39. Besuch auf dem Friedhof oder Ein Kreuzungspunkt der Zeiten

Friedhof

Blätterleichen

Der November ist eigentlich ein angemessener Monat, um sich einmal den letzten Dingen zuzuwenden. Als Todesmonat mit Allerheiligen und Totensonntag und Volkstrauertag und Halloween und herabfallenden Blätterleichen, die milliardenfach den Boden bedecken und nur noch deprimierende Baumskelette stehen lassen, zwingt er gerade in seiner neblig-grauen, die Sicht bis auf wenige Meter einschränkenden Erscheinungsform dazu, die Nähe des Todes ernst zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich ein Besuch auf dem Friedhof – selbst wenn man meint, dort gar nichts verloren zu haben?

Sicherlich gibt es das eine oder andere Argument, das sich anführen ließe, um von einem solchen Gang eher abzusehen. Möglicherwiese liegen dort gar keine Verwandten oder Bekannten, die man besuchen könnte. Oder sie liegen zwar auf einem Friedhof, aber in größerer Entfernung, so dass die Ruhestätte, die in halbwegs erreichbarer Nähe ist, keinen Besuchsanlass bietet. Was aber will man auf einem Friedhof, auf dem sich weder Anverwandte noch Berühmtheiten befinden, wenn nicht einem allgemeinen Gefühl der Morbidität frönen? Und ist es nicht überhaupt seltsam, von einem ‚Besuch‘ zu sprechen, wenn es um den Gang auf den Friedhof geht? ‚Besuchen‘ wir nicht möglicherweise uns selbst und unsere eigene Sterblichkeit, die mit jeder Feststellung der Lebensdaten auf einem Grabstein von neuem an unser Hinterstübchen klopft?

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30. Neohistofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land

Wozu?Every story

Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen. Aber aktuell erscheint es noch ein weniger zeitiger. Nicht weil wir es mit einer grundsätzlichen Krise des Geschichtsverständnisses zu tun hätten – sondern ganz im Gegenteil, weil wir es mit ‚Geschichte‘ als einem viel zu großen Selbstverständnis zu tun haben. Können sich die Älteren noch an Diskussionen erinnern, die bis in die 1980er Jahre hinein immer mal wieder aufgeflammt sind und in denen regelmäßig die Frage aufgeworfen wurde: „Wozu Geschichte?“ Der Blick in die Vergangenheit galt tendenziell als konservativ, nostalgisch, weltabgewandt und sogar reaktionär, weil zum Beispiel die Sozialwissenschaften viel besser in der Lage zu sein schienen, mal so richtig die Welt zu erklären. Seit den 1990ern (grob geschätzt) muss man die Frage hingegen anders stellen: „Wozu so viel Geschichte?“ Denn Geschichte ist überall, im Fernsehen, in populären Magazinen, im Internet, im Tourismusyou name it.

Auch wenn mich der Umstand dieses nicht nur anhaltenden, sondern – soweit sich das quantifizieren lässt – sogar steigenden Interesses an der Beschäftigung mit der Vergangenheit aus rein professionellen Gründen erfreuen müsste, geht er doch mit diversen Problemen einher. Man kann diese Schwierigkeiten unter dem Stichwort einer Verflachung der Geschichte verhandeln oder mittels näherer Betrachtung gängiger historischer Floskeln genauer unter die Lupe nehmen (geschehen hier, hier, hier und hier). Das sind aber nur kleine Schnitte in das Gewebe der herrschenden Geschichtskultur, die durch zahlreiche weitere Operationsfelder vervielfältigt werden müssten.

Wohin aber soll das führen? In das kulturpessimistische Gejammer selbsternannter Spezialisten im Feld der historischen Forschung, dass sich so viele Amateure in ihren Gefilden herumtreiben? In die Klage über den Verfall historischer Normen und Werte, weil alles und jeder meint, sich mehr oder minder kompetent zur Vergangenheit äußern zu müssen? Wohl kaum. Denn wer wäre ich, irgendjemandem vorschreiben zu wollen, ob er/sie sich auf die eine oder andere Art und Weise mit Geschichte beschäftigen darf? Nein, es soll und kann nur um den Versuch gehen, die etablierten Formen historischen Verständnisses zu befragen – und ihnen mögliche Alternativen entgegenzusetzen.

Geschichte als Außen

Nun ließe sich zum Beispiel die Beschäftigung mit historischen Floskeln recht schnell und unproblematisch als wenig erhellend beiseiteschieben. Das Alltagswissen und die Alltagsüberzeugungen von Vergangenheit und Geschichte erscheinen für ein weitergehendes historisches Verständnis als irrelevant. Aber was heißt schon „weitergehendes historisches Verständnis“? Unterscheidet sich das Bild von „der Geschichte“, das sich in Floskeln niederschlägt, denn tatsächlich so grundsätzlich von demjenigen, das beispielsweise in den historischen Wissenschaften zirkuliert? Zumindest wird man kaum behaupten können, dass diese Floskeln keinerlei Bedeutung für herrschende Geschichtsbilder hätten. Hier werden tatsächlich sozial wirksame Vorstellungen davon konstituiert, was „Geschichte“ und „Vergangenheit“ sein könnten.

Wenn man historische Floskeln in diesem Sinn ernst nimmt und wenn man sich deren wesentliche Aussage vor Augen führt – wenn man also von der Vergangenheit eingeholt wird oder sie ruhen lassen will, wenn man Geschichte macht oder in die Geschichte eingeht, wenn man den Lauf oder die (Nicht-)Wiederholbarkeit von Geschichte beobachtet – dann zeigt sich in der Quersumme ein ganz wesentliches Charakteristikum derjenigen „Geschichte“, von der hier die Rede ist. „Geschichte“ ist immer etwas Äußeres, Eigenständiges, eine andere Dimension, die man beobachten oder zu der man Zugang erlangen kann – vielleicht sogar etwas Transzendentes. Und das ist natürlich höchst problematisch. Denn damit wird ja so getan, als hätte die historische Beschäftigung einen Gegenstand, der „irgendwo dort draußen“ liegt, als könnte man Zugang erhalten zur Vergangenheit als einer zeitlich zurückliegenden Dimension. Problematisch ist das, weil die historische Beschäftigung es nicht mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern mit dem aus der Vergangenheit übriggebliebenem Material. Deswegen kann man sogar behaupten, dass „Geschichte“ nicht in der Zeit stattfindet, sondern im Raum, weil sie nicht auf die Vergangenheit als einer abwesenden Zeit rekurrieren kann, sondern nur auf das historische Material, wie es in bestimmten Räumen eingelagert ist, in Archiven, Bibliotheken, Museen, Bunkern, Kellern, Dachkammern … Und wenn das tatsächlich so ist, dann brauchen wir auch neue Floskeln, die dieses Verständnis von Geschichte zum Ausdruck bringen

Neue Floskeln braucht das Land

Ein Stück Geschichte in die Gegenwart hineinsetzen

Wenn wir uns schon nicht in die Vergangenheit hineinversetzen können, dann sollten wir doch wenigstens versuchen, das angemessen zu beschreiben, was wir ohnehin die ganze Zeit tun – nämlich Geschichte als ein Stück erzählter Vergangenheit in unsere Gegenwart integrieren. Ist vor allem deswegen vergnüglich und erfolgreich, weil man immer Neues in dem Alten entdeckt.

Vergangenheiten sehen uns an!

Dass sich ein bestimmtes Hier und Jetzt in den Mittelpunkt der Welt und ihrer Weltgeschichte setzt, ist für Gesellschaften, die sich selbst als „modern“ zu bezeichnen pflegen, ein verhältnismäßig normaler Vorgang (seit das Jenseits als ein späteres und ewiges Hier und Jetzt an Überzeugungskraft eingebüßt hat). Insofern ist es durchaus folgerichtig (und auch nicht gänzlich falsch), wenn dieses Hier und Jetzt von sich behauptet, in die Vergangenheit blicken zu wollen. Zugleich ist ein solcher Zugang recht vereinseitigend. Denn auch die Vergangenheiten haben durch ihre Weltsichten und ihre Formen der Überlieferung schon ganz erheblich dasjenige geprägt, was wir als Geschichte begreifen können. Sie sehen uns also mindestens ebenso sehr an wie wir sie.

Wir machen zukünftige Vergangenheit!

In der Tat, das tun wir, und zwar jeden Tag. Es könnte durchaus sein, dass diese zukünftige Vergangenheit von etwas längerer Haltbarkeit ist, möglicherweise sogar für Jahrzehnte und Jahrhunderte Bedeutung erlangt. Aber recht nüchtern muss man wohl feststellen, dass vieles von dem, was heute noch Geschichte machen will, morgen schon wieder vergessen ist. (Das ist der Effekt, wenn man in alten Zeitschriften oder Zeitungen blättert und einstmals bedeutsame Ereignisse aus der inzwischen eingetretenen historischen Amnesie wieder auftauchen.) Man kann also gut und gerne versuchen, Geschichte zu machen, ob das aber tatsächlich gelingt, liegt nicht allein in der Hand der Gegenwärtigen. Bis dahin bleiben wir recht gegenwärtig darum bemüht, heute schon festlegen zu wollen, was morgen am Gestern interessiert. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft dazu sagt.

Wo die Zeiten nicht wieder überall hinlaufen?!

Klingt – wie vieles andere hier – gewöhnungsbedürftig, sollte aber dabei helfen, sich vom eindimensionalen Zeitstrahl und seiner eindeutigen Richtung zu befreien. Denn „die Zeit“ gibt es nicht (höchstens als Wochenzeitung), und eine eindeutige Richtung hat sie auch nicht. Stattdessen sollte man sich öfter wundern, wo denn die vielen Zeiten nicht überall hinlaufen.

Lasst uns Geschichte wiederholen!

