und TV-Produktionen, die mit Stummfilmen in den 1920ern begann.

Das Bild, das der Name Fu Manchu evoziert, ist das eines Mannes in ‘chinesischen’ Gewändern, mit einer schwarzen Kappe auf dem Kopf – und mit dem typischen Fu-Manchu-Bart, einem dünnen Schnurrbart, der das Philtrum freilässt, aber außen bis unter Kinnhöhe reicht (ein Attribut, das in den Romanen nicht auftaucht). In den Filmen wurde Fu Manchu von eine Reihe von Schauspielern verkörpert, u.a. Harry Agar Lyons (1878-1944), Warner Oland (1879-1938,  auch bekannt als Darsteller des chinesischen Meisterdetektivs Charlie Chan), Boris Karloff (1887-1969) und Christopher Lee (*1922). Keiner der Darsteller ist Asiate, ihr ‘chinesisches’ Aussehen verdanken sie der Maske. Hollywood hielt es lange Zeit für unmöglich, asiatischen Darstellerinnen und Darstellern Hauptrollen zu überlassen [3].

Unter den Filmen, deren (mitunter zweifelhafte) künstlerische Bedeutung hier nicht thematisiert werden soll, erscheint einer besonders bemerkenswert: The Mask of Fu Manchu [4], ein Pre-Code-Film aus dem Jahr 1932 (Uraufführung: 5.11.1932) mit Boris Karloff als Fu Manchu und Myrna Loy (1905-1993) als Fah Lo See. Der Film, gegen den China bei seinem Erscheinen heftig protestierte, geriet bald in Vergessenheit, wurde aber seit den 1970ern quasi ‘wiederentdeckt’ und kritisch neu betrachtet. Die Fu-Manchu-Filme, die auf den Romanen von Sax Rohmer basierten, arbeiteten mit dem Bild des geheimnisvollen Orientalen, dessen rätselhaftes Tun mit ‘westlichen’ Moralvorstellungen nur schwer in Einklang zu bringen ist.

Das in Fu Manchu manifestierte Stereotpy vom bösen asiatischen Genie, das nach der Weltherrschaft strebt, kann eine Variante, der seit dem späten 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA latentem Angst vor der Gelben Gefahr Ausdruck zu verleihen, gesehen werden [5]. Als diese ihren Schrecken verlor, wurde die Figur des Fu Manchu in Filmen etc. mehr und mehr zur Karikatur und mithin Parodie ihrer selbst [6] Während Dr. Fu Manchu nun zunehmend als eher lächerliche Figur erschien, wurde der von Rohmer kreierte Typ ‘chinesischer’ Super-Gangster zum Vorbild für zahlreiche ‘orientalische’/'asiatische’ Bösewichte in Romanen, Graphic Novels/Comics und Filmen. [7]

 

[1] Zu Dime Novels allgemein vgl. die Informationen der Dime Novel and Story Paper Collection der Stanford University Library.

[2] US-Ausgabe unter dem Titel The Insidious Dr. Fu Manchu (Volltext: Project Gutenberg)

[3] Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für diese Praxis ist The Good Earth (USA 1937), ein Film nach einem Drama, das auf dem gleichnamigen Roman von Pearl S. Buck aus dem Jahr 1931 basiert. Im Film spielte Paul Muni den Bauern Wang Lung, seine Frau O-Lan wurde von Luise Rainer dargestellt, die dafür den Oscar (beste Schauspielerin) erhielt. – Ähnlich auch The Inn of the Sixth Happiness (USA 1958), ein ‘biopic’, das das Leben der Gladys Aylward beschreibt: Hier spielte Curt Jrgens den chinesischen Offizier Lin Nan und Robert Donat den Mandarin/Ortsvorsteher des Dorfes, in dem sich die Missionarin niederließ.

[4] Zum Plot vgl. The Mask of Fu Manchu in der IMDb 

[5] Dazu ua. Urmila Seshagiri: “Modernity’s (Yellow) Perils: Dr. Fu-Manchu and English Race Paranoia.” In: Cultural Critique, No. 62 (Winter, 2006), pp. 162-194; John Seed: “Limehouse Blues: Looking for Chinatown in the London Docks, 1900-40.” In: History Workshop Journal, No. 62 (Autumn, 2006), pp. 58-85; David Shih: The Color of Fu-Manchu: “Orientalist Method in the Novels of Sax Rohmer.” In: The Journal of Popular Culture, Volume 42, Issue 2, April 2009, Pages: 304–317.

