In den letzten Beiträgen wurde anhand der Analyse dreier zentraler Texte – vom Pädiater Andrea Prader (hier), dem Gynäkologen Ernst Philipp (hier) und dem Psychiater Hans Jörn Lammers (hier) – die lebendige Diskussion um die Fassbarkeit…
Begriffsdefinitionen „Intersexualität“ X: Diskussion und Conclusio
Dieser Blogpost ist der zehnte und letzte einer Reihe von Beiträgen, die auf den Vortrag von Marion Hulverscheidt auf dem Symposion „Männlich-weiblich-zwischen“ (September 2015) zurückgehen. Siehe hier für den ersten Beitrag.
In den letzten Beiträgen wurde anhand der Analyse dreier zentraler Texte – vom Pädiater Andrea Prader (hier), dem Gynäkologen Ernst Philipp (hier) und dem Psychiater Hans Jörn Lammers (hier) – die lebendige Diskussion um die Fassbarkeit und Klassifikation von Intersexualität/Hermaphroditismus Ende der 1950er Jahre im deutschsprachigen Raum detailliert dargelegt und mit weiteren Literaturstellen, beispielsweise aus dem Lehrbuch der Kinderchirurgie von Max Grob (hier), aus medizinischen Wörterbüchern und aus dem als Standardwerk angelegtem Sammelband „Intersexualität“ von Claus Overzier (siehe hier) flankiert. Die solchermaßen vorgenommene dichte Beschreibung macht eine Zeitgebundenheit der verwendeten Begriffe mehr als augenfällig.
Unterschiedliche Bestimmungen des „Kerngeschlechts“
Beispielhaft seien hier die Begriffe erwähnt, die für die Beschreibung des Kerngeschlechts verwendet werden: Prader bezeichnet als genetisches oder chromosomales Geschlecht den an Zellkernen im Blutbild, Schleimhautabstrich oder der Hautbiopsie erhobenen Befund.
[...]
Begriffsdefinitionen „Intersexualität“ IX: Alles geklärt – Overzier Intersexualität
Claus Overzier, habilitierter Internist, gab 1961 einen über 500 Seiten starken Sammelband, betitelt „Die Intersexualität“, im Georg Thieme Verlag Stuttgart heraus. 18 Autoren aus dem deutschen und englischsprachigen Raum stellten dieses lebendige Forschungsfeld dar. Overzier selbst…
Begriffsdefinitionen „Intersexualität“ VII: Eine einheitliche Betrachtung des Zwittertums – der Kieler Gynäkologe Ernst Philipp
Dieser Blogpost ist der siebte einer Reihe von Beiträgen, die auf den Vortrag von Marion Hulverscheidt auf dem Symposion „Männlich-weiblich-zwischen“ (September 2015) zurückgehen. Siehe hier für den ersten Beitrag.
Ernst Philipp, Direktor und Professor an der Universitäts-Frauenklinik in Kiel, formulierte 1958 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift einen Versuch über eine einheitliche Betrachtung des Zwittertums.[1] Er hebt darin insbesondere darauf ab, das lange Zeit die Keimdrüsen, also die Gonaden, als das Primäre des Geschlechts angesehen wurde. Doch dies wird in jüngster Zeit relativiert:
… ihr Bau hängt von der Konstellation der Geschlechtschromosomen ab, die schon im Moment der Befruchtung des Eies das Geschlecht des Individuums und damit auch den Charakter der Geschlechtsdrüse bestimmen.[2]
Philipp sieht also durch die neuen Methoden der Bestimmung des Geschlechts im Zellkern – durch Barrkörperchen oder drumsticks – die Möglichkeit eindeutig chromosomal männliche und chromosomal weibliche Personen voneinander unterscheiden zu können, und er erachtet dies als eine probate diagnostische Unterscheidung. „Dabei ist also nicht mehr die Keimdrüse, sondern die Beschaffenheit der Geschlechtschromosomen diagnostisch ausschlaggebend.
[...]
