Zur Aktenkunde des Wannsee-Protokolls (1)

Es ist das berüchtigtste Aktenstück der Geschichte. Niemand von klarem Verstand bestreitet seine Echtheit. Aber um seinen genauen Ort in der Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden debattiert die seriöse Wissenschaft noch. Andererseits hat die aktenkundliche Untersuchung von Dokumenten des Holocausts im vergangenen Jahr einen mächtigen Schub durch die Online-Tutorien der ERHI erhalten. Wie man sich diesem Stück aktenkundlich nähern kann, möchte ich in einer dreiteiligen Serie demonstrieren.

Das Ziel

Warum eine aktenkundliche Beschäftigung mit dem Wannsee-Protokoll? Wenige Einzeldokumente wurden in der Geschichtswissenschaft so intensiv erforscht. Und es ist mehr als eine Geschichtsquelle:

  • Es ein Sinnbild, das in der maximalen Verdichtung eines Satzes das Mordprogramm enthält.

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Quelle: https://aktenkunde.hypotheses.org/818

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Schreiben und abschreiben – Gedanken über einen besonderen Lutherbrief

Ein Gastbeitrag von Karsten Uhde (Marburg)

Im Lutherjahr haben Lutherbriefe Konjunktur. Das Erfurter Augustinerkloster bietet die Faksimiles zweier „Trostbriefe“ Luthers samt Transkription für erschwingliche zwei Euro zum Kauf und im Februar 2017 wurde ein Lutherbrief bei einer Auktion für 100 000 Euro angeboten.

Allerorten werden Ausstellungen mit Originalschreiben des Reformators gezeigt und kaum eine Archivzeitschrift kommt ohne einen Artikel über Archivalien mit Lutherbezug aus1.

Warum also eine weitere Abhandlung über Luther, noch dazu über eine Abschrift eines Lutherbriefes und nicht über dessen Original, das im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden liegt?

Der Grund liegt einerseits in dem ungewöhnlichen Stil des Stückes, der sich deutlich vom damals Üblichen abhebt, andererseits aber auch in der vergleichsweise umfangreichen Editionsgeschichte, die ein eigenes Kapitel zum Thema „Abschreiben“ beitragen kann.

 



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Quelle: https://aktenkunde.hypotheses.org/726

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde V: Stand und Desiderate (Schluss der Serie)

Der letzte Teil der Serie hat auf sich warten lassen. Es fällt schwer, bereits zu historisieren, was nun zu besprechen bleibt. Dieser Teil ist auch ein Ausblick, wohin die Reise gehen kann.

Michael Hochedlinger: Höhe- und Endpunkt der Klassik

Ist Preußen wegen der legendären Vorzüge seiner Aktenführung das prädestinierte Referenzmodell der Aktenkunde oder wurde das Fach einfach nur maßgeblich von preußischen Archivaren geprägt?

Ein umfassende außerpreußische Aktenkunde blieb jedenfalls lange ein Desiderat. Michael Hochedlinger (* 1967), Archivar am Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, hat diese Lücke für den gigantischen Behördenapparat der Habsburger-Monarchie geschlossen. Damit hat er auch eine bessere Referenz für die Zentralbehörden des Alten Reichs und die süddeutschen Territorien geschaffen als es Meisners Werke waren.

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/496

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde IV: Marburger Schule

Meisner hinterließ ein sichtbares und darum weit rezipiertes Werk. Dagegen wirkten Dülfer und Papritz nach innen, in die Ausbildung der westdeutschen Archivare an der Marburger Archivschule. Veröffentlichte Forschungen sind daraus in vier Jahrzehnten kaum entstanden. Im Stillen vollzog sich eine Kanonisierung des Fachs im Hinblick auf die praktische Anwendung im Archiv.

Kanonisierung: Von Korn bis Kloosterhuis

Das Symbol dieser Ausformung ist das “Kornsche Gatter“, benannt nach dem Dozenten Hans-Enno Korn (1934-1985). Korn hatte 1973 in einer wichtigen Miszelle den Unterschied zwischen den Systematiken Meisners und Dülfers an einem konkreten Beispiel auf den Punkt gebracht. Sein “Gatter” geht von der Überlegung aus, das Schreiben nach beiden Lehren jeweils durch eine Kombination von zwei Merkmalen systematisch bestimmt werden (Rang/Funktion einerseits, Stil andererseits). Im “Gatter” ordnete Korn die möglichen Kombinationen zu einer tabellarischen Matrix und schuf so Durchblick im Dickicht der Stilformen.

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/398

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde III: Meisners Kritiker

Meisners in sich geschlossenes Lehrgebäude forderte in seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit die Kritik heraus. Solche Kritik wurde in den 1950er-Jahren unter zwei Aspekten geübt: Systemimmanent durch eine funktionale Betrachtung von Akten und mit einem radikal anderen Ansatz, der von den Strukturen der Überlieferung im Archiv ausgeht.

