Matthias Bischel: Die Netzwerke des Gustav von Kahr. Workshop Weimar / Personengeschichte

Abstract zum Dissertationsvorhaben.

Der hohe Verwaltungsbeamte Gustav Ritter von Kahr (1862-1934), in erster Linie bekannt als kurzzeitiger Bayerischer Ministerpräsident (1920/21) sowie als Generalstaatskommissar (1923/24) mit ungeklärter Rolle beim Münchener Hitlerputsch, ist bis heute ein in Publizistik und Wissenschaft häufig thematisierter und diskutierter Akteur. Insbesondere die mit der Entwicklung der zum Teil radikal antidemokratischen Bewegungen im Umfeld der sogenannten `Ordnungszelle Bayern´ befasste Literatur bemüht sich seit Jahrzehnten, die Rolle des rechtskonservativen und zudem klischeebehafteten Politikers in diesem Kontext zu beschreiben und einzuordnen.
Umso seltener und zumindest auf den ersten Blick durchaus überraschend tritt uns hingegen die Person des Gustav von Kahr als Protagonist, das heißt als eigenständiges, um seiner selbst willen behandeltes Objekt der Forschung entgegen; über den Rahmen einiger knapper Aufsätze und themenspezifischer Beiträge hinaus liegt bislang keine umfassendere Arbeit zur “bayerischen Napoleonsgröße von 1923″ (Wilhelm Hoegner) vor.

Auch das hier vorgestellte Dissertationsvorhaben ist nicht als erschöpfende Lebens-beschreibung im klassischen Sinne angelegt. Wird diese Aufgabe eher durch Kahr selbst in der demnächst abgeschlossenen kommentierten Erstpublikation seiner umfangreichen Memoiren erfüllt, will die geplante Studie die darüber hinausgehende Gelegenheit ergreifen, einen privilegierten Einblick in die Lebenswelt der um den zeitweiligen Ministerpräsidenten und Generalstaatskommissar feststellbaren Personengruppen zu gewinnen. Die unter anderem auf den Ergebnissen der Edition aufbauenden Erkenntnisinteressen lassen sich wie folgt definieren:
Einerseits soll die Rekonstruktion des Kontaktumfeldes einer der maßgebenden Figuren des national-konservativen Bayern dazu dienen, den potenziellen Aktionsradius des sich selbst als politische Funktionselite begreifenden Staatsbeamtentums auszuloten, um damit den weiterhin bestehenden Einfluss dieses nicht demokratisch legitimierten Kollektivs kurz vor und vor allem kurz nach der verfassungsrechtlichen Parlamentarisierung zu taxieren.
Andererseits ist parallel dazu in Umkehrung dieser stärker personenzentrierten Perspektive beabsichtigt, in Emanzipation von einer rein strukturalistischen Betrachtungsweise die Gestalt und Funktionsweise verschiedener, meist auf München konzentrierter Netzwerke nachzuvollziehen. So wird der Versuch unternommen, ausgehend von der realen Einbindung eines herausragenden Vertreters seiner Gesellschaftschicht die bestehenden Kenntnisse über Querverbindungen und aktives Kontaktmanagement innerhalb sowie zwischen den untersuchten Kreisen zu bündeln und zu vertiefen.
Die analytische Betonung einer solchen kontextorientierten Akteursperspektive wird die Dynamisierung jenes sich wechselseitig ergänzenden Ansatzes ermöglichen: Erleichtert sie bereits die Beobachtung der zeitlichen und räumlichen Entwicklung der Beziehungsgeflechte, erhöht sie insbesondere die Sensibilität für deren gezielten Einsatz als politisches Instrument und soziale Ressource, das heißt für deren tatsächliche Relevanz.
Kompakt formuliert versucht die Studie also über die Beschreibung von netzwerkbasierten Rekrutierungs-, Mobilisierungs- und Umsetzungsprozessen eine Annäherung an den Politikstil der Zeit in Ergänzung zu den inzwischen gängigen diskursanalytischen oder symbolorientierten Methoden zu leisten.

Die für das Thema einschlägige Überlieferungssituation begünstigt im Grundsatz die angedeutete Herangehensweise: Denn legte Kahr beim Verfassen der schon erwähnten Lebenserinnerungen ohnehin viel Gewicht auf die Darstellung der freilich nicht durchgehend vollständig und adäquat beschriebenen Kontakte, erlauben neben seinem eigenen über 30 zum Teil sehr aussagekräftige Nachlässe wichtiger Bezugspersonen aus Verwaltung, akademischen Umfeld, Heimatschutzbewegung, Künstlerkreisen, Landwirtschaft und nationalen Verbänden die kritische Bewertung dieser Verbindungen. Zusätzlich bereichert wird der zentrale Überlieferungskorpus durch Bestände der mit den aufgeführten Tätigkeitsfeldern befassten Institutionen sowie durch im Karriereverlauf Kahrs entstandene Verwaltungs-, Personal- und Handakten bei verschiedenen Behörden; des weiteren nicht zu vergessen sind gedruckte Quellen wie Zeitungsartikel, veröffentlichte Reden oder zeitgenössische Publizistik.

