Ein Recht auf Fürsorge? Konflikte zwischen Bürgern und Staat in den 1950er Jahren

 

von Helge Jonas Pösche

Im Jahr 1957 klagte eine Frau vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Streichung ihrer Fürsorgeunterstützung durch das Sozialamt. Die Verwaltung begründete die Maßnahme mit der Weigerung der Frau, die 1954 als DDR-Flüchtling nach West-Berlin gekommen war, zur Arbeitssuche ins wirtschaftlich prosperierende Westdeutschland überzusiedeln. Dieses „unwirtschaftliche“ Verhalten zeuge von „Arbeitsscheu“. Überdies bestreite die Klägerin auch nach der Streichung der Fürsorgeunterstützung noch ihren Lebensunterhalt – dem Anschein nach mit Hilfe ihres Vermieters, worin ein „eheähnliches Verhältnis“ vermutet wurde. Der Rechtsanwalt der Klägerin verwies dagegen auf einen

„Anspruch auf Mindestunterstützung, der jedem zustehe […]. Dieser Rechtsanspruch könne auch nicht dadurch hinfällig werden, daß durch mitleidige Dritte oder durch öffentliche Hilfsquellen Unterstützung in der Zwischenzeit gewährt worden sei. Es widerspreche dem Rechtsempfinden eines Rechtsstaates, Hilfsbedürftigkeit in einem solchen Fall zu verneinen.

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Quelle: https://gafprojekt.hypotheses.org/1007

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Ken Burns und Dokumentarfilme 

Ken Burns ist Künstler, kein professioneller Historiker. Aber gerade deswegen bringt er eine neue Perspektive in die Geschichte. In David Thelens Interview mit Ken Burns1 erklärt dieser, was seine Dokumentarfilme von akademischen Geschichtserzählungen unterscheidet und auch, warum sie bei vielen Zuschauern so beliebt und berühmt sind. Er diskutiert auch, was die notwendigen Schritte sind, um einen guten Dokumentarfilm machen zu können. Laut Burns soll ein Film das Publikum mit einbeziehen und nicht zu ihm predigen. Die Geschichte und das Filmemachen sollen als eine Zusammenarbeit gesehen werden, um die Vielfalt der Geschichte besser darzustellen.

Burns äußert gleich zu Beginn des Interviews harsche Kritik an akademischen Historikern. Seiner Meinung nach wird die moderne Geschichte nur für andere Akademiker geschrieben und nur mit dem Zweck, andere Historiker zu überzeugen. Die Themen sind immer spezifischer geworden und immer entfernter davon, wie man die Vergangenheit im täglichen Leben erfährt.

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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/412

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Ungleichheit messen – der Gini Koeffizient.

Im Kontext des Themas Sozialstaat liegt eine Betrachtung des Gini-Koeffizienten nicht sonderlich fern. Regierungen arbeiten, Mathematiker rechnen und Banken kalkulieren mit ihm – ein Koeffizient, der sich einen Namen in der Welt gemacht hat und zugleich den Namen seines Erfinders trägt. Corrado Gini (geboren am 23. Mai 1884 und gestorben am 13. März 1965 in Italien) legte eine steile Karriere als Statistiker und Soziologe hin. Bereits im Alter von 26 Jahren war er Universitätsprofessor, er veröffentlichte im Laufe seines Lebens zahlreiche Forschungen.[1] Auf das Leben und das Werk Ginis soll hier allerdings nicht näher eingegangen werden. Ebenso wenig wird hier dessen Nähe zum italienischen Faschismus untersucht. Unser Interesse gilt an dieser Stelle lediglich der Erfindung des Koeffizienten.



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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/453

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Die Proto-Zivilgesellschaft

In den sozialistischen Staaten Polens und der Tschechoslowakei gab es zivilgesellschaftliche Strukturen, die von der klassischen Definition von Zivilgesellschaft nicht erfasst werden. Marek Skovajsa plädierte 2008 im Taiwan Journal of Democracy dafür, von dieser westlich geprägten Definition Abstand zu nehmen und Zivilgesellschaft deutlich breiter zu fassen. Seine Idee einer sogenannten Proto-Zivilgesellschaft hilft bei der Analyse von organisationalen Kontinuitäten und schafft zudem eine Brücke zwischen Staatssozialismus und demokratischer Transition in Ostmitteleuropa.

