Rotkäppchen und der böse Wolf? – Das Titelthema „Digitale Geisteswissenschaften“ in Humboldt Kosmos

Kenneth Whitley, „Once upon a time“, ca. 1939. Bildnachweis: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, http://www.loc.gov/pictures/item/98518274/ (public domain).

Kenneth Whitley, „Once upon a time“, ca. 1939. Bildnachweis: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, http://www.loc.gov/pictures/item/98518274/ (public domain).

Die Digitalen Geisteswissenschaften bleiben im Gespräch! Nach der großen Herrenhausen-Tagung der Volkswagen Stiftung im Dezember 2013, dem ausführlichen duz-Themenheft vom November 2013, das den schönen Titel „Digitale Geisteswissenschaften – Die Nerds unter den Denkern“ hatte, sowie der ersten Jahrestagung des Verbands der Digitalen Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum (DHd) in Passau mit über 350 TeilnehmerInnen, stehen die Digitalen Geisteswissenschaften nun erneut im Fokus der geisteswissenschaftlichen Öffentlichkeit: Im August diesen Jahres ist Humboldt Kosmos, das Magazin der Alexander von Humboldt Stiftung, mit dem Titelthema „Digital Humanities – Rotkäppchen 2.0“ erschienen (Heft 102/2014).

Das Titelthema wird im Kontext des Wissenschaftsjahrs 2014 präsentiert, das unter dem Motto „Die digitale Gesellschaft“ steht, und erscheint sowohl auf deutsch als auch auf englisch. Auch das Engagement der Humboldt-Stiftung in diesem Bereich, insbesondere mit der Einrichtung der hochdotierten Humboldt-Professur „Digital Humanities“ in Leipzig, die bekanntlich mit Gregory Crane besetzt wurde, dürfte eine Rolle bei der Wahl des Themas gespielt haben.

Der Beitrag der Wissenschaftsjournalistin Lilo Berg beleuchtet verschiedene Einsatzgebiete digitaler Daten und Methoden in den Geisteswissenschaften und zeigt überzeugend deren Nützlichkei für die Forschung auf, nicht ohne auch problematische Aspekte anzusprechen. Der Haupttext, in dem zahlreiche prominente deutsche VertreterInnen der digitalen Geisteswissenschaften sowie einige kritische Stimmen zu Wort kommen, wird flankiert von Kurzprofilen der Beitragenden, einer Übersicht zu relevanten Studienangeboten und Zentren, einer kurzen Geschichte der Digital Humanities sowie einer Liste von Zeitschriften, Verbänden und Projekten aus dem Bereich der Digitalen Geisteswissenschaften. Ohne Zweifel bringt ein solcher Beitrag dem Thema viel Aufmerksamkeit und man kann sich daher eigentlich nur darüber freuen! Zugleich stolpert man als selbst in den Digitalen Geisteswissenschaften engagierter Wissenschaftler doch über die eine oder andere Passage, die das Feld weniger überzeugend porträtiert.

Zunächst einmal wird aber der große Nutzen digitaler Daten und Methoden für genuin geisteswissenschaftliche Fragestellungen, die zudem auf breites Interesse stoßen, nicht nur an zahlreichen Beispielen aus der Forschungspraxis der für den Beitrag befragten ForscherInnen aufgezeigt, sondern eben auch an dem wunderbaren Beispiel, das dem Themenheft seinen Titel gibt: Rotkäppchen. Was für die Gebrüder Grimm mangels Daten und Methoden eine unerreichbare Herausforderung war, nämlich die Ergründung der weltweiten Verbreitung des Rotkäppchen-Themas und die Suche nach einem möglichen Ursprung der Erzählung, wird mit digitalen Daten und Methoden erstmals möglich. Der Beitrag berichtet von den Arbeiten des Anthropologen Jamshid Tehrani, der auf der Grundlage zahlreicher (allerdings bei weitem nicht aller) Fassungen von Rotkäppchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und unter Nutzung digitaler Methoden, unter anderem Algorithmen aus der Phylogenetik, zu verlässlichen und neuen Ergebnissen kommt: Er zeigt, dass die Frage nach einem gemeinsamen Ursprung schlecht gestellt ist, sondern dass es vielmehr drei große Familien des Themas gibt, wie sie in Asien, Afrika und Europa existieren. (Wer den Originalbeitrag von Tehrani lesen möchte, kann dies übrigens in der ausgezeichneten Zeitschrift PLOSone tun, wo der Beitrag im Open Access erschienen ist.)