[6] Vgl. dazu u.a. die TV-Serie The Adventures of Dr. Fu Manchu  aus den 1950ern (einige Episoden im Internet Archive: S1E1: The Prisoer of Fu Manchu (1956), The Aventures of Dr. Fu Manchu S1E9: The Death Ships of Fu Manchu (1956), The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E11: The Masterplan of Fu Manchu (1956)) oder Pieter Sellars’ The Fiendish Plot of Dr. Fu Manchu (USA/GB 1980)

[7]U.a.: Pao Tcheou, der Meister des Unsichtbaren, Ming the Merciless [dt. 'Ming der Grausame'] aus den Flash Gordon-Comics,  oder Lo Pan in “Big Trouble in Little China”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/254

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Der Kaiser von China — ein Bild aus dem 17. Jahrhundert

Die Rubrik “Splitter” notiert in loser Folge erste Beobachtungen, Überlegungen, “Angedachtes”, Geistesblitze aus laufenden Projekten/Arbeiten, um lose Enden festzuhalten, Ideen wachsen zu lassen … und neue Antworten zu finden.

Martino Martini: Histori von dem Tartarischen Kriege ... (1654)
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdrängten die Mandschu und ihre Verbündeten die Ming-Dynastie (1368-1644), die Qing-Dynastie übernahm die Kontrolle über das Reich. Dieser bewaffnete Konflikt ist eines der ersten Ereignisse der Geschichte Chinas, für das Berichte von Europäern, die sich zu der Zeit in China befanden, nach Europa kamen. [1]

Der Jesuit Martino Martini (1614-1661), der ab 1643 in China arbeitete, berichtet in De bello tartarico historia (Antwerpen 1654), dt. Histori von dem Tartarischen Kriege wieder die Sineser (Amsterdam 1654) bzw. Historische Beschreibung des Tartarischen Kriegs in Sina (s. l. 1654) über die Ereignisse. [2] Die einzelnen Ausgaben unterscheiden sich beträchtlich, einige sind mit zahlreichen Illustrationen und einem illustrierten Titelblatt (s. Abb. links) ausgestattet, andere kommen ohne Illustrationen – gemeinsam ist allen das kleine Format (12°).

Das Titelblatt bleibt zunächst unverständlich: Der Titel ist von vier Feldern umgeben: oben ein Kopf mit zwei liegenden Gestalten, links eine stehende Figur in ‘exotischer’ Kleidung, rechts die stehende Figur eines Kriegers/Soldaten mit Pfeil und Bogen; unten eine ‘orientalische’ Stadtansicht. Blättert man in den Band hinein, wird die Figur links als chinesischer Kaiser identifizierbar, der in den unterschiedlichsten Situationen dargestellt wird. (vgl. u.a. die Illustration zu S. 26).

Der ‘Kaiser von China’ erscheint in Gestalt einer eher beleibten Figur mit schwarzer Kappe und wallenden Gewändern, über der Brust ein kreisförmiges Emblem mit zwei stehenden Vögeln – er erinnert an die ‘offiziellen Porträts der Ming-Kaiser, z.B. ein Porträt des Yongle 永樂 Kaisers (1360-1424, r. 1402-1424).

Dieser ‘Kaiser von China’ taucht nach De bello tartarico historia in zahlreichen Publikationen immer wieder auf:

  • In Martinis Novus Atlas Sinensis (1655) in der Titelvignette der Karte “Pecheli [i.e. BeiZhili 北直隶] sive Peking imperii sinarum provincia prima” sitzt ‘der Dicke’ unter einem Sonnenschirm [3]:
  • Nicht ganz so fein ausgearbeitet wie im Novus Atlas Sinensis, aber in gleicher Pose findet sich die Figur auf dem Titelblatt von De re litteraria sinensium commentarius (16660) von Theophil Spitzel:[4]
  • Unter dem Titel “Der alte Kayser von China” findet sich die Figur auch im Thesaurus Exoticorum
    Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ ... Nach ihren Königreichen.../ Eberhard Werner Happel. - [Online-Ausg.]. - Hamburg : Wiering, 1688

    E. W. Happel: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ … Nach ihren Königreichen… (Hamburg : Wiering, 1688) http://diglib.hab.de/drucke/gv-2f-26/start.htm

In De bello tartarico historia wird nur aus dem Zusammenhang angedeutet, wer gezeigt wird, im Novus Atlas Sinensis und bei Spitzel bleibt die Figur ohne Erläuterungen und somit weitgehend Dekoration.
Happels Bezeichnung – “Der alte Kayser von China” – gibt Aufschluss darüber, wer hier dargestellt werden soll: Ein (nicht näher bezeichneter) Herrscher der (eben untergegangenen) Ming-Dynastie – den Herrscher der neuen Dynastie, den Shunzhi Kaiser, stellt er ganz anders dar [6].