 

In seinem Aufsatz Independent and Broader Civil Society in East-Central European Democratizations unterscheidet Marek Skovajsa zwischen einer unabhängigen Zivilgesellschaft und einer breiteren Zivilgesellschaft. Sobald es um den Staatssozialismus geht, ist die breitere Zivilgesellschaft laut Skovajsa die wichtigere Größe. Da Gewerkschaften und Massenorganisationen sehr stark parteistaatlich durchdrungen waren, kann Zivilgesellschaft hier nicht mehr nur als eine unabhängige Sphäre zwischen Staat, Familie und Markt definiert werden. Vielmehr müsste berücksichtigt werden, dass viele Organisationen institutionelle Vorgänger vor dem Sozialismus hatten und bis heute institutionelle Erben haben.



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Quelle: http://sozorgan.hypotheses.org/297

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Kein Akteur zwischen den Extremen

Das Rote Kreuz war im sozialistischen Staat mehr als nur eine intermediäre Organisation, die zwischen Staat und Gesellschaft stand. Vielmehr war sie auch selbst Teil beider Extreme, eine Organisation mit sowohl staatlichen, als auch nicht-staatlichen Eigenschaften. Bei der Betrachtung von Dokumentationspraktiken wird dies besonders deutlich.

 

Das ČSČK war im Sozialismus ein wichtiger Akteur im Gesundheits- und Sozialwesen. Als solcher sammelte es umfangreiche Informationen über die organisationale Entwicklung, die es anschließend in Tabellen und Tätigkeitsberichten dokumentierte. Der Zentralausschuss des ČSČK in Prag (ÚV ČSČK) fungierte hierbei entweder als registrierende Behörde, wie z.B. bei der Registrierung von Blutspendern, oder als dokumentierende Behörde.

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Quelle: https://sozorgan.hypotheses.org/290

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Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung

Hilf uns, Esping-Andersen!

von Paul Morawski

Im Forschungsfeld Sozialpolitik droht fast dauerhaft die Gefahr, sich ob seines schieren Umfangs, seiner Verzweigungen und seiner Querverbindungen geradezu zu verirren. Aus diesem Grund sind Orientierungshilfen äußerst hilfreich und letztlich auch dringend notwendig.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in einer Nachbardisziplin der Geschichtswissenschaften, in den Politikwissenschaften, besonders ein Wegweiser etabliert: die Wohlfahrtsstaatstypologie nach Esping-Andersen. Sie ist das vielleicht prominenteste Analysewerkzeug der sogenannten Vergleichenden Wohlfahrtstaatsforschung – Anwendung findet sie aber auch über die Disziplinengrenzen hinweg, etwa in den Geschichtswissenschaften. Grund genug, sich in diesem Blogbeitrag einmal näher mit ihr auseinanderzusetzen.

Bevor jedoch auf die genannte Typologie direkt eingegangen wird, soll zuerst das Feld der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung kurz ausgeleuchtet werden.

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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/422

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Selbstorganisation – ein unscharfer Begriff?

Der Begriff Selbstorganisation stammt aus den Naturwissenschaften, geprägt 1959 vom Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster, der einer spontanen Entstehung und Ausdifferenzierung von Ordnung innerhalb von Systemen auf den Grund ging. Eine Theorie der sich selbst organisierenden Systeme im sozialwissenschaftlichen Sinne gibt es nicht. Dennoch hat sich der Begriff inzwischen in Soziologie, Sozialpsychologie, Pädagogik oder beispielsweise der Organisationsentwicklung etabliert (Bolbrügge 1997:11).

Auch wenn der Begriff Selbstorganisation aufgrund der verschiedenen wissenschaftlichen Konzepte  unscharf bleibt, bietet er für den Vergleich von PCK und ČSČK im Sozialismus einige Vorteile.

 

Selbstorganisation ist zunächst eine Kategorie, die eine dichotome Unterscheidung von Selbst- und Fremdorganisation suggeriert. Darüber hinaus erklärt der Begriff aber auch Phänomene spontaner Ordnung. In der Biochemie zeigt beispielsweise die sogenannte Belousov-Zhabotinsky-Reaktion, das „spontane Entstehen von Strukturen“ und das „spontane Entstehen von unterscheidbaren Zuständen“.