Wohlgemerkt: Geschichte, nicht Vergangenheit. Letztere steht als Vergangenes der Repetition nicht zur Verfügung, aber Ersteres wiederholen wir beständig. Wenn man Geschichte begreifen darf als Beschreibung einer Vergangenheit durch eine Gegenwart, und diese Beschreibung im Sinne einer Verknüpfung zwischen diesen unterschiedlichen Zeiten funktioniert, dann muss diese Relation beständig erneuert werden. Wahrscheinlich bedarf es in diesem Fall gar keiner eigenen Floskel, denn die Praxis der Geschichtsschreibung ist nichts anderes als die immer wieder notwendige Geschichtswiederholung.


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29. Histofloxikon, Vierte Lieferung

Eine Sammlung historischer Floskeln ließe sich – wie es einem Lexikon gebührt – entweder alphabetisch ordnen oder aber nach TunnelThemengruppen sortieren. Wählte man die letztere Variante, könnte man sich die Frage stellen, mit welchen Emotionen das Vergangene jeweils belegt wird. Ist es der Sehnsuchtsort des goldenen Zeitalters, die stolze Ahnengalerie vergangener Großtaten, das Schandmal auf der nicht mehr gar so weißen Weste der eigenen Identität oder gar das mit Angst und Schrecken besetzte Gestern? Es ist wohl nicht nur ein Spezifikum der deutschen Sprache, dass sich in diesem Zusammenhang einige sprachliche Formeln finden, die ein eher düsteres Bild von der Vergangenheit zeichnen.Drei Beispiele aus diesem Segment sollen im Folgenden Erwähnung finden. Weitere, weder alphabetisch noch sonstwie sortierte Einträge aus dem Lexikon historischer Floskeln finden sich hier, hier und hier.

Von der Vergangenheit eingeholt werden

Der Gemeinplatz, man könnte von der Vergangenheit eingeholt werden, ließe sich wahlweise auch ersetzen durch die Rede von den „Schatten der Vergangenheit“, die einen heimsuchen. Kriminalgeschichten leben nicht selten davon, dass irgendeine olle Kamelle aus dem Keller des Gewesenen hervorgeholt wird, um dem gegenwärtig so glücklich und erfolgreich Lebenden, aber in der Vergangenheit irgendwie bösartig Gewesenen mal zu zeigen, was eine historische Harke ist. Dahinter steckt wohl die Hoffnung, dass es doch so etwas wie historische Gerechtigkeit geben könnte.

Aber keine Sorge, weder gibt es historische Gerechtigkeit noch werden wir von der Vergangenheit eingeholt. Ob man will oder nicht, all das findet gegenwärtig statt (was auch immer da stattfindet). Man muss nicht warten, bis die mehr oder weniger untoten Sünden eines früheren Lebens wieder aus den Gräbern steigen, um die noch Lebenden vor Gericht zu ziehen. Man muss höchstens warten, bis eine Gegenwart bereit ist, sich auf andere Art und Weise mit einer Vergangenheit zu beschäftigen oder überhaupt erst eine Vergangenheit zu entdecken, von der sie bis dato noch gar nicht wusste (oder nicht wissen wollte), dass es sie gibt. Die Vergangenheit holt uns dabei nicht ein, denn die Vergangenheit selbst tut überhaupt nichts. Wir Gegenwärtigen holen uns höchstens eine andere Vergangenheit heran – und das kann für manche Beteiligte allemal unangenehm werden.

Die Vergangenheit begraben

Von der Vergangenheit begraben zu werden, wäre dann wohl eher das Gegenteil zur Vergangenheit, die einen einholt: Ein Gestern, das einfach nicht vergehen will und das man endlich loszuwerden wünscht. Sollte ja, nach dem oben Gesagten, besser funktionieren. Denn wenn man sich eine Vergangenheit heranholen kann, dann ließe sie sich möglicherweise auch wieder abstoßen – oder eben gleich begraben. Aber gar so einfach ist es nicht, weder mit dem Abstoßen noch mit dem Begraben. Hier offenbart sich vielmehr der reziproke Charakter temporaler Relationen, oder zu deutsch: Die Zeitmuster, in denen wir leben, werden nicht ausschließlich und willkürlich von der Gegenwart bestimmt, sondern sind ebenso durch Prägungen und Voraussetzungen besetzt, die schon in der Vergangenheit getroffen wurden. Das Spiel zwischen den Zeiten findet statt von allen Seiten. Das wird besonders auffällig beim Verlust von Vergangenheiten. Überlieferungen, die zerstört, nicht weitergetragen, vergessen oder – weit häufiger – erst gar nicht zeitresistent festgehalten wurden, können entweder ihren Status als Vergangenheit verlieren oder für eine Gegenwart nie zur Vergangenheit geworden sein. Sie existieren für eine Gegenwart schlicht nicht, können daher auch nicht begraben werden und schon gar nicht irgendetwas oder irgendjemand einholen.

Aber dasjenige Wenige, das es in den Überlieferungsstrom geschafft hat, also die Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs, aus der wir dann unsere ‚Geschichte‘ zu fabrizieren pflegen, lässt sich kaum zu Grabe tragen. Sie mag in einen Dämmerzustand verfallen, phasenweise unbedeutend werden, unbeachtet bleiben oder andere Formen des Aufmerksamkeitsdefizits erleiden. Aber verschwinden wird sie nicht. Von sich aus können ad acta gelegte Vergangenheiten zwar nicht aktiv werden, aber man hüte sich vor den Bestrebungen einer Gegenwart, neue Zeitbeziehungen zu etablieren – denn man weiß nie, was sie in den Kellern finden und sich eigensinnig aneignen wird.

Ende der Geschichte

Es ist wahr, Geschichten können enden. Aber die Geschichte kann es nicht. Verwendet man beide Substantive in der Singularform – das Ende der Geschichte –, dann haben wir es tatsächlich mit einer blanken Unsinnsaussage zu tun. Nicht nur scheint mir immer weniger klar zu sein, was die Gesamtheit derjenigen Vorgänge sein soll, die wir mit dem Wort ‚Geschichte‘ zu belegen pflegen, auch weiß ich nicht, wie man Veränderung stoppen will. Ein Nicht-Wandel ist – nach allem was wir über den Menschen und die ihn umgebende Welt wissen – nicht möglich. Wenn man daher vom ‚Ende der Geschichte‘ spricht, ist das eher Ausweis der Arroganz oder der Fantasielosigkeit der Jetztlebenden, die sich nicht vorstellen wollen/können, dass nach ihnen tatsächlich noch etwas grundsätzlich anderes kommen mag. Dabei dürfte das Gegenteil nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu belegen sein: Wieso sollte ausgerechnet der aktuelle Zustand festgefroren werden und durch nichts mehr ersetzt werden? Transformationen zu blockieren erfordert einen deutlich höheren Energieaufwand als sie auszuführen.

Zugleich kann man immer wieder feststellen, dass bestimmte Phänomene verschwinden, Entwicklungen aufhören, Traditionen abbrechen und aus ‚der Geschichte‘ verschwinden. Wenn das aber geschieht, dann handelt es sich in nicht wenigen Fällen darum, dass ein historischer Vorgang seinen Aggregatzustand verändert, also nicht vollständig verschwindet, sondern so gravierend transformiert wird, dass die Geschichte anders erzählt werden muss. Wenn also Geschichten enden – oder wir sogar ‚die Geschichte‘ enden lassen wollen –, dann weniger, weil irgendeine übergeordnete transzendente Einrichtung den entsprechenden Faden durchschneidet, sondern weil wir die Erzählung dieser Geschichte enden lassen.


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27. Kontemporalismus oder Mit den Zeiten leben

Ein ManifestUhren

Es scheint die Zeit der Manifeste zu sein. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert, als Marinetti 1909 das Manifest des Futurismus veröffentlichte oder André Breton ab 1924 gleich mit mehreren Manifesten den Surrealismus zu installieren versuchte [1], bemüht sich auch das frühe 21. Jahrhundert darum, Orientierung in manifester Form zu gewinnen. Was müssen das für Zeiten sein, in denen solche Texte gedeihen? Phasen, die bestimmt sind durch die Verunsicherung einst unhinterfragter Parameter, durch den Verlust richtungsweisender Wegmarken, durch die Suche nach Alternativen zum Bestehenden. Es müssen vielleicht gar nicht politisch oder wirtschaftlich krisenhafte Zeiten sein, eher scheinen die systemischen Zusammenhänge, in denen man existiert, gerade deswegen so irritierend und verunsichernd, weil sich keine echte Alternative aufdrängt – und weil man zugleich weiß (oder zumindest ahnt), dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Vielleicht ist das aber auch völliger Unsinn. Womöglich ist jede Zeit eine gute Zeit für Manifeste. Wobei es natürlich eine Sache ist, ein Manifest aufzusetzen, und eine ganz andere, damit auch Gehör zu finden. In der allerjüngsten Vergangenheit konnte man gleich über mehrere Vertreter dieser Textgattung stolpern, die in den Feuilletons zumindest kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgten. Wie weit ihre Halbwertzeit reicht, wird sich erst noch weisen müssen. So erschien vor ein paar Jahren erschien in Frankreich „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“, worin unter kommunistischen Vorzeichen – nun ja, der kommende Aufstand angekündigt wurde. [2] Ganz anders geartet ist das „Manifest des neuen Realismus“ von Maurizio Ferraris, als, offen gestanden, wenig überzeugender Versuch, den „Wert der Wirklichkeit“ gegen Postmoderne und Konstruktivismus zu retten, um sich damit nicht nur in befremdliche Selbstwidersprüche zu verheddern, sondern mit dieser Oppositionshaltung selbst schon wieder ‚postmodern‘ zu wirken. [3] Und kaum hat man einmal fünf Minuten nicht hingesehen, erscheint auch schon wieder ein neues Manifest: „The History Manifesto“ wurde veröffentlicht, während ich an diesem Beitrag schrieb.