 

Ein Beispiel von vielen, das zahlreiche Fragen aufwirft:

  • Fragen nach dem “Ursprung” und den “Vorlagen” europäischer China-Bilder
  • Fragen nach Original und Verfremdung
  • Fragen nach der Grenze zwischen Dekoration und Illustration


[1] Edwin J. Van Kley: “News from China; Seventeenth-Century European Notices of the Manchu Conquest”. In: The Journal of Modern History Vol. 45, No. 4 (Dec., 1973), pp. 561-582.

[2] Zu den Ausgaben von De bello tartarico historia und diversen Übersetzungen aus dem 17. Jh. s. Bibliotheca Sinica 2.0.

[3] “Pecheli sive Peking imperii sinarum provincia prima (Amsterdam: Blaeu 1655), Quelle: gallica.

[4] Gottlieb Spitzel: De re litteraria Sinensium commentarius (Lugd. Batavorum: ex officina Petri Hackii 1660), Titel.

[5] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 19.

[6] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 27.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/193

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Mind the gap(s): Raum und Zeit

Der visuelle Kanon, der ‘China’ und ‘Chinesisch-Sein’ markiert, ist äußerst langlebig. China-Bilder (im Wortsinn), die von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung längst überholt sind, bleiben lange im kollektiven Bewusstsein hängen, wie etwa die nebelverhangenen Bilder von den Schluchten des Changjiang 長江 (die durch den Drei-Schluchten-Staudamm überflutet wurden) und viele andere.

Ein Grund für die nur zögernde Aktualisierung dieser Bilder dürfte der Nimbus des Exotischen sein, der allem Chinesischen anzuhaften scheint und der unabhängig von der medialen Präsentationsform ist. Dieses rätselhafte China wird in Text und Bild dargestellt, in Dokumetationen ebenso wie in rein fiktionalen Darstellungen.

Fast alle ‘klassischen’ Comics-Serien haben zumindest eine China-Episode. [1]auch unter Les aventures de Tintin [dt. Tim & Struppi] gibt es mit Le lotus bleu [dt. Der blaue Lotus] einen China-Band. Le lotus bleu, das 5. Album der Reihe, erschien zunächst im Petit Vingtième, einer Beilage zur konservativen Zeitung  Le Vingtième Siècle, in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Die einzelnen Abschnitte der  Serie – unter dem Titel “Tintin en Extrême-Orient” – erschienen zwischen 9. August 1934 und 17. Oktober 1934.  Als Album (in Farbe) erschien die Geschichte in stark überarbeiteter Form 1946.

Der blaue Lotus wird häufig als Wendepunkt in der Arbeit Herge’s bezeichnet – in mehrfacher Hinsicht: Häufig genannt wird  die Abkehr von der Reproduktion populärer Vorurteile [2] und die Hinwendung zu einer differenzierteren Darstellung. Dieser Aspekt wird explizit thematisiert: In einer Szene rettet Tim einen chinesischen Jungen aus einem reißenden Fluss – und der Junge frage, warum Tim ihn gerettet habe.[3] Tim antwortet “Tous les blancs sont pas mauvais, mais les peuples se connaissent mal.”  .[4]

Hergé greift ein Anfang der 1930er sehr aktuelles Thema – die Mandschurei-Krise – auf und ergreift für die chinesische Seite Partei. Das China, für das er Partei ergreift, ist allerdings nicht das China der 1930er, sondern das China der späten Qing-Zeit. Das China, das gezeigt wird, ist nicht das mondäne Shanghai der 1930er Jahre mit all seinen Widersprüchlichkeiten (das Mao Dun 矛盾 (1896-1981) in Ziye (1933, dt. “Shanghai im Zwielicht”) so einprägsam dargestellt hat), sondern ein sehr traditionelles/traditionalistisches China: Tim erwacht in traditionellen Gebäude [四合院 sìhéyuàn] mit Gitterwerk an den Fenstern und Rollbildern an den Wänden. Die Möbel sind vorwiegend an den Wänden entlang aufgestellt, zahlreiche ‘chinesische Vasen’ in allen Größen schmücken die Räume (Petit Vingtième n°47 du 22 novembre 1934/Album S. 18 f.). Sein Gastgeber, Wang Jen-Chie erscheint in der Kleidung eines chinesischen Gelehrten (Petit Vingtième n°48 du 29 novembre 1934/Album S. 19) – in einem knöchellangen Kleid, darüber eine ärmellose Weste mit Stehkragen und Knebelverschlüssen, das Haar unter einer kleinen schwarzen Kappe, weiße Socken und schwarze Stoffschuhe an den Füßen.