Begriffsdefinitionen „Intersexualität“ I: Einleitung und Fragestellung
Begriffe verändern ihre Bedeutung und es werden immer wieder andere Begriffe in Diskussionen eingeführt, um so neue Implikationen deutlich zu machen. Dieser Blog heißt intersex.hypothesis.org, die von mir besuchte Tagung trug den Titel „Männlich-weiblich-zwischen“. In den…
‘Nachwuchs’ oder seltsame Worte im Garten des Wissens
Warum der wissenschaftliche Nachwuchs wohl ‘Nachwuchs’ heißt? Darüber wird man sich doch einmal wundern dürfen. Und die Folgefragen ergeben sich dann wie von selbst. Im Gartenbau heißt das Schaffen von Nachwuchs seit dem 17. Jahrhundert “Anbau und Züchtung von Nutz- und Zierpflanzen auf meist kleineren Flächen”. Das allein beschreibt schon sehr gut, was in deutschen Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen vor sich geht, vor allem hinsichtlich der meist kleineren Flächen der Seminarräume. Man kann sich freilich fragen, wie sich die Gabelung zwischen “Nutz” und “Zierde” hinsichtlich der Nachkommen der Wissenschaft vollzieht. Besteht die Zierde in den Titeln? Sicherlich. Aber welcher Nutz wird hier angestrebt? Es liegt nahe, hier nur die Eigenzwecke der Wissenschaften als nützlich anzuerkennen. Man kann dazu an die illusionslosen Maximen von Max Webers Wissenschaft als Beruf denken, die wahrlich keinen Garten des Wissens, sondern eher harte Karrierekämpfe verheißen.
Wer mehr über den ‘Nachwuchs’ nachdenkt, stößt unweigerlich auf einen noch schillernden Begriff: das Seminar. Dies ist der Ort der gedeihlichen Entwicklung, ja nachgerade des Sprießens neuer Gedanken. Das etymologische Wörterbuch des Deutschen (nach Pfeifer, gottseidank online) hält hierzu fest:
Seminar n. ‘bestimmte Form einer Lehrveranstaltung, Hochschulinstitut, Arbeitsgemeinschaft für Studierende, Ausbildungsstätte (z. B. für Lehrer und Geistliche)’. Im 16. Jh. wird lat. sēminārium ‘Pflanzschule, Baumschule’, auch ‘Ort, wo man eine gewisse Vorbildung erhält, wo bestimmte Handlungen vorbereitet werden’, substantiviertes Neutrum des Adjektivs sēminārius ‘zum Samen gehörig’, abgeleitet von lat. sēmen ‘Same, Geschlecht, Nachkomme’ (s. Samen und vgl. lat. serere ‘säen, pflanzen, hervorbringen, zeugen’, s. säen), in deutschen Humanistenkreisen geläufig, steht für ‘(Internats)schule, Bildungsanstalt’, dann für die ‘mit einer Domkirche, einem Kloster oder Jesuitenkolleg verbundene Lateinschule’ (2. Hälfte 16. Jh.) und wird danach für Bildungsstätten und Lehrveranstaltungen verschiedener Art üblich.
Wer heute von wissenschaftlichem Nachwuchs spricht, ist also immer noch als humanistischer Gärtner oder Gärtnerin besonderer Art unterwegs. Das hat etwas angenehm Unzeitgemäßes und scheint einigermaßen resistent gegenüber technokratischen Anglizismen. Ein solch hortikulturelles Dispositiv der Wissenschaften bringt aber nicht nur schöne Wissensbäume, sondern auch unangenehme Rollenverteilungen mit sich. Denn wer aussähen und bewässern kann, ist hier immer schon durch ein hierarchisches, ja traditionales Moment vorgegeben. Das Verhältnis von Sprössling und Gärtnern scheint nicht darauf angelegt, dass die Pflanze größer als der Pfleger (oder Herrscher) der gezähmten Natur werden kann. Nötig scheint es also allemal eine Aufhebung dieser Trennung. Viel eher sollte doch die ältere Pflanze der jüngeren wesentliche Hinweise zur Nutzung des eigenen Chlorophylls geben, anstelle den Zugang zur Sonne zu verwehren.
Wenn das gab_log sich den Interessen und Sorgen des ‘Nachwuchses’ widmet, ist damit eine gemeinsame Arbeit in den Gärten des Wissens gemeint. Es geht also eher um hegende Pflege, als um einseitige Züchtung. Denn in der pflanzlichen Semantik von ‘Nachwuchs’ verbergen sich einige unangenehme Assoziationen: Wer möchte schon gerne entwurzelt oder gar abgeschnitten werden? In einem hochkompetitiven System (siehe auch die Diskussion auf dem Historikertag) mag der Nährboden für alle der gleiche sein, trotzdem wird um die Ressourcen des besten Beets konkurriert. Heißt dies nicht auch, dass die humanistische Metaphorik um eine evolutionstheoretische Perspektive zu ergänzen ist? Verhandeln wir also darum, wie die zukünftigen Gärten des Wissens bestellt werden sollen. Etwas mehr Wildwuchs kann dabei sicher nicht schaden.
Quelle: http://gab.hypotheses.org/309