Konvivialismus

Ein weiteres, ebenfalls sehr frisches Beispiel ist „Das konvivialistische Manifest“ (als PDF kostenfrei herunterzuladen). Auf eine vornehmlich französische Initiative zurückgehend, stellen in diesem Manifest etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teils sehr unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, Forderungen auf, die sich in zwei Richtungen hin zuspitzen lassen. Erstens geht es um die Überwindung der ökonomischen Religion, um ein Hintersichlassen des nackten Wachstumswillens, der seinen Endzweck nur noch in sich selbst hat, und um die Ersetzung eines Eigennutzdenkens durch eine stärkere Gemeinnutzorientierung. Zweitens geht es um das Aufzeigen oder vielmehr Zusammenführen alternativer Modelle zur Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, die sich nicht mehr auf Wachstum und Eigennutz kaprizieren, sondern – wie der Name schon sagt – das Zusammenleben mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in den Mittelpunkt rücken.

Mit dem konvivialistischen Manifest liegt ein weiterer Beitrag vor, der versucht deutlich zu machen, dass und wie Alternativen zu herrschenden Formen des Wirtschaftens und Lebens aussehen könnten. Sympathisch daran ist nicht nur die undogmatische Herangehensweise, sondern auch der konkrete Bezug zu bereits bestehenden Projekten in diese Richtung sowie nicht zuletzt die Einsicht, dass die Grundlage eines solchen Konvivialismus ein Umdenken sein muss, das nichts weniger wäre als eine kulturelle Revolution. Diese Revolution kann allerdings nicht über Nacht vonstattengehen kann, sondern wird Zeit in Anspruch nehmen – sehr viel Zeit, einfach weil sie ein grundsätzliches Umstellen kollektiver Handlungsmaximen und Denkschemata erfordert (und um das zu erreichen, wird es wahrscheinlich noch vieler Manifeste und Denkanstöße bedürfen). Das mag vielleicht nicht alles ganz neu sein (was, wenn man den Konvivialismus ernst nimmt, auch gar nicht sein muss – denn ist nicht auch der beständige Ruf nach Neuem in den Wissenschaften ein Ausdruck des Wachstumsdenkens?), aber es ist konzise auf den Punkt gebracht.

Kontemporalismus

Die Feststellung dürfte nicht allzu gewagt sein, dass in diesen Prozess des Umdenkens auch der Faktor Zeit mit einbezogen werden muss. Das scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam zu sein. Erstens findet das Miteinanderleben nicht nur unter Anwesenden statt, nicht nur gemeinsam mit Lebewesen und Gegenständen, mit denen wir unsere Gegenwart teilen, sondern ebenso mit den zeitlich Abwesenden. Mit Blick auf die Zukunft ist das unmittelbar einsichtig, denn gerade aus Sorge um das Leben auf (und mit) diesem Planeten in den kommenden Jahrzehnten machen sich ja solche Überlegungen wie der Konvivialismus breit, wächst seit geraumer Zeit das Bewusstsein, dass – wie es immer mit einem sonntagspredigenden Unterton heißt – wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Aber es trifft eben auch mit Blick auf die Vergangenheit zu. Das äußert sich nicht nur in ganz praktischen Aspekten wie dem Recyceln, Reparieren, Bewahren und Weiterverwenden von Dingen, die nicht allein schon deswegen weggeworfen werden müssen, weil sie ein gewisses Alter haben. Sondern das sollte sich auch äußern in einer Art und Weise, die Komplexität von Vergangenheiten ernst zu nehmen, diese Vergangenheiten nicht zu schlichten und unvollkommenen Vorläuferstadien der eigenen Gegenwart zu reduzieren, um stattdessen all die Möglichkeiten zu entdecken, die in diesen Vergangenheiten stecken und die für uns heute noch von Bedeutung sein können.  Es geht also darum, die Geschichte immer auch auf Wirklichkeiten hin zu befragen, die noch nicht realisiert worden sind oder die einst realisiert wurden, aber zwischenzeitlich dem Vergessen anheimfielen (ohne deswegen ausgelöscht worden zu sein). Ein sehr offensichtliches Beispiel ist das Verhältnis von Gemeinnutz und Eigennutz, das bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein immer wieder intensiv debattiert wurde, bevor der Eigennutz als diskursiver Sieger hervorging und der Gemeinnutz als ‚vormodern‘ und ‚traditionalistisch‘ in die Asservatenkammer verbannt werden konnte. [4]

Wohlgemerkt: In dieser Weise auf die Kontemporalität als einem Miteinander der Zeiten hinzuweisen, soll nicht auf die Allerweltsweisheit hinauslaufen, es sei alles schon einmal dagewesen. Es gilt vielmehr deutlich zu machen, dass auch die nicht verfügbaren Zeiten der Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart zusammenfallen und zur Gestaltung des Hier und Jetzt von elementarer Bedeutung sind.

Diese gegenwärtige Anwesenheit abwesender Zeiten scheint mir in einer zweiten, eher theoretischen Hinsicht noch bedeutsamer zu sein, weil sie unmittelbar das nötige Umdenken und die angesprochene kulturelle Revolution betrifft. Denn wenn man ernsthaft das Wachstumsdenken überwinden will, dann muss man unweigerlich auch das damit verbundene Zeitmodell verabschieden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Schließlich ist es die immer noch herrschende Vorstellung vom Zeitstrahl, von einer homogenen und linearen Zeit, die üblicherweise als Grundlage dafür dient, innerhalb dieser Zeit eine entsprechende Entwicklung anzunehmen. Dieser Entwicklung wird zumindest implizit ein – wenn auch nebulöses – Ziel unterstellt, das wahlweise Dekadenz und Niedergang oder eben Fortschritt und Wachstum heißen kann. Erst wenn wir lernen, Zeit anders zu denken, nämlich als Pluralität unterschiedlicher Verzeitungen, die parallel zueinander existieren, sowie als Ergebnis von praktischen Differenzierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in einer Gegenwart getroffen werden, dann wird auch ein Abschied von der Wachstumsreligion möglich, der nicht mehr als Verlust erscheint, sondern als veränderte temporale Organisation. Denn wir leben nicht in der Zeit, wir leben mit den Zeiten.

 

[1] André Breton: Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986.

[2] Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010.

[3] Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626.


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23. Histofloxikon, Dritte Lieferung

Nach der ersten und der zweiten, hier nun die dritte Lieferung historischer Floskeln und Allgemeinplätze.

Ein Jahrhundertereignis!

jahrhundertereignisEs ist eigentlich zu offensichtlich, als dass man besonders viel Zeit dafür verschwenden müsste: Die beständige Ausrufung von Jahrhundertereignissen hat
schon seit geraumer Zeit solch inflationäre Ausmaße angenommen, dass sie sich selbst ad absurdum führt. So viele Jahrhunderte bleiben unserem Planeten gar nicht mehr, dass sie den entsprechenden einschneidenden Ereignissen noch zu entsprechen vermögen. Wenn es sich nicht um eine wirklich dröge Sisyphusarbeit handeln würde, könnte sich eine Auszählung all dieser proklamierten Jahrhundertereignisse einmal lohnen. Beinahe täglich findet irgendwo eines statt.

Eine Kultur geht recht verschwenderisch mit ihrer historischen Zeit um, wenn sie überall solche säkularen Geschehnisse ausmacht. Eine simple Google-Abfrage bringt unter anderem folgende Ergebnisse zutage: 50 Bewohner von Eichsfeld erlebten den Guss einer Glocke in Gescher als Jahrhundertereignis, der Bürgermeister von Waldstetten erklärte den Empfang der frisch gebackenen Skisprung-Olympiasiegerin Carina Vogt zum Jahrhundertereignis (der eigentlich nur noch durch einen Papst-Besuch zu toppen sei), in Schwäbisch Gmünd wurde die Einweihung des Einhorn-Tunnels und damit die Freigabe der teuersten Ortsumgehung Deutschlands als ein Jahrhundertereignis gefeiert und im März 2013 erwies sich das Einströmen grönländischer Polarluft nach Ostdeutschland mit entsprechenden Temperatur-Minusrekorden als meteorologisches Jahrhundertereignis. So weit, so bekannt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Dass solche Titulierungen nicht die Luxzahl wert sind, mit der sie einem vom Bildschirm entgegenflimmern, muss kaum erwähnt werden. Warum aber diese Sehnsucht, aus Hochwassern, Fußballspielen, Kirchenrenovierungen oder Landesgartenschauen immer gleich einen unumgänglichen Eintrag in die Geschichtsbücher zu machen? Abgesehen davon, dass es sich um einen unübersehbaren Mangel an sprachlicher Differenzierungsfähigkeit handelt (Weltberühmt in Radolfzell!), ist diese Suche nach historischen Superlativen, die sich kaum noch steigern lässt (es sei denn durch Ereignisse, die einem Jahrtausend oder gleich der ganzen Menschheit zur Denkwürdigkeit aufgegeben wären) ein typischer Ausfluss modernistischen und fortschrittsgeschichtlichen Denkens. Vielleicht zeigt sich nirgends deutlicher als gerade bei diesen vermeintlich nebensächlichen, nicht wirklich ernst zu nehmenden historischen Übertreibungen, wie sehr ein überhitztes Geschichtsdenken, das nur noch in olympischen Kategorien zu funktionieren vermag (höher! schneller! weiter!), inzwischen ins Leere läuft.