Beide Ansätze entstanden an der Archivschule Marburg, der 1949 gegründeten Ausbildungsstätte für den Archivdienst in der Bundesrepublik. Vom innerdeutschen Systemkonflikt blieb der aktenkundliche Disput mit Meisner in Ost-Berlin zum Glück verschont. Auch im Westen behielten Meisners Werke ihre Stellung als zentrale Referenz – schon weil die Marburger Schule, wenn man sie so nennen mag, keine eigenen Lehrbücher hervorbrachte.

Kurt Dülfer: Form follows function

Der Archivrat am Staatsarchiv Marburg Kurt Dülfer (1908–1973) lehrte in den 1950er-Jahren Aktenkunde an der Archivschule und an der Philipps-Universität. Er hatte schon 1951 in einer Rezension Meisners Fixierung auf Preußen im Ancien Régime und auf den Rechtscharakter von Urkunden und Akten kritisiert.

In seinem großen Aufsatz ging Dülfer (1957) nicht wie Meisner von der Sphäre der Fürstenkorrespondenz aus, sondern vom normalen Schriftgut der inneren Verwaltung, und löste Meisners statische Systematik in einer fließenden historischen Entwicklung der Aktenformen auf:

“‘Urkunde’ und ‘Acta’ […] entstammen der Gerichtssphäre und erhielten erst nachträglich die allgemeine Bedeutung des Begriffes, den wir ihnen heute beilegen.” (Dülfer 1957: 21)

Die Begriffsgeschichte zeigt für die Zeit zwischen 1500 und 1700 die Durchsetzung der Aktenführung im modernen Sinne an (Dülfer 1957: 19, 23–25). Von einem an den Formen festzumachenden scharfen Gegensatz zwischen Urkunden und Aktenstücken kann keine Rede sein, auch weil sich das moderne Schreiben aus dem mittelalterlichen Mandat entwickelt hat und in der jüngsten Zeit einfache Schreiben vielfach die Rolle von Urkunden übernommen haben (Dülfer 1957: 35–37).

Dülfer ersetzte die Form als Kriterium zur systematischen Bestimmung eines Aktenstücks durch die Funktion, ein im Grunde inhaltliches Kriterium: Was beabsichtigte der Verfasser eines Schriftstücks im Verhältnis zum Empfänger?

“Eine Abschrift einer Urkunde, die zur Kenntnis und Erinnerung bestimmter Fragen hergestellt wird, hat ihre Bedeutung nicht als Urkunde, sondern als ein Schriftstück der Erinnerung. […] Eine Denkschrift kann zur Vorlage in der Öffentlichkeit oder bei wenigen Personen oder zum Zweck der eigenen Klärung bestimmt sein. Je nach dieser Funktion richtet sich ihre Einordnung in eine bestimmte Gruppe. Mit jedem Schriftstück verfolgt sein Aussteller einen bestimmten Zweck, er überträgt ihm eine Funktion. Damit tritt neben das Formprinzip die Erkenntnis von Zweck und Absicht eines Schriftstückes.” (Dülfer 1957: 27 f.)

Auf dieser Grundlage kam Dülfer (1957: 49–52) zu einer Einteilung des Behördenschriftguts, die auf auf der Beziehung der Korrespondenten aufbaute. Er unterschied

  • Verkehrsschriftstücke an einen Empfänger, und zwar

    • offene Schreiben an einen unbestimmten Kreis und
    • geschlossene Schreiben an bestimmte Personen, sowie
  • Memorienschreibwerk zur Aufzeichnung von Informationen für den Verfasser selbst.

“Offen” und “geschlossen” hat also nichts mit dem physischen Verschluss eines Schreibens zu tun, sondern meint den “Publizitätswillen” des Verfassers!

Dieses System erschien Dülfer (1957: 53) flexibel genug, um darunter neben Urkunden und anderen Schriftstücken auch Karten und Amtsbücher subsumieren. In Kenntnis der weiter unten zu schildernden Amtsbuchdebatte wird man ihm in diesem Punkt nicht mehr folgen wollen.

Dülfer bezog die möglichen Funktionalitäten des Schriftverkehrs auf das Modell einer hierarchischen Behörde: Bericht an den Vorgesetzten, Weisung an den Untergebenen, Mitteilung auf gleicher Ebene. Man mag sich also fragen, wo in der Praxis der Unterschied zu Meisners hierarchischer Klassifikation liegt. Man muss sich aber auch darin erinnern, dass die systematische Bestimmung ein Schriftstück nicht nur einsortieren, sondern auch Erkenntnisse liefern sollte.

