Gedanken zur interdisziplinären Zusammenarbeit in den Geschichts- und Kulturwissenschaften
Folgt man den aktuellen Diskussionen zur Rolle von Computer und Internet in den Geisteswissenschaften, dann gewinnt man den Eindruck, diese hätten die wissenschaftliche Praxis nahezu ausschließlich im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Texten (Forschungsmaterial, Quellen und Sekundärliteratur) und komplementär dazu im Hinblick auf ein rein textbezogenes Publikations- und Kommunikationswesen (e-journals, open access etc.) revolutioniert. Dass diese Perspektive in den Geschichtswissenschaften, die einerseits zuallererst mit Textquellen arbeiten und schließlich – über Quelleneditionen und -auswertungen hinaus – traditionell auf die Darstellung komplexer historischer Sachverhalte in monographischer Form zielen, eine gewisse Berechtigung haben, ist evident und war auch auf der Eröffnungstagung AG Digitale Geschichtswissenschaft zu spüren, die mir den Anstoß für die folgenden Überlegungen gab.
Müsste man an diesem Punkt stehen bleiben, wären das eher schlechte Voraussetzungen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, denn vor allem das Publikationswesen ist üblicherweise ein je nach Disziplin mit sehr unterschiedlichen Traditionen und Gepflogenheiten behaftetes Feld. Vor dem Hintergrund des sich zunehmend entwickelnden fachübergreifenden Feldes der “Digital Humanities” und der immer intensiveren – aber vielleicht auch immer ambivalenteren – Diskussion um Interdisziplinarität, erscheint es sinnvoller, gezielt nach den Bereichen zu suchen, an denen verschiedene Fächer gewinnbringend und reibungsarm zusammenarbeiten können. In denjenigen Bereichen, in den ausgeprägte Fachkulturen herrschen, sollte man jedenfalls nicht zuerst den Ansatz für Annäherungen suchen. Ein realistischerer Blickwinkel wäre vielleicht dieser: Die Verschiedenheit liegt in den Methoden und Fragestellungen aber nicht im Material. Warum ist das aber gerade vor dem Hintergrund digitaler Technologien und Daten interessant?
Die digitalen Infrastrukturen und Methoden bringen zwar einerseits eine immer stärkere Virtualisierung mit sich, aber es ist sicherlich nicht richtig, dass daraus eine immer größere Abstraktion im Sinn einer reinen Textkultur resultierte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Digitalität führt gleichzeitig wieder zum Material und insbesondere zu seiner bildlichen, ja sogar räumlichen Wiedergabe. Nie zuvor kam der/die einzelne Forscher/in in solcher Breite so nahe und in solchem Umfang an Primärmaterial heran. Wenn auch nur in virtueller Repräsentation, können wir ortsunabhängig Urkunden, Inschriften und alle Arten materieller Artefakte sehen und sie nicht nur hinsichtlich der in ihnen vielleicht enthaltenen textuellen Information, sondern auch weitestgehend ihre formalen oder sogar materiellen Aspekte wahrnehmen. Dass auch die Geschichte mit letzteren etwas anfangen kann, zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Zahl der Abbildungen in Büchern und bei Vorträgen. Münzen, Siegel, Bullen, Herrscher- und Amtsinsignien, Inschriften aller Art – aber auch die “politische Ikonographie” bildlicher Darstellungen – liegen an der Schnittstelle zwischen historischer und kultur- bzw. kunst- und bildgeschichtlicher Perspektive. Während die disziplinbezogenen Vorgehensweisen und ihre Ziele stets unterschiedlich ist sind auch sein sollen, erscheint auf der Ebene der nun durch digitale Methoden und Technologien revolutionierten Materialerschließung eine engere Zusammenarbeit vielversprechend. Voraussetzung ist dabei allerdings (schon innerhalb einer einzigen Disziplin), dass beim Einsatz digitaler Arbeitsinstrumente nicht ausschließlich projekt- und fragestellungsorientiert gedacht wird, sondern auf offene und anschlussfähige Infrastrukturen hingearbeitet wird. Die bisherigen Förderstrukturen waren darauf zu wenig ausgerichtet, sondern zielten zu sehr auf Einzelergebnisse, die auf diese Weise bald als inkompatible Insellösung irgendwo liegenblieben.