Geschichte wiederholt sich (nicht)

Kniffliger Fall eines historischen Gemeinplatzes, zumal er in zwei entgegengesetzten Varianten aufzutreten pflegt. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht – so möchte man voller Überzeugung ausrufen –, schließlich sehen wir uns einem linearen Zeitmodell verpflichtet, bei dem die Zeit aus dem Gestern kommt, um ohne Wenn und Aber in das Morgen fortzuschreiten. Mit einem solchen Verzicht auf die zyklische Wiederkehr des Gewesenen kann sich Geschichte nicht wiederholen. Und wenn selbst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht zu überzeugen vermag, so kann einen doch die Alltagserfahrung lehren, dass man das Gestern nicht zurückholen kann. Immer wieder ernüchterndes Beispiel: Klassentreffen.

Bevor wir die Wiederholung aber allzu schnell zu den Akten legen, lohnt sich unter Umständen ein genauerer Blick auf das Vokabular. Was war nochmal mit „Geschichte“ und was mit „Wiederholung“ gemeint? Dasjenige, was sich hier nicht wiederholen soll, scheint doch viel eher die Vergangenheit als ein Zeitraum zu sein, in dem wir all diejenigen Geschehnisse unterzubringen pflegen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (eben das wäre der zweite Hauptsatz der Thermodynamik auf das Leben von Menschen und Kulturen angewandt). Geschichte ist hingegen bekanntermaßen die Erzählung, die wir uns selbst von dieser Vergangenheit erzählen. Und diese Geschichte lässt sich nicht nur wiederholen, es ist uns sogar ein kulturhistorisch gewachsenes Bedürfnis, diese Erzählung zu repetieren und zu variieren, immer wieder neu aufzufrischen und vielleicht sogar neue Seiten an ihr zu entdecken.

Was uns unmittelbar zur „Wiederholung“ führt. Nicht nur, dass die Wiederholung als Kulturtechnik ganz ungerechtfertigter Weise ein Schattendasein führt, weil sie mit unserem neuheitsversessenen Fortschritts- und Wachstumsdenken so gar nicht in Einklang zu bringen scheint (siehe oben: Jahrhundertereignisse!), sie wird zudem auch noch missverstanden, wenn man damit die Wiederkehr des identisch Gleichen zu bezeichnen meint. Aber die Wiederholung ist keine Kopie. Sie ist tatsächlich eine Wieder-Holung, also der Versuch, etwas erneut hervorzukramen, mit dem man sich schon einmal beschäftigt hat. Die Zeit, die zwischen einer ersten und einer späteren Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand verstrichen ist, setzt aber bereits eine Differenz, die dafür sorgt, dass Wiederholung nicht mit Identität zu verwechseln ist. Schließlich haben sich beide Seiten in der Zwischenzeit gewandelt, der betrachtete Gegenstand sowie das betrachtende Subjekt. Und auch die erneute Beschäftigung wird eine Veränderung dieser Beziehung nach sich ziehen. Wiederholungen sind für die Konstitution unserer Kultur wesentlich bedeutsamer, als wir dies gemeinhin zuzugeben bereit sind.

Vielleicht wäre es daher Zeit für eine neue Floskel: Vergangenheit kann sich nicht wiederholen – Geschichte muss man wiederholen.

Die Vergangenheit ruhen lassen

Wenn die Vergangenheit schon der Container ist, in dem wir all die ehemaligen Aktualitäten unterbringen können, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (all die zerbrochenen Gläser, die sich nicht mehr zusammensetzen, die Jugendzeiten, die sich nicht noch einmal durchleben, die Ereignisse, die sich nicht mehr revidieren lassen), dann sollte sie doch auch der Ort sein, um all das loszuwerden, was uns bedrücken könnte. Vergessen wir also die Niederlagen, Peinlichkeiten, Beschämungen und Verletzungen, die wir ausgeteilt und empfangen haben, und verbrennen wir sie gemeinsam mit den Kalendern vom letzten Jahr.

Aber wenn das mit der Friedhofsruhe der Vergangenheit so einfach wäre, müsste man sie wohl kaum gesondert beschwören. Man darf eher den Verdacht haben, dass der Wunsch nach einer Vergangenheit, die abgeschlossen und vergessen sein möge, mit der Versicherung einhergeht, nicht erfüllt zu werden. Denn auch hier lehrt uns die Alltagserfahrung, dass man Gewesenes nicht einfach so abschütteln kann, dass die Geschichten uns nicht nur verfolgen, sondern zuweilen unwillentlich überfallen. Das Verlangen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, wird also nicht selten dadurch konterkariert, dass die Vergangenheit uns nicht in Ruhe lässt.

Daraus lässt sich vielleicht weniger lernen, dass die Vergangenheit ein eigenständiges Leben unabhängig von unserem Wollen und Wirken führt und gewissermaßen autonom entscheiden könnte, wie und wo und wann sie uns auf die Pelle rückt. Eher könnte sich damit die Einsicht verbinden, dass der Mensch ein polychrones Wesen ist, das zwar in einem Hier und Jetzt existiert, dabei aber immer in der Lage ist, Relationen der unterschiedlichsten Art zu bereits Gewesenem und noch Kommendem aufzubauen. Und es sind diese Relationen, die sich nicht bis ins letzte kontrollieren lassen. Deswegen kann uns mitunter eine Vergangenheit nicht in Ruhe lassen, die schon längst (oder eben gerade nicht) erledigt zu sein scheint. Und deswegen kann uns auch eine Zukunft Angst einjagen (oder Hoffnung machen oder andere Gefühle auslösen), die uns noch gar nicht zur Verfügung steht.


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22. Flache Geschichte

Das missbrauchte Früherautobahn

Es gilt von einem Missbrauch zu berichten: Ein Missbrauch, der schon oft beklagt und in zahlreichen Fällen verübt wurde, dessen Alltäglichkeit eigentlich bekannt sein müsste, der sich aber trotzdem beständig wiederholt. Es geht um den Missbrauch an der Vergangenheit für unlautere Zwecke der Gegenwart.

Der Umgang mit der Vergangenheit bietet an sich zahlreiche Möglichkeiten. Leider werden eher wenige davon genutzt. Man könnte die Vergangenheit intensiv und in allen Details untersuchen, man könnte versuchen, mit Hilfe des Gestern ein besseres Heute zu basteln, und manche könnten sogar versucht sein, aus der Vergangenheit etwas zu lernen. Gerade in öffentlichen Schnellschussdebatten, im alltäglichen Gebrauch sowie in standardisierten Geschichtsvermittlungsverfahren herrscht jedoch nicht selten ein anderer Umgang mit der Vergangenheit vor: Man will dort nur bestätigt finden, was man ohnehin schon weiß.

Man muss es sich ja nicht kompliziert machen, wenn man es auch einfach haben kann. Aber wie einfach darf man es sich machen? Wie einfach darf man es sich insbesondere im Umgang mit denjenigen machen, die sich nicht mehr wehren können, weil sie bereits unter der Erde liegen? Und was helfen uns solche Vereinfachungen hier und heute?

Der bequeme Weg ins Gestern

Nehmen wir zur Verdeutlichung ein offensichtliches Beispiel. Die Einteilung in Geschichtsepochen ist eine etablierte und im europäischen Kontext schon seit mehreren Jahrhunderten geübte Praxis, die insbesondere zur Orientierung im historischen Durcheinander hilfreich sein mag, zugleich aber ihre unübersehbaren Schwierigkeiten hat. Diese Schwierigkeiten wurden schon weidlich diskutiert. Denn die Unterteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit (mitsamt allen Substrukturen) teilt das Schicksal aller Formen des Überblicks: Man erhält eine Übersicht über Vieles, muss dabei aber zwangsläufig vieles übersehen.

An dieser Stelle müssen nicht die vielfach geführten Debatten über das Pro und Contra von Epocheneinteilungen nacherzählt werden. Im Falle von übermäßiger Vereinfachung des Gewesenen wird man aber immer auf folgende paradoxe Situation stoßen: Dass Epocheneinteilungen die rückwärtsgewandten Konstrukte der Nachgeborenen sind, versteht sich von selbst. Die Menschen des Mittelalters hatten keine Ahnung davon, dass sie im „Mittelalter“ lebten. Fatal wird diese diskursive Anordnung jedoch dann, wenn die gleichen Nachgeborenen selbstverständlich annehmen, dass sich diese Menschen nun entsprechend des Konstrukts „Mittelalter“ zu benehmen hätten beziehungsweise sich wundern, wenn sie genau das nicht tun! Wenn das stark vereinfachte Abbild einer historischen Rückschau an die Stelle der Komplexität tatsächlicher Verhältnisse gesetzt wird – spätestens dann muss die geschichtswissenschaftliche Staatsanwaltschaft einschreiten und Anklage im Fall von übergroßer Simplifizierung erheben.

Je weiter vergangene Zeiten chronologisch von unserem eigenen Hier und Jetzt entfernt sind, umso schneller sind wir bereit, diese vergangenen Zeiten vergröbernd darzustellen. Auch das lässt sich ganz leicht belegen, wenn wir aktuelle Vorschläge für epochale Einschnitte in der westlich-europäischen Geschichte näher betrachten: Aufgrund von 9/11 ist 2001 der bisher letzte Vorschlag, 1989 ist ebenso ein offensichtlicher Kandidat, davor kann man 1972 (Ölkrise, Bericht des Club of Rome) oder 1968 als mögliche Kandidaten ausmachen, davor tummeln sich 1945 und 1914. Allein im (verlängerten) 20. Jahrhundert also sechs mögliche Epochenumbrüche. Davor muss man bereits ins Jahr 1789 springen, um einen nächsten epochalen Orientierungspunkt auszumachen, dann sind es wieder drei Jahrhunderte bis etwa 1500, dann gibt es einen Riesensprung bis etwa 500 – und danach verliert sich das Ganze in den Untiefen der Geschichte. Kompliziert ist also immer nur da, wo wir selbst sind. Davor wird es einfacher – zu einfach! Und wenn die Konstrukte, die wir fabrizieren, so übermächtig werden, dass sie den Blick auf die Vergangenheit nicht erhellen, sondern ihn verstellen, dann kann man nur sagen: Schafft die Epochen ab! Dann brauchen wir einen anderen, angemesseneren Blick auf vergangene Zeiten.