Wenn Form und Funktion eines Stücks auseinander fallen, ob eine “Urkunde in Form eines Schreibens” oder aber ein Schreiben in “Funktion einer Urkunde” (Dülfer 1957: 28) vorliegt: Daraus lassen sich daraus Schlüsse über die Absicht und die Gewohnheiten des Verfassers ziehen. Wer das für Erbsenzählerei hält, sollte die Fallstudien zum Verhältnis von Kabinettsorder und Handschreiben von Korn (1973) und Moormann (1980) lesen.

Johannes Papritz: Was hat man sich dabei nur gedacht?

Archivare mag es verblüffen, den Namen Johannes Papritz (1898–1992) an dieser Stelle zu lesen. Der Meister der Strukturanalyse hat sich auch mit noch eher konventioneller Aktenkunde befasst. Papritz war seit 1954 in Personalunion Direktor des Staatsarchivs Marburg und der Archivschule und lehrte dort das Fach Archivwissenschaft, das er im Grunde selbst begründet hat.

Papritz (1959) führte Dülfers Frage nach der Funktion einen wichtigen Schritt weiter. Das Absender-Empfänger-Verhältnis setzt natürlich einen Empfänger voraus. Was aber, wenn es keinen gab? Wie schon Meisner hatte sich Dülfer auf den externen Schriftverkehr konzentriert und die große Masse der für die eigenen Akten bestimmten Aufzeichnungen an den Rand gerückt. Papritz ging von der einfachen Tatsache aus, dass Institutionen nicht alle ihre Handlungen verschriftlichen – eine unangenehme Wahrheit, die Archivbenutzer gern verdrängen.

Die Behörde braucht ein Motiv, um Zeit und Geld in die Aktenführung zu investieren. Die Mitteilung an Entfernte, unter deren Stern die Meisnersche Systematik steht, ist nur ein Motiv unter anderen. Informationen können ebenso als Gedächtnisstütze, zur Festlegung der eigenen Meinung, zur Wahrung von Interessen, zur Wirtschaftsführung und zur Ordnung des Geschäftsbetriebs schriftlich niedergelegt werden. Die Urkunde und ihr Rechtscharakter sind kein Wert an sich, sondern, wie auch das Amtsbuch, nur Ausprägungen des Motivs der Rechtssicherung (Papritz 1957: 341–343).

Das ist klar und einsichtig, wird aber bei Papritz von einer Absicht getragen, die auf die schiefe Bahn führt: Behördenschriftgut wird als reine Dokumentation betrachtet, als Sammlung von Informationsträgern. Dass die Schriftstücke Arbeitswerkzeuge der Verwaltung waren und aus kontinuierlichen Handlungen entstanden sind, kann so aus dem Blick geraten.

Nach Papritz (1957: 340) entspringt der Entwurf zu einem externen Schreiben, der bei den eigenen Akten verbleibt, nicht dem Motiv der Mitteilung an Entfernte, sondern dient als Gedächtnisstütze. Das ist logisch unanfechtbar, bringt einer Historischen Hilfswissenschaft aber keinen Erkenntnisgewinn. Meisner sieht in einem solchen Entwurf selbstverständlich die Entstehungsstufe eines Mitteilungsschreibens und hätte es niemals anders bestimmt.

Auf die systematische Klassifikation kam es Papritz (1957: 348) aber auch nicht an:

“Die ordnende Betrachtung der Motive, denen das in den Archiven bewahrte Schriftgut seine Entstehung verdankt, mag ihren Wert in sich tragen, geradezu entscheidende Bedeutung aber hat eine solche begriffliche Klärung, wenn man die Organisationsformen der Schriftgutkörper erforschen will.”

Damit ist die Naht zwischen der Aktenkunde als Historischer Hilfswissenschaft und der Archivwissenschaft erreicht: Die eine rekonstruiert aus der Entstehung von Schriftstücken Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten, die andere analysiert, unter anderem, die Strukturen, in denen die heutige archivalische Überlieferung vorliegt.

Ernst Pitz: Begründung der Amtsbuchkunde

Ernst Pitz (1928–2009) absolvierte die Archivschule unter Papritz’ Ägide und war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner stark erweiterten Dissertation am Staatsarchiv Wolfenbüttel tätig. Pitz (1959: 446–480) stellt mustergültig dar, wie nacheinander

  • die Ausbildung der städtischen Ratsverfassung Motive zur Verschriftlichung in Form von Bucheinträgen schafft,
  • aus einer ursprünglichen Buchreihe durch Serienspaltung inhaltlich spezialisierte Bücher werden,
  • unter dem Rat nachgeordnete Ämter mit eigener Buchführung entstehen,
  • schließlich eine Aktenführung auf Einzelblättern die gebundenen Bücher ergänzt.

Ohne die 1953 eingereichte Manuskript-Fassung zu kennen, die sich auf Lübeck als Gegenstand beschränkte, darf man unterstellen, dass Papritz’ auf die Erkenntnis von Strukturen ausgerichtete Lehre in der Archivwissenschaft die endgültige Fassung beeinflusst hat. Pitz (1957: 466) versteht sein Handwerk als Aktenkunde, doch in radikaler Umwertung:

“Das erste Ziel der Aktenkunde, den in den Akten aufbewahrten Bestand der Akten aus sich zu erklären, ist damit erreicht.”