Es ist jedoch schon jetzt unübersehbar, dass sich bislang getrennte Felder unweigerlich aufeinander zu bewegen. Bereits im sogenannten Dienstleistungsbereich zeigen sich inzwischen deutliche Überschneidungen der Arbeitsgebiete: Die digitale Aktivität der Bibliotheken und Archive entwickelt sich über den bibliographischen und archivalischen Nachweis, und selbst über die Texterschließung hinaus, dahingehend weiter, dass diese Einrichtungen ihre Gegenstände als materielle Objekte virtuell zugänglich machen (Volldigitalisierung mit Bild und Text, Codicologische Erfassung) und in diesem Zuge auch ihre Karten-, Graphik- und sonstigen Sonderbestände neu entdecken. Museen und Denkmalämter vernetzen im Gegenzug die Katalogisierung ihrer Objekte mit der wissenschaftlichen Literatur und schriftlichem Quellenmaterial.
Über die soeben nur kurz erwähnte Erschließung der Volltexte muss man in diesem Zusammenhang nicht diskutieren. Ihre grundlegende Bedeutung – natürlich in jeweiliger Abhängigkeit vom Textinhalt – für die gesamten historischen Geisteswissenschaften ist evident. Mehr zu entdecken sind hingegen noch die die Überschneidungen zwischen digitaler Geschichte und Kunstgeschichte im Bereich der materiellen Überlieferung. Eine gute Dokumentation materieller Objekte macht diese für jegliche Nachnutzung verfügbar: Für die Geschichte, Archäologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Wissenschaftsgeschichte, Bildungsgeschichte, Kulturwissenschaft, Theologie, ggf. auch Literaturwissenschaft, Politologie, Philosophie und andere Fächer. Eine besondere Nähe von Geschichte und Kunstgeschichte ist dabei häufig gegeben: Architekturgeschichte überschneidet sich hinsichtlich Ihres Gegenstands mit historischen Fächern wie Dynastiegeschichte, Stadtgeschichte oder Militärgeschichte. Für die Arbeit in diesen Disziplinen liegen die gleichen Materialien zugrunde: Vertrags-, Verwaltungs- und Rechnungsdokumente zu den Bauwerken sowie die Bauwerke selbst: Residenz- und Verwaltungsbauten, kommunale Bauten oder Festungsbauten. Die Untersuchung von Raumfunktionen lässt sich kaum mehr eindeutig einer der beiden Disziplinen zuordnen. Eine sozialhistorisch orientierte Kunstgeschichte interessiert sich gegebenenfalls für die gleichen Personendaten wie entsprechende historische Forschung. Hier verwenden beide Disziplinen neben den üblichen Dokumenten (Geburts-, Tauf-, Sterberegister, Verwaltungsdokumente), die auch durch weitere, teils auch archäologisch oder denkmalpflegerisch erfasste, materielle Infrastrukturen ergänzt werden.
Dank der inzwischen starken Verbreitung von Normdaten bei Personen (GND, VIAF, ISNI) sind bereits sehr gute Voraussetzung zur projekt-, institutionen- und disziplinübergreifenden Verwendung von Personendaten vorhanden, auch wenn es hier bei einheitlichen und tragfähigen Beschreibungsformaten ebenfalls noch einiges zu entwickeln gäbe (um bspw. komplexe prosopografische Fragestellungen systematisch abbilden zu können). Auf dem Gebiet der einheitlichen Dokumentation von Orten/Territorien, Bauwerken und Artefakten aller Art sind (auch wenn das Normdatenwesen hier ebenfalls schon tätig zu werden beginnt) hingegen noch erhebliche Anstrengungen notwendig.