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Quelle: http://sozorgan.hypotheses.org/280

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Expert(is)e gefragt – Was beim ExpertInneninterview beachtet werden sollte

von Juliane Hoheisel

Interviews mit ExpertInnen begegnen uns in fast jedem Dokumentarfilm. Auch in unserem Seminar sind wir schon mit ihnen in Berührung gekommen. So haben wir den Einsatz von ExpertInneninterviews in der Dokumentation The Civil War (Referat von Seth Bargo) und mehreren ZDF History-Dokumentationen (Referat von Max Stroux und Leon Bollinger) diskutiert. Sicherlich werden wir auch bei der Planung unseres Dokumentarfilms über die Geschichte der Sozialpolitik Deutschlands entscheiden müssen, ob wir ExpertInneninterviews führen und in den Film integrieren möchten. Einige Studierende aus unserem Seminar haben bereits im Rahmen der Tagung „Herausforderung Europa: Arbeit, Migration und Alterssicherung in Wissenschaft und Praxis“, die am 01./02.12.2016 in Berlin stattfand, erste Gespräche mit ExpertInnen geführt. Ausschnitte dieser Interviews werden bald auf unserem Blog zu sehen sein.

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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/366

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Boom und Krise – Neunte Sitzung am 12.12.16

Schnellen Schrittes nähern wir uns dem Ende unserer Reise durch die Geschichte der deutschen Sozialpolitik. In unserer letzten Sitzung vor der Weihnachtspause ließen wir das zerrüttete Nachkriegsdeutschland hinter uns, machten einen Satz über Wiederaufbau, Teilung und Wirtschaftswunder hinweg und hielten an bei der nächsten großen Herausforderung für den Sozialstaat nach Kriegsende: der Krise der 70er-Jahre mit Zerfall des internationalen Währungssystems und Ölpreis-Schock, mit Industriekrise, Staatsschulden und Konsolidierung von Sockelarbeitslosigkeit.

Benita Stalmann brachte uns zum Einstieg mit einer Vorstellung der Monografie „Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970“[1] von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael die Strukturbruchthese der beiden Autoren näher, die in den 70er-Jahren einen Umbruch der Industriegesellschaft verorten. Anders als wir in unseren bisherigen Überlegungen und auch gegenläufig zur klassischen Dekadisierung setzen Raphael und Doering-Manteuffel hier allerdings keine Zäsur, sondern betrachten den „Strukturbruch“ als ein Nebeneinander von Prozessen und Problemlagen, die sich von der Mitte der 60er-Jahre bis ins Jahr 2000 erstrecken.

Anhand eines Aufsatzes[2] von Winfried Süß stellten wir uns der Frage, inwieweit die Krise(n) der 70er-Jahre auch in der Sozialpolitik Wandel hervorgerufen hat. Süß erhebt diesbezüglich die These, dass in diesem Bereich Kontinuitäten überwögen. Er erläutert dies anhand seiner Argumentationsstruktur, indem er zunächst den Kontext des „Booms“ und die darauffolgenden Krisen darstellt, um dann aufzuzeigen, wie sich die Präsenz des Wandels auf der Diskursebene (hoch) und in der sozialpolitischen Praxis (niedrig) unterschied und wie diese Inkongruenz entstand.

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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/351

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Personalisierung und Personifizierung: Zwei Erzählmuster

Ins unseren Debatten fielen, bisher vor allem in Bezug auf die Sozialgesetzgebung im Kaiserreich, immer wieder die Begriffe „Personifizierung“ und „Personalisierung“. Beide wurden dabei und werden oft synonym verwendet. In der Didaktik jedoch bezeichnen die Begriffe zwei unterschiedliche Darstellungsweisen von Geschichte, die sich auch in Dokumentarfilmen wiederfinden lassen.

Personalisierung beschreibt die mit dem Historismus verbundene Darstellung von Geschichte an „großen“ Persönlichkeiten – besonders bekannt ist in diesem Zusammenhang ein Zitat des umstrittenen Historikers Heinrich von Treitschke (1834-1896), der behauptete, es seien „Personen, Männer (…), welche die Geschichte machen. Männer wie Luther, wie Friedrich der Große und Bismarck.“[1] Hier wird Geschichte also an Akteur(_inn)en einer Epoche erzählt, sie vereinen in ihrer Person, in ihrem Handeln die Essenz ihrer Zeit.

Obwohl mit der Abkehr der Geschichtswissenschaft vom Historismus in den 1970er Jahren auch die Geschichtsvermittlung sich vermehrt den, die Handlungen der Akteure (mit-)bestimmenden, Strukturen zuwandte, herrscht in den Alltagsvorstellungen vieler Menschen bis heute zumeist ein personalisiertes Geschichtsbild vor. Es vereinfacht den Zugang, Geschichte wird „überschaubar, konkret und anschaulich“, wie der Didaktiker Michael Sauer meint: „[Diese Art von Geschichtsvermittlung] lässt sich als klare Handlungsabfolge erzählen.

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Quelle: http://gafprojekt.hypotheses.org/293

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