Das ist, gelinde gesagt, strittig. Pitz’ vorrangiges Interesse galt dem Papier als Endprodukt von Handlungen. Wie Papritz setzte er sich von der traditionellen genetischen Betrachtung der Entstehung von Schriftstücken ab:

“Die Konzepte namentlich nehmen unsere Aufmerksamkeit nicht als Vorstufen der Ausfertigungen in Anspruch, sondern nur als Schriftstücke, die von einer vollzogenen Amtshandlung Kunde geben, und das gleiche gilt für alle Urkunden.” (Pitz 1959: 29)

Hier begegnet auch wieder die Unterscheidung von Akten und Urkunden, doch ebenfalls in einer neuen, inhaltlichen Definition:

“Wendet man mit Meisner die Prinzipien der Urkundenlehre auf die Akten an (indem man von dem einzelnen Schriftstück ausgeht), so gelangt man zu einem systematischen Gebäude; legt man den Unterschied zwischen Urkunden und Akten, daß jene als Einzelstücke für sich verständlich sind, diese dagegen nur in Zusammenhängen […], zugrunde, so gelangt man zu einem die Entwicklung der Aktenbestände erfassenden Gebäude.” (Pitz 1959: 26)

Ein Stück weit muss Meisner hier als Pappkamerad dienen, auf den eingedroschen wird. Pitz Untersuchungsgegenstand ist ebenso speziell wie Meisners Brandenburg-Preußen: spätmittelalterliche städtische Amtsbücher, und er verallgemeinert seine Ergebnisse ebenfalls zu schnell. Dass man mit Meisners Instrumentarium keine Amtsbücher untersuchen kann, zwingt nicht dazu, diese Methodologie insgesamt zu verwerfen.

Pitz hat nicht die Aktenkunde revolutioniert, sondern als Sondergebiet die Amtsbuchkunde begründet, die eng mit der Kodikologie zusammenhängt. Die physische Struktur des Buchs erzwingt und ermöglicht andere Techniken der Verschriftlichung, die Küchhilfswissenschaftlich nicht mit Aktenführung aus Einzelschriftstücken über einen Kamm geschoren werden dürfen.

Die Amtsbuchkunde hat mittlerweile eine eigene Forschungsliteratur hervorgebrachte (Pätzold 1998, Kloosterhuis 2004). Der kodikologische Aspekt der Arbeit mit diesen Büchern wurde unübertroffen plastisch von Quirin (1991: 83-103) dargestellt.

Ahasver von Brandt: Stumpfes Werkzeug

Warum hat diese ergiebige Diskussion, Meisners Repliken eingeschlossen, außerhalb eines kleinen Kreises von Archivaren eigentlich so wenig Widerhall gefunden?

Ahasver von Brandt (1909-1977), Stadtarchivar von Lübeck, aber kein Absolvent der preußischen Archivarsausbildung, überging in seinem “Werkzeug des Historikers”, das bekanntlich Generationen von Studenten geprägt hat, Meisners Lehre bis auf ihren untauglichen Teil, die Unterscheidung von Akten und Urkunden nach dem Rechtscharakter. Es ist abstrus, “jede[n] politische[n] Beschluss” zum “Rechtsgeschäft” zu erklären, “in einem weiten Sinne”, um weiter einen unreflektierten Urkundenbegriff anwenden zu können (von Brandt 1963: 127).

Er ordnet die Amtsbücher einfach den Akten zu und verwendet den meisten Platz für ein Propädeutikum der Archivrecherche. Was tiefgreifend rezipiert wurde, war Papritz’ archivwissenschaftliche Strukturlehre. Wie so ein Aktenstück eigentlich aussieht, aus welchen Teilen es sich zusammensetzt, selbst in welchen Stufen es nach Küch entsteht, verrät von Brandt (1963: 125–139) seinen Lesern in den Proseminaren nicht. War ihm die neuzeitliche Hilfswissenschaft eine lästige Verpflichtung zur linken Hand?

So verbirgt seit über 50 Jahren das “Werkzeug des Historikers” den Gegenstand und die Methoden der Aktenkunde mehr als es darin einführt.

Literatur

Außer den mit * gekennzeichneten werden alle Titel auch in der Basisbibliografie zur Aktenkunde nachgewiesen.

*Brandt, Ahasver v. 1963. Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 3. Aufl. Stuttgart. [Ursprünglich 1958]

*Dülfer, Kurt 1951. [Rezension zu] Heinrich Otto Meisner, Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. In: Der Archivar 4. Sp. 41–45. #Online?