Die Erfassung und Dokumentation von Objekten ist durchaus anspruchsvoll. Wie schon angedeutet, liegt bei historisch konnotierten Katalogisierungsaufgaben eine besondere Herausforderung in der Abbildung des Kontextes von Personen und Objekten (“wer hat wann wie mit dem Objekt interagiert” etc.), vor allem dann, wenn diese in einer formalisierten (und damit maschinell verarbeitbaren und universell nachnutzbaren) Weise erfolgen soll. Diesbezügliche Lösungen im Kontext der Digital Humanities zu entwickeln ist vermutlich eine gemeinsame Aufgabe aller historischen Kulturwissenschaften. Das Cidoc CRM (Conceptual Reference Model [http://cidoc-crm.org/]) bietet hierzu einen Ansatz, der in der Archäologie, Kunstgeschichte und überhaupt Bereichen, die mit materieller Kultur befasst sind, zwar stark diskutiert wird, der aber eben vorwiegend konzeptuell ist und dessen praktischer Einsatz sich bislang weitgehend auf eine Referenzfunktion als Austauschformat beschränkt. Meiner Meinung nach wird das Konzept erst dann seine ganze Mächtigkeit entfalten, wenn es auch Umgebungen gibt, mit denen dieses direkt abgebildet werden kann. Ein bisschen Technik muss wohl sein. Dass diese leichter verfügbar wird, zeichnet sich mit dem aktuellen Vormarsch der sogenannten Graph-Datenbanken ab, die von vorneherein in Beziehungen und Netzen denken. Semantic Web und linked Data sind hierzu synonym. Damit soll freilich nicht der Formalisierung aller historischen Darstellung das Wort geredet werden. Die zusammenhängende und deutende Darstellung historischer Sachverhalte und Entwicklungen wird wohl immer in Form von natursprachlichem Fließtext erfolgen (ob dieser digital oder – auch – auf Papier publiziert wird, ist dann vielleicht gar nicht so erbittert zu diskutieren, wie dies momentan manchmal geschieht). An diesem spannenden Punkt der Entwicklung sollten sich die geisteswissenschaftlichen Fächer allerdings besonders genau fragen, ob Sie gemeinsame Standards und Technologien entwickeln können, damit Materialien schließlich so erschlossen werden, dass sie aus möglichst vielen Perspektiven nutzbar sind. Dass sich damit auch neue Publikationsformen entwickeln (die manche – vielleicht in Textform überflüssige – Publikation eines einzelnen Quellenfundes ersetzt), sei hier nur erwähnt.
Momentan sehe ich vor allem folgende Gegenstandsbereiche mit Überschneidungen zwischen Geschichte und Kunstgeschichte anhand derer sich entsprechende Überlegungen anstellen ließen (die Bereiche sind nicht systematisch von einander abgegrenzt und die als Beispiele angeführten Projekte sind weitgehend beliebig und zu ergänzen):
• Quellenschriften (betreffend alle dezidiert historisch arbeitenden Gebiete der Kunstgeschichte und auf materielle und bildliche Kultur bezogene Gebiete der Geschichte; bspw. Hof- und Gesandtenberichte, Quellen zum Bauwesen etc.)
• Prosopographie (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Kunst; Beispielprojekt: Requiem – die Grabmäler der Kardinäle und Päpste [http://requiem-projekt.de])
• Materielle Kultur ohne speziellen Bildanteil (Gegenstände als Quelle in der Religions- und Alltagsgeschichte bzw. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; bspw. Realienkunde; vgl. Institut für Realienkunde, Krems [http://tethys.imareal.oeaw.ac.at/realonline/])
• Materielle Zeugnisse mit historisch spezifischem Bild- und Schriftanteil (Epigraphik, Numismatik, vgl. Epigraphische Datenbank Heidelberg [http://edh-www.adw.uni-heidelberg.de/home/])
• Bildüberlieferung mit historischem Inhalt (speziell politische Ikonographie; vgl. Warburg Electronic Library, Politische Ikonographie [http://www.warburg-haus.de/texte/forsch.html])
• Historische Topographie (Erschließung historischer Territorien als Grundlage für raumbezogene Forschung; vgl. HGIS Mainz [http://www.hgis-germany.de/])
• Rahmenkonzepte und -systeme zur raum- und zeitbezogenen Beschreibung kulturhistorischer Objekte und Sachverhalte (GIS-Standards, 3D- und 4D-Konzepte, Cidoc CRM etc.; Umsetzungen dieser Art überwiegend als inhaltlich stark fokussiertes Projekt, oft mit kommerziellem Aspekt, bspw. Rome reborn [http://romereborn.frischerconsulting.com/]; Konzept einer Plattform nur ansatzweise, bspw. ZUCCARO an der Bibliotheca Hertziana MPI, wo neben der Dokumentation von Kunstwerken auch umfangreiche Personendaten und topographische Informationen zur Stadt Rom erfasst werden [http://fm.biblhertz.it/html/zucc_start.htm]). Zur Diskussion von Raumkonzepten möchte ich gerne auch zum nächsten Termin der “Berliner Gespräche zur digitalen Kunstgeschichte”: Kultur in Raum und Zeit am 18.11.2013 einladen [http://www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/2013/07/bgdk3])
Wo wären Kontakt und Zusammenarbeit denkbar?