Was solcherart produziert wird, ist eine flache Geschichte, die keine Winkel und Kanten hat, keinen Widerstand bietet, sondern problemlos unseren Erwartungen unterworfen wird. Geschichte wird zweidimensional. Das ist in etwa so, als würden wir die Vielfalt einer Landschaft mit der Landkarte verwechseln, die wir von ihr angefertigt haben. Flache Geschichte ist die bequeme Möglichkeit, sich von all den Kompliziertheiten und Komplexitäten zu verabschieden, die eine intensive (und damit auch zeit- und arbeitsaufwändige) Beschäftigung mit der Vergangenheit mit sich bringt. Flache Geschichte ist die gut ausgebaute Autobahn zur historischen Erkenntnis. Aber wieviel Ignoranz verträgt die Vergangenheit, bevor sie zur Parodie verkommt?

Eine Ethik der Geschichtsschreibung

Der Ruf der akademischen Geschichtsschreibung mag nicht immer der beste sein, und dafür gibt es auch den einen oder anderen Grund: schlechter Stil, zum Beispiel, oder übergroße Spezialisierung. Aber die akademische Geschichtsschreibung übernimmt die wichtige, wenn auch nicht immer dankbare Aufgabe des Verkomplizierers, um der allenthalben vorhandenen Komplexitätsreduktion entgegenzuwirken. Und zumindest in dieser Rolle ist sie unverzichtbar. Sie muss uns vor Augen halten, dass die Dinge nicht so schlicht gestrickt sind, wie wir sie uns zuweilen machen.

Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um die Eindämmung der Arroganz der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit. Wir müssen ihm begegnen, diesem hochnäsigen, modernisierungstheoretisch unterfütterten Auftritt eines Hier und Jetzt, das meint, den Höhepunkt menschlicher Entwicklungsfähigkeit erreicht zu  haben und vom hohen Ross auf dieses ominöse „Früher“ herabblicken zu können, um mit einem teils bedauernden, teils süffisanten Seufzer zu konstatieren: Die waren eben noch nicht so weit wir.

Wir brauchen daher nichts weniger als eine Ethik der Geschichtsschreibung. Es geht um die Mahnung an eine hinreichende Komplexität historischer Darstellungen. Vollständigkeit kann dabei gar nicht das Ziel sein, aber eine Form der Behandlung des Gestern, die dem Vergangenen gerecht wird, sollte schon geboten sein. Man kann das in eine einfache geschichtsethische Testfrage gießen: Wollen wir so von der Zukunft behandelt werden, wie wir gerade selbst die Vergangenheit behandeln?

Stellen wir die Vergangenheit als nicht vereinfachter dar, als wir unsere eigene Gegenwart dargestellt  wissen wollen. Denn ist das nicht das Schöne am Umgang mit der Vergangenheit: dass es am Ende immer komplizierter, verwickelter, bunter und damit auch erkenntnisreicher ist, als man sich das im Vorhinein ausgemalt hat?


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20. Histofloxikon, Zweite Lieferung

Vor kurzem begonnen, hier nun weitergeführt: das Lexikon historischer Floskeln und Allgemeinplätze.make history (topeka library)

Das wird Geschichte machen!

Nein, wird es nicht! Es wird auch nicht Geschichte schreiben oder wie sonstige alternative Formulierungen dafür auch immer lauten mögen. Wer oder was die Geschichte „macht“, würde sicherlich einer etwas ausführlicheren Erörterung bedürfen. Man kann aber mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Geschichtemachen nicht wie Kuchenbacken funktioniert. Jetzt wird Kuchen gebacken! – eine solche Aussage darf man, in Abhängigkeit von der Seriosität der Sprechenden, als durchaus ernsthafte Ankündigung verstehen, deren Erfüllung in der Zukunft (falls überhaupt) üblicherweise nur Unwesentliches im Weg steht. Bei der Aussage, etwas werde Geschichte machen, ist die temporale Relationierung etwas komplizierter. Immerhin versucht man damit, in der Gegenwart eine zukünftige Vergangenheit zu bestimmen. Man möchte also den Nachfahren vorsichtshalber schon einmal vorschreiben, welche Geschichte sie zu erzählen haben werden. Das wird nur in Ausnahmefällen funktionieren. Denn entweder erweist sich vermeintlich Epochemachendes für die Nachgeborenen als irrelevant – oder sie machen es tatsächlich zu einem Teil ihrer Geschichte, dann aber, weil sie sich dazu entschieden haben, und nicht weil es von welchen Vorfahren auch immer dekretiert wurde.

Zugegeben, die Chance aktuelle Ereignisse als „historisch“ einstufen zu können, wächst mit der diskursiven Macht der Sprecher/innen. Bestimmte Aussagen sind schwerer zu überhören als andere. Aber auch mit einer hinreichenden Menge an Machtfülle gibt es keine Erfüllungsgarantie.

Steht nur noch die Frage im Raum, wann diese Unsitte, ja eigentlich arrogante Attitüde ihren Anfang genommen hat, in der Gegenwart bereits die Geschichte von morgen festlegen zu wollen. Eine mögliche Antwort betrifft einen üblichen Verdächtigen: Als Goethe am 20. September 1792 bei der Kanonade von Valmy zugegen war, bei der die französische Revolutionsarmee sich gegen Preußen durchsetzen konnte, soll er bekanntlich gesagt haben, dass von diesem Ereignis eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehen werde und die Anwesenden später einmal sagen  könnten, sie seien dabei gewesen. So behauptete er zumindest später. Denn dass er sein „Das wird Geschichte machen!“ bei dieser Gelegenheit gesagt haben soll, dokumentierte er selbst erst Jahrzehnte später, als er um 1820 seine „Kampagne in Frankreich“ schrieb. Die Moral von der Geschicht‘? Was morgen gestern sein wird, wissen wir heut‘ noch nicht.

In die Geschichte eingehen

Hängt ganz eng mit dem Geschichtemachen und Geschichteschreiben zusammen, ist aber aufgrund der zumeist passivischen Verwendung – etwas wird in die Geschichte eingehen – anders gelagert. Spricht man davon, dass etwas Geschichte machen werde, präsentiert sich diese „Geschichte“ als ein weißes, noch zu beschreibendes Blatt Papier, für das aber die Arbeitsnotizen bereits hier und heute gesammelt werden. Wenn jemand oder etwas jedoch in die Geschichte eingehen soll, dann scheint es sich bei dieser „Geschichte“ eher um einen exklusiven Klub zu handeln, zu dem nun wahrlich nicht jeder und alles Zutritt hat. Die Einlassbedingungen sind streng, aber hat man es erst einmal am Türsteher vorbei geschafft, darf man sich der Unsterblichkeit erfreuen – zumindest im angenommenen Gedächtnis der Nachgeborenen. Eine Unsterblichkeit allerdings mit häufig begrenztem Haltbarkeitsdatum. Man wird aus diesem Klub üblicherweise nicht mit großem Tamtam rausgeschmissen, man kann seine Mitgliedschaft aber durch ein leise dahindämmerndes Vergessen verlieren. Das wäre dann der Moment, in dem die nächste Floskel zum Einsatz kommen kann: „Das ist Geschichte!“

Die „Geschichte“, in die etwas eingehen soll, gemahnt an einen Aufbewahrungsort toter Wirklichkeiten, an eine Lagerhalle vergangenen Geschehens, in der man verstauen kann, was man aktuell nicht mehr benötigt, das sich aber aus Gründen der Bildung, Selbstvergewisserung und Identitätsbildung vielleicht noch einmal verwenden lässt. Eine solche Geschichte ist tote Geschichte. Sie entspricht der Art und Weise, wie nicht wenige Museumsbesucher mit diesen Containern des Gestern umgehen: Eine gewisse Bildungsbeflissenheit oder der schiere Zwang (Stichwort: Schulausflug) nötigen einen dazu, entsprechende Einrichtungen zu besuchen – aber mit dem eigenen Leben hat das wenig bis gar nichts zu tun. Wenn in einer Kultur die dominierende Auffassung von Geschichte darauf hinausläuft, dass es sich nur um das tote Gestern anstatt um die recht lebendige Anordnung unterschiedlicher Zeiten im Hier und Heute handelt, dann dürfte diese Kultur ein Problem haben.

Das ist der Lauf der Geschichte

Einspruch! Ist er nicht! Man kann im mehr oder minder akademischen Gerede und Geschreibe über das Historische so oft und so viel gegen die Zielgerichtetheit des historischen Prozesses (auch noch im Singular!) anschreiben wie man möchte, die Teleologie scheint einfach nicht auszurotten zu sein. Wohlgemerkt, damit sollen bei weitem nicht nur diejenigen angesprochen sein, die unbeleckt von tiefergehenden geschichtstheoretischen Weihen davon ausgehen, es gebe einen Sinn und ein Ziel der Geschichte, sondern vor allem diejenigen, die es eigentlich besser wissen sollten, aber von solchen Floskeln weiterhin fröhlich Gebrauch machen.

Hatten wir schon „die Geschichte“ als unbeschriebenes Blatt Papier und als exklusiven Klub, dann erweist sich „der Lauf der Geschichte“ als eine Fortbewegung auf Eisenbahnschienen. Es gibt gewisse historische Gesetzmäßigkeiten, so lässt sich dieser Ausspruch verstehen, die ein Ausscheren nach rechts oder links nicht vorsehen. Der historische Weg zum Zielbahnhof wird auf diese Weise zum Schicksal erhoben, denn ist der Fahrschein erst einmal gelöst, kann man nicht mal eben die Fahrtrichtung ändern. Ungewiss ist dann höchstens noch – ganz wie bei der Deutschen Bahn – wann der Zug tatsächlich einläuft.