Dülfer, Kurt 1957. Urkunden, Akten und Schreiben in Mittelalter und Neuzeit. Studien zum Formproblem. In: Archivalische Zeitschrift 53. S. 11–53.

Kloosterhuis, Jürgen 2004. Mittelalterliche Amtsbücher: Strukturen und Materien. In: Friedrich Beck/Eckart Henning, Hg. 2004. Die archivalischen Quellen. 4. Aufl. Köln u. a. S.53–73.

Korn, Hans-Enno 1972. Kabinettsordres: Ein Kapitel Aktenkunde. In: Der Archivar 26. Sp. 225–332.
Online

Moormann, Wolf-Dieter 1980. Braunschweigische Kabinettsorders. In: Archivalische Zeitschrift 76. S. 57–68.

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Comitè des Mélanges Braibant, Hg. 1959. Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–348.

Pätzold, Stefan 1998. Amtsbücher des Mittelalters: Überlegungen zum Stand ihrer Erforschung. In: Archivalische Zeitschrift. 81. S. 87–111.

Pitz, Ernst 1959. Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter: Köln, Nürnberg, Lübeck. Beitrag zur vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde. Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln  45. Köln.

*Quirin, Heinz 1991. Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte. 4. Aufl. Ndr. Stuttgart. [Ursprünglich 1950]

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/344

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde II: Heinrich Otto Meisner

Meisner ist der Urvater der Aktenkunde. In der Mitte der Forschungslandschaft steht sein Werk wie ein Monolith: staunenswert, perfekt,unumgänglich, aber auch unnahbar und isoliert. Der Meister selbst ist daran gescheitert, sein ursprüngliches Werk zu erweitern.

 Heinrich Otto Meisner (1890-1976) wurde im Studium stark von Michael Tangl geprägt. Er trat 1913 in den preußischen Archivdienst ein und leitete in den 1920er-Jahren das dem Geheimen Staatsarchiv angegliederte Hausarchiv des Hauses Brandenburg in Berlin-Charlottenburg. Gleichzeitig lehrte er in der Ausbildung der preußischen Archivreferendare. Als einer von wenigen Archivaren konnte er nach dem Zweiten Weltkrieg im Archivwesen der DDR reüssieren und nahm als Professor für Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität eine zentrale Stellung in der Ausbildung der ersten ostdeutschen Archivarsgenerationen ein. “Scharfe Begriffsbildungen und die ausgeprägte Fähigkeit zu Systematisierungen bildeten wichtige Elemente seiner Lehrveranstaltungen” (Brachmann 1999: 614).

Auf Meisner (1935) folgten zwei selbständige Neubearbeitungen, die die ursprüngliche Lehre in größere Zusammenhänge einzubetten versuchten und nebeneinander benutzt werden müssen (Henning 1999: 113). Die Methodik ist am stringentesten in Meisner (1935) durchgeführt, am verständlichsten erläutert aber in Meisner (1969).

Aktenkunde (1935)

Meisners erste Aktenkunde richtete sich als Handbuch ausdrücklich an Archivbenutzer, verstand ihren Inhalt also als Hilfswissenschaft der historischen Forschung. Entstanden war sie gleichwohl aus der Archivpraxis und der Referandarsausbildung. Den Stoff bezog Meisner vor allem aus seiner Zeit am Hausarchiv. Die Darstellung konzentriert sich auf des 17./18. Jh. und schenkt der Fürstenkorrespondenz besondere Aufmerksamkeit. Und so breit die Materialbasis auch war: Sie blieb preußisch. Meisner (1935: 3) machte daraus eine Tugend:

“Das Paradigma ist Brandenburg-Preußen. Seine Kanzleipraxis eignet sich besonders für Demonstrationszwecke, weil die straffe Disziplin des Beamtentums sich auch im Kanzleiwesen nicht verleugnet und hier eine bemerkenswerte Einheitlichkeit […] erzielt hat.”

Ob die Preußen wirklich so einsam an der Spitze standen, sei dahingestellt. Preußen ist aber bis heute das Paradigma der Aktenkunde, mit dem sich auch beschäftigen muss, wer mit Überlieferung aus anderen Geschichtslandschaften arbeitet.

In seinem Alterswerk definierte Meisner (1969: 125) als den Zweck der aktenkundlichen Tätigkeit, “das einzelne Schriftstück nach Form und Zweck zu ‘bestimmen’”. Diese Tätigkeit hat er 1935 (3) nach drei Gesichtspunkten differenziert und damit die bis heute gültige Methodologie des Fachs begründet:

“Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung, das einzelne Aktenschriftstück, wird sodann unter drei Gesichtspunkten betrachtet: systematisch in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Aktenstilform, analytisch nach seinen ‘inneren’ und ‘äußeren’ Merkmalen und schließlich genetisch in seinem Werdegang und seinen Lebensschicksalen nach den drei Zonen Kanzlei, Registratur und Archiv.”