Die Shanghaier Straßenszenen, die Hergé entwirft, entsprechen dem Bild, das von frühen Bildpostkarten und frühen Fotografien vertraut ist – und diese Bilder sind durchaus langlebig: sehr belebte Straßen, von Läden gesäumt, die mit auffälligen Aufschriften und Fahnen Werbung machen, mächtige Stadtmauern mit wuchtigen Tortürmen, deren Dächer apotropäische Figuren (yánshòu 檐獸) tragen.

Dossier: La Chine, lointaine et proche - Sur fr.tintin.com

Quelle: http://fr.tintin.com/news/index/rub/100/id/3711/0/la-chine-lointaine-et-proche

Die elektrische Beleuchtung und die zahlreichen Strommasten und elektrischen Leitungen erscheint vor diesem Hintergrund besonders auffällig, gehörten aber seit den 1880ern zum Stadtbild in Shanghai. [5] In den 1930ern standen die Stadtmauern von Shanghai , die in Le Lotus Bleu immer wieder auftauchen,lange  nicht mehr, diese waren 1912 unter Gouverneur Chen Qimei zerstört worden. [6]

Dass Hergé zwischen dem Modernen und dem Alten schwankt, erscheint wenig verwunderlich – hatte er doch nur eingeschränkt Zugang zu dokumentarischem Bildmaterial und musste mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand auskommen.

Umso verwunderlicher erscheint es, dass Versatzstücke aus Le Lotus Bleu fast siebzig Jahre später wieder verwendet werden. Der Kanadier Guy Delisle (*1966) verarbeitet in der Graphic Novel Shenzhen (2000, dt. 2006) seinen Aufenthalt in Shenzhen 深圳市. Delisle kam Ende 1997 für drei Monate in die Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, um für ein Trickfilmstudio Arbeiten zu überwachen. In tagebuchartigen Szenen beschreibt Delisle seine Wahrnehmung des ‘chinesischen Alltags’, den Umgang mit kulturellen Besonderheiten und interkulturellen Missverständnissen.

Guy Delisle: Shenzhen

Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
Comic Salon Erlangen 2008 | Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
- Ausstellung: Guy Delisle – Lost in Translation
Copyright: Guy Delisle: Shenzhen. Seite 103 – Reprodukt

In einem ganzseitigen Panel (p. 103) werden Versatzstücke aus Le Lotus Bleu kombiniert zu einer Staßenszene: das Werbebanner und das Geschäftsschild aus dem oben besprochenen Panel [7], ein Rikschaläufer (vgl. Le Lotus Bleu Petit vingtième n°36 du 6 septembre 1934 [Panel unten rechts]/Album S. 7) und ein Lastenträger, der an einer langen Schulterstange schwere Lasten transportiert.

Die Banner über Geschäftseingängen gehören weiter zum Straßenbild [8], Rikschaläufer allerdings weniger und alte Männer in langen Gewändern sieht man ebenfalls selten …

Mind the gap(s) …

  • wenn ein Comic der 1930er mit Elementen aus dem China der 1900er/1910er Jahre arbeitet und
  • eine Graphic Novel im Jahr 2000 die Boomtown Shenzhen mit dem visuellen Vokabular der 1930er darstellen will.


[1] Die große Ausnahme ist Asterix, der kleine Gallier kam nie nach China.

[2] Die ersten Bände, vor allem ‘Tim & Struppi. Im Kongo’ erzählen von rassistischen Vorurteilen geprägte Geschichten, die den westlichen Imperialismus und Kolonialismus positiv herausstreichen.

[3] Erstfassung: Le petit vingtième No. 22 du 30 mai 1935 und Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 44 f.

[4] Erstfassung: Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 45 f.

[5] S. dazu: Frank Dikötter, Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in China (Columbia University Press, 2007) 133 und 135.

[6] Heute steht nur ein kleiner Rest, der als Museum genutzt wird [Dàjìng Gé Pavillon 上海古城墙和大境阁).

[7] Der Bezug ist eindeutig, Form (farblich abesetzter Rand mit Bogenkante) und Aufschrift des Banners sind identisch.

[8] Vgl. Moving Cities | Shenzhen

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/128

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