Solche Formulierungen mögen durchaus nachvollziehbar, weil unmittelbar einsichtig sein, sie lassen im Zusammenhang einer Untersuchung historischer Floskeln aber vor allem Rückschlüsse auf das dahinter liegende Zeitmodell zu. Und wie schon im ersten Teil des Histofloxikons festgestellt, wird vielfach immer noch von temporalen Vorstellungen ausgegangen, die dem Zeitstrahl entsprechen. Durchaus naheliegend, auf diesem Strahl einen Lauf der Geschichte zu vermuten oder dort Schienen zu verlegen und irgendwo ein – wenn auch unvorstellbar weit entferntes – Ziel anzunehmen. Selbst wenn dieses Ziel nicht mehr heilsgeschichtlich verbürgt ist, so gibt es doch ausreichend säkularisierte Alternativen, welche die Funktion des einstigen christlichen Paradieses übernommen haben (Kommunismus, Weltfrieden, Wohlstand für alle).

Wenn man nun die ketzerische Frage stellte, was mit einer Welt denn weiter geschehen solle, in der tatsächlich der utopische Zustand erreicht wäre, dass alle in Sicherheit und Zufriedenheit leben würden, so könnte das zu (mindestens) zwei Reaktionen führen: entweder läge der Vorwurf des blanken Zynismus nahe oder man sollte beginnen, ganz grundsätzlich das eigene/vorherrschende Zeitmodell zu überdenken.


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19. Histofloxikon, Erste Lieferung

RitterSie hat schon einige Tage auf dem Buckel, die berühmte, vielleicht sogar berüchtigte Sapir-Whorf-Hypothese vom linguistischen Relativismus (wahlweise auch Determinismus). Und wahrscheinlich muss man diese Debatte nicht gesondert bemühen, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Sprechen, Denken und Wirklichkeit irgendwie miteinander zusammenhängen. Eine verflixt komplizierte Beziehung ist das. Aber keine Sorge, ich werde mich nicht anheischig machen, diese Dreiecksgeschichte hier mal eben klären zu wollen. Vielmehr soll dieser Hinweis nichts anderes sein als eben das: ein Hinweis. Und zwar um auf einen Problemzusammenhang aufmerksam zu machen, der uns tagtäglich begegnet (Von wegen: „Die Sonne geht auf“). Vergangene Zustände sind ja in einem besonderen Maße dafür anfällig, durch sprachliche Anordnung überhaupt erst geformt zu werden, schließlich sind sie vergangen, stehen also nicht mehr anders als sprachlich (oder sonstwie zeichenförmig) zur Verfügung. Und ungefähr das wollten Sapir und Whorf wohl zum Ausdruck bringen, dass die Art und Weise, wie wir über die Dinge sprechen, unser Denken über diese Dinge prägt. Die wissenschaftliche Diskussion beharrt zwar zurecht darauf, dass die Verhältnisse etwas komplizierter sind als in der angenommenen Einbahnstraße von „Sprache prägt Denken“. Aber dass die Diskussion immer noch geführt wird, ist schon wieder ein Hinweis: dass an diesem Problem nämlich etwas dran ist.

Mir gibt das die Möglichkeit, ein kleines lexikalisches Vorhaben in einen viel zu großen Zusammenhang einzuordnen, einer kleinen Spielerei einen ungemein schweren, goldenen Rahmen umzuhängen. Man könnte das Ganze bezeichnen als Histofloxikon: das Lexikon historischer Floskeln und Allgemeinplätze. Nicht sehr viel mehr als eine gänzlich unsystematische Sammlung einiger Alltagsweisheiten, die in Bezug auf Vergangenheit und Geschichte immer wieder Verwendung finden und offensichtlich nicht auszurotten sind. Zugleich aber Formeln, die unser Denken über Geschichte und Vergangenheit zu einem erheblichen Grad prägen und bei unreflektierter, allzu häufiger Verwendung zu nicht geringen Schwierigkeiten führen können. Auf Risiken und Nebenwirkungen ist im Folgenden einzugehen.

Sich in die Geschichte hineinversetzen

Eine meiner Lieblingsfloskeln. Üblicherweise vermeide ich es in der Begegnung mit anderen Menschen, meine akademische Spezialisierung allzu offensiv zu verlautbaren, um genau diesem Satz zu entgehen. Gelingt leider nicht immer. In einem Gespräch insistierte einmal ein behandelnder Arzt auf genauere Kenntnis meiner wissenschaftlichen Profession. Auf das Bekenntnis hin, dass ich Historiker sei, folgte eine kurze Pause, ein tiefes Durchatmen und ein (verschämter? irritierter? nachdenklicher? gar neidischer?) Blick zu Boden. Dann mir wieder ins Gesicht gesehen und die Frage gestellt, die mich sprachlos machte: Ob ich denn dann noch so viel mit dieser Welt zu tun hätte?

Nein! Natürlich nicht! Denn als professioneller Temponaut ziehe ich mir üblicherweise morgens nach dem Frühstück meinen Zeitanzug an (während sich Astronauten in einen Raumanzug zwängen müssen), um mit meiner Zeitmaschine in mein derzeitiges Arbeits- und Beobachtungsfeld der Vergangenheit hinabzugleiten. Beam me back, Scotty! Pünktlich zum Abendessen bin ich wieder zurück.

Wenn auch nicht gar so naiv, aber eine gewisse Form der Gegenwartsentrücktheit wird historisch arbeitenden Menschen mit schöner Regelmäßigkeit unterstellt. Viel schlimmer aber ist, dass im Alltagsverständnis nicht selten von der Beschäftigung mit der Geschichte eben eine solche Zeitentrückung erwartet und erhofft wird. Dann kommen sie zum Einsatz, diese bedenklichen Floskeln vom Hineinversetzen oder gar Sich-Versenken in vergangene Zustände.

Die Zeitmaschinenvorstellung ist im Zusammenhang mit historischem Arbeiten nicht auszurotten. Unsere unzureichende Vorstellung von „der Zeit“ als einer unilinearen Dimension, auf der man zumindest theoretisch hinauf- und hinabgleiten könne, nährt bis zum heutigen Tag die Illusion, dass die Konstruktion einer Zeitmaschine nur ein technisches Problem sei. Aber wenn das erst einmal gelöst wäre … Bis dahin müssen wir uns eben mit den zweitbesten Lösungen zufriedengeben, können Mittelaltermärkte veranstalten, historische Schlachten nachstellen, können uns in abgrundtief schlechten historischen Romanen dem „Strudel der Ereignisse“ hingeben oder in Fernseh-Doku-Fictions Geschichte „wieder lebendig“ werden lassen. Die Auseinandersetzung mit anderen Zeiten verkommt solcherart zum historischen Disney-Park und verzichtet auf jegliche Form der Kritik. Warum man sich aber nicht in die Vergangenheit hineinversetzen kann, mag eine andere Floskel verdeutlichen.

Einen Blick in die Vergangenheit werfen

Das ist abgemilderte Version des Zurückbeamens in die Historie: Man will nicht mehr selbst im Gestern anwesend sein (da warten ja Schmutz, Krankheiten, lebensbedrohliche Gefahren und schlechte Umgangsformen – kennt man ja aus den „lebendig erzählten“ Historienfilmen), man möchte nur einen kurzen Blick durch den Türspalt der Zeiten wagen. Die Vergangenheit wird auf diese Weise zum problemlos beobachtbaren Gestern, zum zeitlichen Nachbarn von Gegenüber, bei dem man mal eben schnell vorbeischauen könnte, um zu sehen, wie es denn damals so war. Anstatt über die Straße zu gehen, konsultiert man die „Quellen“ (eine weitere, höchst problematische Metapher), um etwas über die Vergangenheit zu erfahren.

Aber die erkenntniskritische Frage sei erlaubt, ob wir durch das historisch überlieferte Material hindurchsehen, um einen Blick in die Vergangenheit zu erhaschen, oder ob uns der Blick auf das alte Papier (oder Bild oder Objekt) nicht in der Gegenwart festhält, um die Frage zu provozieren, welche Relationen dieses überlieferte Material mit einer jeweiligen Gegenwart eingeht.

Man kann die Sache auch etwas kosmischer angehen: Es wird zuweilen behauptet, die einzige Möglichkeit, um der Vergangenheit tatsächlich ansichtig zu werden, sei ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Denn bekanntermaßen sehen wir dort oben nicht den gegenwärtigen Zustand des Universums, sondern nur das Licht, das seit unvorstellbar langer Zeit unterwegs ist, um uns von Sternen zu künden, die möglicherweise überhaupt nicht mehr existieren. Also sehen wir dort die Vergangenheit. Tatsächlich? Auch hier sollte man etwas genauer sein. Zunächst einmal sehen wir dort Licht sehr unterschiedlichen Alters, weil das Licht des Mondes nur wenige Sekunden, das Licht der Sonne wenige Minuten, das Licht des Andromeda-Nebels aber mehrere Millionen Jahre alt braucht, um bei uns einzutreffen. All diese verschiedenen Lichtzustände kommen in unserer Gegenwart, und nur in unserer Gegenwart in genau der gegebenen Form zusammen, um ein buntes, temporales Durcheinander zu ergeben, das unser Hier und Jetzt prägt. Sodann sollte man auch die Bewegungsrichtung nicht außer Acht lassen, mit der wir es zu tun haben. Denn nicht wir werfen unseren Blick zu den Sternen, sondern deren Licht kommt zu uns. Wir blicken also nicht in die Vergangenheit, sondern müssen warten, bis diese Vergangenheit uns erreicht, um unser gegenwärtiges Bild vom Sternenhimmel zu konstituieren. Schließlich und endlich haben wir es mit dem Licht als einem Medium zu tun, das Informationen über vergangene Zustände von anderen Sternen transportiert, das aber nicht „die Vergangenheit selbst“ ist.