In der Analytik konnte der Meisner sein Instrumentarium aus der Urkundenlehre beziehen und im Speziellen an Hass (1909) anschließen.

Die Genetik erweiterte er über den von Küch (1904) abgemessenen Bereich der Entstehungsstufen und Überlieferungsformen in der Kanzlei auf die Formierung der Einzelstücke zu Akten und sogar deren Archivierung. Kurioserweise wird Meisner gern vorgehalten, er habe ausgerechnet diese Aspekte vernachlässigt.

Seine Neuschöpfung war die Systematik: die Typisierung von Aktenschriftstücken nach wiederkehrenden inneren und äußeren Merkmalen anhand von drei Kriterien:

  1. Rang, d. h. Verhältnis der Korrespondenten (Über-, Unter- oder Gleichordnung),
  2. grammatischer Stil der Selbstbezeichnung des Verfassers (Ich, Wir oder unpersönlich),
  3. zeremonielle Ausgestaltung der Formeln.

Damit brachte er eine nachvollziehbare Ordnung in das Dickicht der historischen Stilformen, die allerdings bedenklich eng an den Verhältnissen des Untersuchungszeitraums klebte.

Meisners Methode war empirisch und historisch-philologisch. Neben dem Aktenmaterial zog er Kanzleihandbücher des 18. Jhs. als Quelle heran. Meisner selbst sah in der systematischen Bestimmung eine Methode zur Einordnung eines Schriftguts, kein a priori vorgegebenes Dogma. Gerade diesen Eindruck kann sein Stil aber leicht vermitteln. Er bemühte sich um äußerste Präzision in einer an die juristische Fachsprache angelehnten Diktion und sparte nicht mit unerklärten Begriffen aus den Quellen. Sätze wie “Die diplomatischen Requisitorialien erfolgen (Stilmerkmal B) in Tertia persona (Le sousigné a l’honneur…).” sind typischer Meisner (1935: 54) und haben die Rezeption seiner Gedanken nicht gefördert.

Das bemängelte schon der erste Rezensent, Ludwig Bittner (1935), der Direktor des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Die epochale Bedeutung des Werks war Bittner klar, es zeichnete sich aber auch schon das grundlegende Missverständnis in der Meisner-Rezeption durch die Archivare ab, die seine Methoden unmittelbar auf Aktenbestände in ihrer archivierten Form anwenden wollten und nicht auf das Einzelstück ab seiner Entstehung in der Kanzlei. Bezogen auf die Logik von Meisners Methodologie heißt das aber, das Pferd von hinten aufzuzäumen.

Urkunden- und Aktenlehre (1952)

Nach der “Aktenkunde” war es Meisners Hauptanliegen, die neue Hilfswissenschaft mit der etablierten Urkundenlehre zu verschmelzen. Dazu musste er die Urkunden als besonderen Stoff in der Masse der frühneuzeitlichen Schriftgutproduktion verorten. Meisner (1952: 18 f.) löste dieses Problem, indem er auf den rechtserheblichen und inhaltlich autonomen Charakter von Urkunden pochte:

“Akten sind also oft nur Mittel zum Zweck und von vorübergehender Bedeutung. Während die Urkunde den Abschluß einer Entwicklung darstellt, wird durch Akten diese selbst dynamisch mit allem Für und Wider illustriert. Akten sind als solche nichts Selbständiges, sondern ergänzungsbedürftig […]. Urkunden kann man isolieren, ohne sie dadurch aus einem Zusammenhang zu reißen […].”

Das Problem des fließenden Übergangs der Formen von Urkunden und Akten wurde damit umschifft. Der Rückgriff auf den Rechtscharakter löste freilich einige Folgeprobleme aus, die Meisner noch zu einer Spezialstudie trieben (Meisner 1953). Vor allem zwang er Meisner dazu, die Amtsbücher, die Einträge mit und ohne rechtserheblichen Charakter enthalten konnten, nicht mehr als eigenständige Archivaliengattung zu behandeln, sondern dem Einzelfall nach als besondere Ausprägung entweder von Akten oder von Urkunden.

Die Neubearbeitung musste auf die Anmerkungen von 1935 verzichten, ist didaktisch aber besser aufgebaut und erläutert die Methodik, statt nur ihre Anwendung zu demonstrieren. Den Nutzen der Aktenkunde als formaler Analyse des Aktenstils erklärte Meisner (1952; 24 f.) nun so:

“Indem die Verfasser amtlicher Schriftstücke je nach dem Empfänger an gewisse Ausdrucksformen und Ausdrücke gebunden sind […], verraten sie eine bestimmte Stellung oder den Anspruch auf eine solche, wodurch auf die Verwaltungsphysiognomie Licht fällt.”