1. Formeller und informeller Austausch zwischen der AG Digitale Geschichtswissenschaft mit entsprechenden Ansprechpartnern in der Kunstgeschichte. In der Kunstgeschichte wurde ein Arbeitskreis Digitale Kunstgeschichte von Stephan Hoppe (LMU München) und mir u.a. mit dem Ziel angestoßen, dem Thema der digitalen Methoden innerhalb der Disziplin Kunstgeschichte sowie der Disziplin Kunstgeschichte eine Stimme innerhalb der Digital Humanities zu verschaffen (Gründungsversammlung im Februar 2012 in München in der Carl-Friedrich v. Siemens-Stiftung in München). Eine wichtige anfängliche Aufgabe des Arbeitskreises ist die Definition der Arbeitsfelder innerhalb der “digitalen Kunstgeschichte” (von Informationsversorgung, über Bildtechnologien, Publikations- und Kommunikationsformen bis zur Interaktion der digitalen Welt mit der materiellen Welt der Artefakte). Konkret wird angestrebt, Methoden und Praktiken zu eruieren und zu reflektieren, der oft nur im Rahmen von einzelnen Forschungsprojekten betriebenen Infrastrukturbildung eine eigene Plattform zu geben sowie Konzepte für die Lehre zu entwickeln und vorzuschlagen. Der Arbeitskreis Digitale Kunstgeschichte versammelt sich wieder am 24.10.2013 in Köln im Anschluss an die Tagung “Kulturelles Erbe digital” [http://www.digitale-kunstgeschichte.de/wiki/Arbeitstreffen_AK_Digitale_Kunstgeschichte_Oktober_2013_in_K%C3%B6ln]. Wir laden herzlich auch kunsthistorisch interessierte Historiker und insbesondere auch Vertreter der Arbeitsgruppe zur Teilnahme ein. Die Mitgliedschaft im Arbeitskreis ist bis auf weiteres noch nicht formalisiert, so dass eine informelle Interessensbekundung und ein Eintrag in die Liste auf unserem Wiki genügt [http://www.digitale-kunstgeschichte.de/wiki/Hauptseite].
2. Naheliegend ist sicherlich die Zusammenarbeit bei Studiengängen zu den Digital Humanities, die an den meisten Universitäten nicht von einem Fach alleine bespielt werden können. In vielen Fällen werden die oft an sprachwissenschaftliche Fakultäten angegliederten Fächer Computerlinguistik oder Editionswissenschaft eine Basis solcher Studiengänge bilden, aber man könnte auch über andere, eher bild – und materialbezogene Schwerpunktsetzungen nachdenken.
3. Als mittelfristiges Ziel wäre es vorstellbar, darüber hinaus die gegenseitige Beteiligung (evtl. mit weiteren Fächern) an einem eHumanties-Center zu einem der gemeinsam interessierenden Gegenstandsbereiche (bspw. Dokumentationsformen und -standards bei Artefakten) ins Auge zu fassen. Der Zirkel Digital Humanities Berlin, der derzeit von der Einstein-Stiftung gefördert wird, setzt sich aus Vertretern verschiedener Fächer zusammen und möchte die Konzeption eines Zentrums mit dem Profil der Verbindung von materieller und textbasierter Kultur für den Berliner Raum erarbeiten. Die nächste Veranstaltung des Zirkels unter dem Titel “Das materielle Objekt in der Digitalen Welt” am 11.10.2013 trägt diesen Schwerpunkt im Titel. Berliner HistorikerInnen sind auch hier natürlich herzlich eingeladen [http://www.digital-humanities-berlin.de/archive/166].
Packen wir es an!
Quelle: http://digigw.hypotheses.org/194