Nicht anders sieht es mit historischen Dokumenten aus, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise daran beteiligt sind, die temporale Verweisstruktur unserer Gegenwart zu konstituieren. Dieses historische Material haben wir nicht aus der Vergangenheit geholt, sondern es ist in unserer Gegenwart übriggeblieben, und es trägt als medialer Träger dazu bei, Relationen einer Gegenwart zu ihren Vergangenheiten zu ermöglichen, ohne „die Vergangenheit“ zu sein.

To be continued …

 


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18. Herrndorf oder die gefaltete Zeit

ZerknittertDie biographische Illusion

Am 26. August 2013, gegen 23.15 Uhr, steckt sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals eine Pistole in den Mund, zielt auf das Stammhirn und drückt ab.

In diesem Moment wurden sie wieder zur Deckung gebracht, die verschiedenen Zeiten im Leben Wolfgang Herrndorfs, die in den Jahren zuvor auf teils abenteuerliche, teils tragische Weise auseinandergedriftet waren.

Die einfache Chronologie der Ereignisse, wie sie wohl jede klassische Biographie zum Besten geben würde, könnte dabei folgendermaßen aussehen: Wolfgang Herrndorf, geboren 1965, arbeitet als Maler und Illustrator, bevor er beginnt, Bücher zu schreiben: 2002 Debüt mit „In Plüschgewittern“, 2007 der Erzählungsband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Beide werden von der Kritik freundlich aufgenommen, verkaufen sich aber unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. 2010 dann der Durchbruch: „Tschick“ stürmt die Charts und macht seinen Verfasser reich. Ein Jahr später erscheint der Roman „Sand“, die Literaturpreise purzeln nun auch. Parallel dazu schreibt Herrndorf an seinem Blog „Arbeit und Struktur“, das sein Leben mit dem Tod behandelt. Ein diagnostiziertes Glioblastom hatte inzwischen das Lebensende auf Sichtweite herangezoomt. Es war von Anfang an Herrndorfs Plan, das Blog ebenfalls als Buch zu veröffentlichen, was wenige Monate nach seinem selbstbestimmten Tod auch geschehen ist.

Aber so einfach, wie die Chronologie suggeriert, ist die Sache nicht.

Falten und Risse

In einem Interview-Buch befragte der Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour sein großes Vorbild, den Philosophen Michel Serres, zu zahlreichen Themen seines Denkens und Arbeitens, unter anderem auch zur Zeit. Serres äußert bei dieser Gelegenheit seine Unzufriedenheit mit einem allzu schlichten Zeitverständnis, das darin nur eine gleichmäßig dahinfließende Linie zu erkennen vermag. Für ihn ähnelt die Zeit eher einem zerknitterten Taschentuch. Zwei Punkte, die bei einem ausgebreiteten, flachen Tuch noch weit voneinander entfernt liegen, können sich in der zerknitterten Variante annähern, können sich sogar überlagern und zusammenfallen. Wird das Tuch anders gefaltet oder zerrissen, können sich Punkte, die gerade noch in unmittelbarer Nachbarschaft lagen, weit voneinander entfernen. Nicht anders ist es mit der Zeit, die für Serres nicht einer gleichmäßig getakteten Chronologie folgt, sondern sich durch variierende Bezüglichkeiten auszeichnet und eher eine Topologie unterschiedlicher Nähen und Fernen ähnelt. [1]

Wolfgang Herrndorfs Buch „Arbeit und Struktur“ ist Ausdruck dieser Zerknitterung. Es ist nicht zuletzt ein Buch über die Zeit, besser: ein Buch von der Überlagerung und Verwirbelung der Zeiten und von ihrer gleichzeitigen und nachträglichen Historisierung. Es ist ein sprechendes Beispiel dafür, wie wir (unsere) Geschichte schreiben – und wie wir sie wohlmöglich anders schreiben könnten, wenn nicht gar anders schreiben müssten.

Schlägt man das Blog-Buch auf, scheinen die Zeiten noch in Ordnung zu sein. Die Darstellung ist übersichtlich, linear, chronologisch strukturiert. Die Einträge sind penibel mit Datum und Uhrzeit versehen, zeigen damit ein Nacheinander des Geschehens, das der temporalen Eindeutigkeit Vorschub leistet.

Die Aufzeichnungen beginnen, nachdem Herrndorf schon einige Wochen Kenntnis von seiner Diagnose hat. Die Leserschaft weiß, dass Herrndorf sterben wird, und Herrndorf weiß es auch. Damit könnten die Dinge ihren Lauf nehmen, könnten wir das langsame Sterben des Helden lesend abschreiten. Tun wir auch. Zugleich geschieht aber noch etwas anderes. Denn trotz aller Chronologie geraten die Zeiten schon auf den ersten Seiten in Unordnung, wenn Herrndorf beispielsweise in einem Prolog seiner Sehnsucht nach postnataler Bettwärme Ausdruck verleiht. Schon hier deuten sich die Turbulenzen an, in denen sich die Zeiten üblicherweise bewegen – nur dass wir dies unter den Bedingungen einer Uhren-und Kalenderzeit nicht mehr wahrzunehmen gewohnt sind. Angesichts einer unheilbaren Krebsdiagnose kommen diese temporalen Verwirbelungen wesentlich deutlicher zum Vorschein.

Das strikte Nacheinander der datierten Blogeinträge wird einerseits dadurch unterbrochen (und das ist wenig überraschend), dass mittels Erinnerungen, Rückblenden, Nostalgien, dass durch Prognosen, Visionen, Befürchtungen, Hoffnungen zwischen den Zeiten hin- und hergesprungen wird. Die Gegenwart des Krankheitsverlaufs wird gespreizt durch Ausflüge in Vergangenheit und Zukunft. Wohlbefinden wartet im Gestern, wartet in der Miele-Waschmaschine, Baujahr 1968, „als der Mond noch nicht betreten, Borussia Neunkirchen noch in der Bundesliga und das elektronische Signallämpchen nicht erfunden war.“ (S. 19) Das Grauen wartet in der ungewiss-gewissen Zukunft, die aller Voraussicht nach nur eine Aussicht bietet, deren Dauer aber völlig im Unklaren bleibt. „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“ (S. 22)

In der Zeitmaschine

Wäre es nicht so witzig und so tragisch, nicht so präzise und so schonungslos beschrieben – diese Zeitumgangsformen könnten kaum überraschen, denn das sind die Zeitfaltungen, die wir alle aus unserm Alltag kennen. Interessanter wird es, wenn das Buch noch weitere Zeitschichten einknickt. Herrndorf schreibt im Frühjahr und Sommer 2010 von der Arbeit an dem „Jugendroman“, dass er bereits für eine 3000er Auflage dankbar wäre und dass er nach dem Erscheinen enttäuscht ist über das Ausbleiben von Rezensionen oder überhaupt irgendwelchen Reaktionen – und der Leser denkt unweigerlich: Meine Güte, er hat noch gar keine Ahnung, was da auf ihn zukommt. Man möchte ihm durch das Buch und durch die Zeiten und über die Schwelle von Leben und Tod hinweg zurufen: Halte noch ein wenig aus, dann wird er kommen, der Erfolg für deine Arbeit, der Lohn für all die Mühen. Aber was nützt das? Kaum ist die für uns bereits vergangene Zukunft des Riesenerfolgs von „Tschick“ auch in Herrndorfs Gegenwart angekommen, bleibt nur der Schluss: „25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ (182)

Man kommt sich vor wie bei „Back to the future“, nur dass wir keine zauseligen Erfinder und keine komischen Zeitmaschinen benötigen, sondern nur den Blätterteig der Zeit aufmerksam beobachten müssen, um uns zwischen seinen Schichten bewegen zu können. [2] Denn der zukünftige „Tschick“, der hier noch nicht mal einen Titel hat, aber schon bald in der deutschen Literaturgeschichte des frühen 21. Jahrhunderts einschlagen wird, ist für die Leserschaft schon längst Vergangenheit, während er für die Gegenwart des Schreibenden kaum mehr ist als vage Zukunft. Diese Temporaltektonik wird durch die Todesthematik nochmals verkompliziert. Denn während wir Lesenden bereits wissen, wann und unter welchen Bedingungen Herrndorfs Leben endet, muss man mit ihm durch die gesamte, über 400 Seiten währende sichere Unsicherheit gehen, dass der Tod zwar kommt, aber keinen Termin nennen will. Morgen, nächsten Monat, in einem Jahr, gar in zehn Jahren?

Insbesondere in der ersten Hälfte des Buchs bewegen sich die Zeiten von Erzähler und Leser auf denkbar unterschiedlichen Ebenen. Die verschiedenen Zukünfte Herrndorfs – einen Jugendroman zu schreiben, der sich wahrscheinlich wieder nicht verkaufen wird, zu sterben, aber nicht zu wissen wann, und noch ein wenig Lebenszeit zu haben, aber nicht zu wissen wie viel – werden in der historisierenden Rückschau vereindeutigt zu einem linearen Ablauf. Dabei zeigt uns Herrndorfs Lebens- und Todesgeschichte, wie wichtig es ist, diese Vielfältigkeit der Zeiten aufrecht zu erhalten. Auch die fotografischen Selbstporträts, die in das Buch eingefügt sind, springen dem Betrachter als mediale Kreuzungspunkte der Zeiten ins Auge. Wir sehen dieses Bild nicht nur in unserer eigenen Gegenwart, sondern wissen zugleich um die Zukunft des Abgebildeten – die für uns bereits Vergangenheit ist. [3]

Diese möglichen und unmöglichen, gewissen und ungewissen Faltungen der Zeit fallen in der Gegenwart und im Leben Herrndorfs zusammen und führen zu einem Zustand (nicht nur, aber auch) der temporalen Lähmung: Während das Bewusstsein schon am Ziel der Reise angekommen ist, muss es noch warten, bis der Körper hinterherkommt. „Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.“ (401)

Aber je weiter das Buch voranschreitet, desto mehr kann man beobachten, wie sich die zerknitterte Zeit auseinanderfaltet, um sich der reinen Gegenwart zu ergeben – einer Gegenwart, die sich zunehmend darauf konzentriert, den richtigen Zeitpunkt des selbst gewählten Todes zu bestimmen: „Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag.“ (218)

Postskriptum: Hatte ich bereits erwähnt, dass „Arbeit und Struktur“ ein packendes Buch ist, ein großes Buch, das mit seiner verknappten und kristallklaren Sprache keine heuchlerische Sentimentalität aufkommen lässt, das schonungslos offen ist bis zur Schmerzgrenze, das witzig ist und voller Einfälle sprudelt, das Hoffnungen und Verzweiflungen aufblitzen lässt, das man auch und gerade dann lesen sollte, wenn man sich zufällig überhaupt nicht für gefaltete Zeiten interessiert? Noch nicht? Nun, dann wissen Sie, was Sie jetzt zu tun haben.

[Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Berlin 2013]

[1] Michel Serres: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, Berlin 2008.

[2] Hans Magnus Enzensberger, Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus, in: ders, Zickzack. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1997, 9-30.

[3] Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 2009.


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Praxis vs. Theorie und Rüsens neue Historik

 

„Theorie“ ist ein geschichtsdidaktisches Zauberwort zur Professionalisierungsprovokation. Die meisten Studierenden wollen sie nicht und ertragen sie nur widerwillig. Vielen praktizierenden LehrerInnen aller Berufsphasen geht es ebenso, wenn sie ihnen in den seltenen Fortbildungen oder in den (nicht oft gelesenen) geschichtsdidaktischen Texten begegnet.

 

Differenz von Erwartung und Angebot

Studierende und LehrerInnen erwarten von GeschichtsdidaktikerInnen unmittelbare Unterstützung in ihrer täglichen Berufspraxis; und sie tun es gestützt auf eigene Erfahrungen als SchülerInnen, PraktikantInnen oder als beanspruchte Lehrpersonen (mehr oder minder berechtigt) auf eine bestimmte Weise. Das war so in den drei deutschen Ländern, in denen ich als Geschichtsdidaktiker tätig war und das ist so in den vier Schweizer Kantonen, in denen ich es jetzt bin. Diese variierende Differenz zwischen theoriegestütztem geschichtsdidaktischem Angebot und den Erwartungen seiner Zielgruppe sind also offenbar kein regionales, nationales oder gar persönliches Problem. Dass die Didaktik der Geschichte indes sehr viel unternimmt, um vielleicht nicht generell diesen Erwartungen, aber doch gewiss ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, das hat Michele Barricelli kürzlich dargestellt.

Rüsens Geschichtstheorie

Ich meine allerdings, dass man die Theoriebedürftigkeit der LehrerInnen-„Ausbildung“ und der alltäglichen geschichtsunterrichtlichen Praxis ergänzend auch etwas offensiver diskutieren könnte. Den Anlass dafür bietet das kürzliche Erscheinen eines bedeutsamen Buches, nämlich Jörn Rüsens neuer Historik.1 Dieses Buch ist die späte Summe der vielen originellen geschichtstheoretischen Texte, die Rüsen seit Ende der 1960er Jahre publiziert hat. Darin hat Rüsen viele Ansätze geschichtstheoretischen Denkens neu zusammengedacht und verdichtet. Rüsens Geschichtstheorie ist aber auch deshalb für die historisch-politische Bildung relevant, weil der Autor den Aspekt der lebensweltlichen Verwurzelung jedes historischen Denkens durchgehend und konsequent mitbedacht2 und weil er weiterhin die Didaktik der Geschichte immer schon als eine Dimension der Geschichtswissenschaft reflektiert hat – nämlich als eine praktisch wirksame, sich gesellschaftlich intentional artikulierende Form der Geschichtswissenschaft.3 Geschichtsdidaktik ist eine Praxis der Geschichtswissenschaft, insofern diese sich um Bildung bemüht. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Institution, eine eigenständige Teildisziplin mit einem spezifischen Rekrutierungs- und Reputationsapparat – das führt manchmal zu Verwechselungen und falschen Abgrenzungen.

Vom Unterschied zwischen Alltagstheorien …

Es ist eigentlich sehr leicht zu erklären, warum es in der LehrerInnenausbildung nicht nur nicht ohne „Theorie“, sondern auch nur mit vergleichsweise sehr viel „Theorie“ geht, und warum das Gegeneinanderausspielen von „Theorie“ und „Praxis“ in seiner entlastenden Wirkung zwar subjektiv gut erklärbar sein mag, in der Sache aber völlig inadäquat ist. „Theorie“ ist dem Worte nach erst einmal nichts anderes als „Welt-Anschauung“, es ist mehr oder minder bewusste, mehr oder minder gut begründete kontemplative Reflexion von Erfahrung. Diese Reflexion geschieht in der Regel entweder rein subjektiv und führt zu individuellen Alltagstheorien, oder sie wird gar nicht selbst geleistet und als Traditionsprodukt von Autoritäten unbesehen übernommen. Solche tradierten Theorien bilden die Substanz der institutionellen Landschaft, in die wir hineinsozialisiert werden. Wir funktionieren in dieser Landschaft normalerweise ganz gut. Alle Arten von Alltagstheorien sind bereichsbezogen; jeder Studierende hat sie von seinem zukünftigen Beruf, jede Lehrperson egal welcher Berufsphase hat sie in individueller Ausformung vom eigenen aktuellen Berufsfeld („Beliefs“).4

… und wissenschaftlichen Theorien

Was man dagegen gemeinhin „Theorie“ nennt, das sind aufs Ganze gesehen sehr seltene Sonderfälle, nämlich solche Welt-Anschauungen, die sich um explizite Begründung, Traditionskritik, Kontextualisierung und überprüfbare empirische Rückbindung an die Welt bemühen: wissenschaftliche Theorien. Sie sind individuelle Erscheinung, insofern aus ihnen jeweils die Leistung einer TheoretikerIn spricht. Sie sind aber immer auch kollektive Erscheinungen, weil sie Resultate von Bildung, von Diskussion und offenen Kontroversen darstellen. All das unterscheidet sie von Alltagstheorien. Ihr kritisches Verständnis macht den Unterschied zwischen dem Experten und dem Dilettanten. Ein Experte ist als Mensch selbstverständlich weiterhin ein Füllhorn diverser Alltagstheorien, auf seinem Spezialgebiet sollte er diese Alltagstheorien jedoch mit wissenschaftlichen ins Verhältnis gebracht und eine kritische Balance zwischen ihnen gefunden haben. Theoria Cum Praxi (Leibniz) ist also keine hehre Norm, sondern eine schlichte Tatsache unserer alltäglichen Lebensführung. Es kommt bei jeder Qualifikation, auch der beruflichen, auf die Qualität der Theorien an, die in den Prozessen der Lebensbewältigung zur Verfügung stehen, nicht auf das Ob oder Ob-Nicht.5

Studium oder Ausbildung?

LehrerInnen-„Ausbildung“ ist ein irreführender Begriff, und insofern schon ein Fehlkonzept einer Welt-Anschauung. Es geht nicht um eine Berufs-„Ausbildung“ wie die einer BäckerIn oder einer FachverkäuferIn – bei allem Respekt vor diesen Berufen und den darin tätigen SpezialistInnen. Vielmehr geht es um ein wissenschaftliches Studium, das nicht vorwiegend zur Kenntnis und Beherrschung eines Regelkorpus führen soll, sondern zur autonomen (also selbst-gesetzgebenden), anpassungsfähigen, wissenschaftlich informierten Ausübung eines Lehramtes – woraus sich im Übrigen auch die vergleichsweise hervorragende Entlohnung erklärt. Eine solche Berufsausübung setzt die immer wieder zu erneuernde Einsicht in psychologische, bildungswissenschaftliche und v.a. geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und eben auch Theorien unbedingt voraus – und das muss man gelernt haben! Praktika dienen der fallweisen Einübung relevanter Theorien und Empirien in die Situationalität des „pädagogischen Universums“. Abgeschlossen ist das Lehrerwerden mit einem solchen Studium allerdings in keiner Weise. Aus der Lehrerforschung kennen wir den langen, unsicheren und anstrengenden Weg hin zu didaktischer Routine und evtl. auch Meisterschaft.6 Das Studium soll dafür das intellektuelle, also theoretische Rüstzeug bieten, der Prozess des Lehrerwerdens selber dauert Jahrzehnte. Und es gibt auf diesem steinigen Weg keine Abkürzung.

Für Rüsen sind geschichtsbezogene Theorien gar nicht denkbar ohne lebensweltliche Anstiftung, Verankerung und Rückwirkung.7 Er führt die Praxis des Umgangs mit Theorie vor, theoretisch. Die gewiss anstrengende Lektüre und Diskussion von Rüsens Historik könnte für jeden Studierenden eine Etappe auf dem Weg des Lehrerwerdens sein, an die man sich nach vielen Jahren Berufspraxis dankbar erinnern wird. Versprochen.

 

Literatur

  • Rüsen, Jörn: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung. In: Kosthorst, Erich (Hg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 48-64.
  • Rüsen, Jörn: Grundzüge einer Historik, 3 Bde., Göttingen 1983-1989.
  • Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a. 2013.

Externe Links

 

Abbildungsnachweise
Buchcover von Rüsen, Jörn: Historik, Köln 2013 © Böhlau-Verlag Köln.

Hintergrundbild: © knipseline  / pixelio.de

Empfohlene Zitierweise
Demantowsky, Marko: Praxis vs. Theorie und Rüsens neue Historik. In: Public History Weekly 1 (2013) 14, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-889.

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