So verschaffe die Aktenkunde “Einblicke in das herrschende Regierungssystem und mache “den Anteil einzelner Persönlichkeiten an der ‘Akte’ und damit an der administrativen, juristischen oder diplomatischen ‘Aktion’” ersichtlich (ebd.).

Trotz des umfassenderen Anspruchs bleibt die Darstellung Preußen verhaftet. Die Handvoll kleinformatiger Abbildungen trägt nicht viel zur Veranschaulichung bei. Wirklich unglücklich ist die Ausgliederung von Scholien in ein eklektizistisches Begriffslexikon im Anhang, das dauernd mit dem eigentlichen Text verglichen werden muss.

Auf die Leitrezension dieser Ausgabe durch Dülfer (1951) wird noch einzugehen sein.

Schmids Adaption

Als praktisches Lehrbuch setzte diese Ausgabe immer noch zu viel voraus. Für die Archivarsausbildung in der DDR wurde der Stoff deshalb unter der Aufsicht Meisners von Gerhard Schmid in ein Lehrbuch (1959) umgegossen, das didaktisch sehr geglückt ist und eine große Zahl hervorragend erläuterter Beispiele enthält. Der Text wurde hektografisch vervielfältigt und ist leider nur als “graue” Literatur greifbar (Berwinkel 2013).

Schmid (1959) war mehr als eine mechanische Adaption, sondern überschritt die Grenzen der Vorlage deutlich hinsichtlich des räumlichen und zeitlichen Bezugs sowie, damit verbunden, der Typen des Aktenschriftguts. Auch vereinfachte Schmid Meisners Methodologie, indem er den analytischen Zugang, der im Wesentlichen der genetischen und systematischen Bestimmung des Schriftstücks zuarbeitet, auf diese aufteilte. In der Traditionslinie des Meisnerschen Werks kann man dieses Lehrbuch deshalb durchaus als eigenständigen Beitrag werten.

Archivalienkunde (1969)

Meisners Alterswerk leidet am missglückten Versuch einer radikalen Ausdehnung des Thema. Der Aktenkunde – bezeichnet als “Besonderer Teil” (1969: 123 ff.) – stellte er einen “Allgemeinen Teil” voran, der die Archivaliengattungen, die Registraturkunde und andere von der Archivwissenschaft besetzte Themen behandelt. Beide Teile stehen nach Art einer Buchbindersynthese unverbunden nebeneinander.

Der aktenkundliche Teil verharrt auf dem Stand von Meisner (1952). Weder übernahm Meisner die Verbesserungen seines Schülers Schmid (1959), noch setzte er sich vertieft mit den alternativen Ansätzen auseinander, die zwischenzeitlich in Marburg entwickelt wurden: Dülfers Zwecke und Papritz’ Motive zog Meisner (1969: 125-128) zu einem zusätzlichen, inhaltlich bestimmten, “finalen” Kriterium der systematischen Aktenkunde zusammen, ohne darin einen Widerspruch in seinem an Formalien orientieren Lehrgebäude zu sehen.

Insgesamt ist das Alterswerk durch ein Höchstmaß an Materialfülle gekennzeichnet, aber auch durch einen erheblichen Verlust an Stringenz und durch Meisners Verharren im rigiden Gehäuse des juristischen Urkundenbegriffs und des “alten“ Aktenstils. Schmid (1970) fiel es zu, dies in der quasi amtlichen Rezension der Staatlichen Archivverwaltung der DDR festzustellen.

Wer sich gerüstet mit Meisner an frühneuzeitliche Archivbestände preußischer Provenienz macht, wird kein Manko entdecken. Die Makellosigkeit des Systembaus innerhalb des selbst gewählten Paradigmas macht Meisner so attraktiv: Man kommt damit rasch zu klaren Schlüssen. Außerhalb dieses Rahmens verliert des System bald an Kraft. Es bleibt aber Meisners Verdienst, die Methodologie der Aktenkunde erstmals definiert und dadurch nachhaltig geprägt zu haben.

Literatur

Außer den mit * gekennzeichneten werden alle Titel auch in der Basisbibliografie zur Aktenkunde nachgewiesen.

Besprochene Werke

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meisner, Heinrich Otto 1952. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig [erstmals 1950].

Meisner, Heinrich Otto 1953. Das Begriffspaar Urkunden und Akten. In: Forschungen aus mittedeutschen Archiven. Festschrift für Helmut Kretzschmar. Schriftenreihe Der Staatlichen Archivverwaltung 3. Berlin. S. 34–47.

Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig [auch Lizenzausg. Göttingen].

Schmid, Gerhard 1959. Aktenkunde des Staates. Potsdam (masch.).

Weitere Literatur

*Berwinkel, Holger 2013. Der graue Klassiker. Gerhard Schmids „Aktenkunde des Staates“ von 1959. In: Aktenkunde. Aktenlesen als Historische Hilfswissenschaft. http://aktenkunde.hypotheses.org/114. Abgerufen am 28.2.2015.