Bietet somit die Zentrierung auf einen bekannten Angehörigen der genannten Netzwerke eine aussichtsreiche Strukturierungsmöglichkeit der vorhandenen Überlieferung, muss die vor diesem Hintergrund entworfene Vorgehensweise ebenso die durch die Quellenlage gesteckten Grenzen der Erkenntnis berücksichtigen: Denn lässt das vorhandene Material zwar Verbindungslinien zu allen relevanten Kreisen erkennen, machen zugleich dessen unterschiedliche Dichte und in einigen Fällen sogar recht ausgeprägte Lücken die Durchführung einer statistisch-systematischen Netzwerkanalyse letztlich unmöglich.
Der stattdessen bei der konzeptionellen Umsetzung gewählte Blick auf das jeweilige Zusammenwirken der identifizierten Beziehungskreise bei ausgewählten Gelegenheiten – etwa beim Besuch Hindenburgs 1922, bei der `Rettung´ historischer Gebäude oder bei der personellen Besetzung des Generalstaatskommissariats – verlegt sich daher auf die Beobachtung der Netzwerke in Aktion. Neben der teilweisen Kompensation der aufgrund der Überlieferungsdefizite vorhandenen Erkenntnisbeschränkungen liegt der zusätzliche Vorteil einer derartigen Herangehensweise auf der Hand: Der Gefahr einer monokausalen Erklärungstendenz von vorneherein begegnend wird es auf diese Weise möglich sein, zu unterschiedlichen Zeitpunkten die vorgestellten Sozialgefüge in den Blick zu nehmen, um angesichts von Situationen praktischer Bewährung zu einer realistischen Einschätzung ihres Entwicklungsstandes, ihrer Funktionen und ihrer jeweiligen Beanspruchung zu gelangen.
Damit wird ein wesentlicher Beitrag der vorbereiteten Studie darin bestehen, über das feststellbare Ausmaß der erfolgreichen Aktivierung sozialen Kapitals die tatsächliche Bedeutung jener meist sorgfältig gepflegten Beziehungssysteme zu bestimmen und damit zugleich die nicht zuletzt auf diesem Fundament ruhende Machtposition Gustav von Kahrs näher einzuordnen.

Da es freilich zu weit führen würde, im Rahmen des Workshops das inhaltliche oder konzeptionelle Fundament des Vorhabens im Detail vorzustellen, soll die skizzierte Vorgehensweise mit Blick auf die autobiographische Selbsteinschätzung Kahrs veranschaulicht und konkretisiert werden: Mit der Rekonstruktion des in den Erinnerungen beschriebenen Kontaktumfeldes stellt der Vortrag die zentrale Arbeitsgrundlage der Studie vor und versucht die Zuhörerschaft mit den Potenzialen und Herausforderungen des Projektes vertraut zu machen.

 

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Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1486

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Edition der Faulhaber-Tagebücher beginnt

Michael (von) Faulhaber (1869-1952) war eine der Schlüsselfiguren des bayerischen und deutschen Katholizismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst Theologieprofessor wurde er 1910 Bischof von Speyer und 1917 Erzbischof von München und Freising, letzteres bis zu seinem Tod. Seit 1921 war er Kardinal. Sein Wirken fällt damit in die Zeit von Monarchie, Erstem Weltkrieg, Revolution und Räterepublik, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und den ersten Nachkriegsjahren bis in die frühe Bundesrepublik Deutschland. Faulhaber polarisierte schon Zeitgenossen und bis heute ist er Ziel heftiger, oft auch unsachlicher Kritik.

Daher dürfte die heute, am 15. Oktober 2013, angekündigte Edition seiner Tagebücher von großem wissenschaftlichen Wert sein und zahlreiche neue Erkenntnisse zu Faulhabers Biographie und zur bayerischen (Kirchen-)geschichte erwarten lassen. Faulhaber führte seit 1911 Tagebücher (Besucherbücher), ergänzt durch Gesprächsnotizen.

Diese Unterlagen standen der Forschung bisher nur eingeschränkt zur Verfügung, da sie Faulhabers letzter Privatsekretär, Johannes Waxenberger, nach dem Tod des Erzbischofs an sich genommen hatte. Erst 2010 gelangten die Tagebücher und weitere Unterlagen an das Erzbischöfliche Archiv in München. Doch noch ein zweiter Grund behinderte bisher die Auswertung der Tagebücher – sie sind fast durchgängig in Gabelsberger-Kurzschrift geschrieben. Gabelsbergers Kurzschrift war zwar um 1900 eines der am weitesten verbreiteten Kurzschriftsysteme; mit der Einführung der deutschen Einheitskurzschrift 1924 verlor sie jedoch an Bedeutung und ist heute kaum mehr bekannt.

Die Edition der Tagebücher erfolgt in Zusammenarbeit des Instituts für Zeitgeschichte in München und des Lehrstuhls Kirchengeschichte, Prof. Hubert Wolf, Münster, als DFG-Projekt, das auf auf zwölf Jahre angelegt ist. Erfreulich ist die Ankündigung, dass die Edition auch online erfolgen soll.

Links:

- Pressemitteilung des Erzbistums München und Freising vom 15. Oktober 2013

- Statement von Archivleiter Dr. Peter Pfister mit Hintergrundinformationen zur Überlieferungsgeschichte und zur Quelle

- Gemeinsame Pressemitteilung des Instituts für Zeitgeschichte und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Münster

 

 

 

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/413

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