So schön dieses und weitere Beispiel sind, so schade ist allerdings auch, dass der Artikel immer wieder etwas verkürzend oder unkritisch verfährt, sowohl wenn es um bestimmte Details der digitalen Forschungspraxis und -methoden geht, als auch insbesondere dann, wenn es um die Argumente der Kritiker der Digitalen Geisteswissenschaften geht. Ein erster Punkt betrifft das disziplinäre Profil der Digitalen Geisteswissenschaften. Es fällt zum Beispiel (insbesondere den Literaturwissenschaftlern unter uns) auf, dass die Linguistik und Archäologie als Pioniere der Digitalen Geisteswissenschaften genannt werden, dann weitere Disziplinen genannt, die Literaturwissenschaft aber an dieser Stelle überhaupt nicht erwähnt, sondern offenbar unter die Linguistik subsumiert wird. Im überwiegenden Teil des Beitrags geht es dann umgekehrt vor allem um literaturwissenschaftliche Gegenstände und Methoden, und die Literaturwissenschaften im weitesten Sinne sind – mit Gregory Crane, Martin Hose, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Jan-Christoph Meister, Claudine Moulin, und Gerhard Wolf – die bei weitem am Besten vertretene Disziplin im Beitrag. Zwar kommen Archäologie und Linguistik noch kurz zur Sprache, die zahlreichen Aktivitäten und Initiativen in anderen Bereichen der Digitalen Geisteswissenschaften in Deutschland – man denke insbesondere an die Geschichte, Kunstgeschichte oder Musikwissenschaft, bleiben leider unerwähnt. Das disziplinäre Profil der Digitalen Geisteswissenschaften ist viel breiter und viel interdisziplinärer, als es der Beitrag vermittelt.

Ziemlich befremdlich ist außerdem, dass ohne jegliche kritische Distanz die Digitalen Geisteswissenschaften für ein bestimmtes Übel der Gegenwart verantwortlich gemacht werden. Es mag ja sein, dass die Konzentrationsfähigkeit und sprachliche Sicherheit von Studierenden (zumindest aus Sicht der ProfessorInnen) unzureichend ist, und vielleicht stimmt es ja tatsächlich, dass diese beiden Kompetenzen bei Studienanfängern über die Jahre hinweg abnehmen. Die Digital Humanities, so wird im Beitrag Gerhard Wolf zitiert, verstärkten diesen Trend! Wenn es diesen Trend gibt (der Punkt ist durchaus umstritten), so ist dafür doch allenfalls die übergreifende Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens und der Medien insgesamt verantwortlich zu machen, nicht jedoch ein noch kleiner Teil des Wissenschaftsbetriebs, mit dem die allermeisten StudienanfängerInnen während ihrer Schulausbildung und Sozialisation bis dahin wohl kaum in Berührung gekommen sein dürften. Glücklicherweise ist das wirklich ein Randthema des Beitrags.

Wirklich ärgerlich wird es allerdings beim Thema Forschungsförderung. Hier übernimmt der Beitrag unkritisch die Strategie eines seiner Beiträger, etablierte und digitale Geisteswissenschaften gegeneinander auszuspielen. Einer der Kritiker der Digitalen Geisteswissenschaften, Gerhard Wolf, wird mit folgendem Hinweis zitiert: „Digitalprojekte verschlingen Ressourcen, die wir dringend für unser geisteswissenschaftliches Kerngeschäft bräuchten“. Dass die dann von Wolf genannten Kernaufgaben, „interpretatives Erforschen und Editieren“ selbstverständlich von den digitalen GeisteswissenschaftlerInnen praktiziert werden, bleibt unerwähnt. Auch sei die Langzeitverfügbarkeit digitaler Objekte “nicht gewährleistet” und die “Abhängigkeit von der Technik nehme besorgniserregend zu”. Hier bleibt die Tatsache unerwähnt, dass die Langzeitverfügbarkeit papierbasierter Editionen auch nicht an sich gewährleistet ist, sondern erst durch eine über Jahrhunderte gewachsene und institutionalisierte Bibliothekslandschaft möglich wird, mithin durch Infrastrukturen, von denen wir abhängig sind. Die Anstrengungen, um eine vergleichbar tragfähige und dauerhaft verlässliche digitale Infrastruktur für digitale Objekte zu schaffen (in der Tat nach wie vor eine Herausforderung!), in der Digitalisate sicher aufbewahrt, langfristig verfügbar und unter neuen Fragestellungen nutzbar sind, werden erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit und mit vergleichsweise geringen Mitteln betrieben. Niemand würde fordern, statt Bibliotheken doch lieber Forschung zu fördern, denn Bibliotheken sind unbestrittene Grundlage für Forschung. Ebenso verhält es sich mit der digitalen Infrastruktur: auch sie ist Grundlage (digitaler) Forschung und auch sie muss in vergleichbarer Weise wie die analoge Forschungsinfrastruktur institutionalisiert und dauerhaft gefördert werden. Vor allem aber: Alle GeisteswissenschaftlerInnen sollten an einem Strang ziehen, um ihre wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung sichtbar zu machen und mit ihren (auch, aber nicht nur finanziellen) Bedürfnissen bei Politik und Forschungsförderern gehört zu werden!

Was bleibt als Fazit? Einen Blogpost über einen wissenschaftsjournalistischen Beitrag schreibt man nicht, um seine Stärken zu loben. Daher lag hier der Schwerpunkt auf einigen Aspekten des Beitrags, die aus Sicht der Digitalen Geisteswissenschaften eher kritisch zu sehen sind. Es bleibt zu hoffen, dass sich die sicherlich zahlreichen GeisteswissenschaftlerInnen, die den Beitrag lesen werden, in der Lage sind, die Verkürzungen des Beitrags zu erkennen und ihnen vor allem die wunderbaren Anwendungsbeispiele im Gedächtnis bleiben, die zeigen, wie vielfältige neue Erkenntnisse und neue Fragestellungen durch digitale Daten und Methoden möglich werden!

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3953

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