Brachmann, Botho/Klauß, Klaus 1999. „De me ipso!“ Heinrich Otto Meisner und die Ausbildung archivarischen Nachwuchses in Potsdam und Berlin. In: Beck, Friedrich u. a., Hg. 1999. Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Potsdamer Studien 9. Potsdam. S. 601–636.

*Bittner, Ludwig 1935. [Rezension zu Meisner, Aktenkunde]. In: Historische Zeitschrift 152. S. 532-535.

Dülfer, Kurt. 1951. Literaturbericht zu H. O. Meisner: Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Der Archivar 4. S. 41–44.

Henning, Eckart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln. S. 105–127.

*Schmid, Gerhard 1970. [Rezension zu Meisner, Archivalienkunde]. In: Archivmitteilungen 20. S. 159-160.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/324

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde I: Wegbereiter im frühen 20. Jh. #wbhyp

Wer sich aktenkundliches Rüstzeug für eigene Archivstudien zulegen will, wird mit einer hochspezialisierten Forschung konfrontiert, deren Wege nicht immer geradlinig waren. Die Serie "Forschungsgeschichte der Aktenkunde" soll diese Wege abschreiten. Parallel entsteht eine aktenkundliche Basisbibliografie, die die besprochenen Werke systematisch nachweist.

Ich verstehe diese Serie auch als Exempel zur Blogparade "Wissenschaftsbloggen: zurück in die Zukunft" (#wbhyp). Hier verwerte ich Material aus einem Buchprojekt, das aufgrund der bekannten Krise des wissenschaftlichen Buchmarkts nicht zustande gekommen ist. Ganz abgesehen davon, dass die Darstellung im Blog-Format nicht mehr an physische Grenzen stößt: Umfang, Links usw. – in diesem Format

  • kann eine Wissenschaftsgeschichte einer Spezialdisziplin überhaupt erscheinen,
  • kann sie das angestrebte Publikum am besten erreichen und
  • kann sie fortgeführt und ergänzt werden.

Auf Frau Königs Aufruf, herauszufinden warum sich das Bloggen "trotzdem" lohnt, kann ich für mein Exempel nach der Umstellung von Papier auf digital nur mit eigener Überraschung entgegnen: So etwas lohnt sich eigentlich nur im Wissenschaftsblog! Wer sich seiner Sache sicher ist, kann sich auch dem Medium anvertrauen. Wo Blogs weiße Flecken füllen, die das Papier auf seinem Rückzug hinterlässt, werden sie rezipiert werden.

Nun aber zur Sache!

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Die Aktenkunde ist eine praktische Wissenschaft. Aus der praktischen Beschäftigung mit Akten in Archiven ist sie auch entstanden: einerseits aus der Ordnung und Verzeichnung von Archivgut, andererseits aus kritischen Editionen von Aktenstücken. Den Anstoß gab die Bewältigung frühneuzeitlichen Materials im charakteristischen Kanzleistil des Ancien Régime, der nach den Reformen des 19. Jhs. der aktiven Generation von Historikern und Archivaren fremd geworden war und deshalb mit wissenschaftlicher Methodik durchdrungen werden musste.

Wurzeln in der Urkundenforschung

Die Methodenlehre des Fachs ist freilich nicht vom Himmel gefallen. Den Boden hat die Diplomatik bereitet, die zur selben Zeit vom Werkzeug der Quellenkritik hoch- und frühmittelalterlicher Urkunden zu einer umfassenderen Lehre von urkundlicher Schriftlichkeit auch im Spätmittelalter weiterentwickelt wurde. Methodisch rückte dabei der Entstehungszusammenhang der Schriftstücke in den Fokus.

Als Zentralorgan der neuen Diplomatik wurde 1908 das Archiv für Urkundenforschung (AUF, heute: Archiv für Diplomatik) begründet. Die neue Zeitschrift sollte auch Raum für Studien bieten, "die sich mit dem Register-, Akten- und Behördenwesen im Übergang zur Neuzeit beschäftigen" und sich neben Urkunden im engeren Sinne auch mit "Entwürfen und Konzepten, [...] Briefen, Akten und Büchern der gleichen Behörden oder Schreibstuben" befassen sollte. Für die Herausgeber, die dieses Programm in der Einleitung zum ersten Band des AUF aufstellten, war außerdem klar, dass "mit den Urkunden und Akten stets auch die Geschichte der entsprechenden Behördenorganisation erforscht [...] werden soll" (Brandi/Bresslau/Tangl 1908: 2 f.).

Michael Tangl (1861–1921), einer der Herausgeber, trug als akademischer Lehrer zur Verbreitung dieses Ansatzes bei, der (wie Henning 1999: 110 bemerkt) seine eigentliche Verwirklichung in der Aktenkunde fand, auch wenn aufseiten der Diplomatik noch hervorragende, auch aktenkundlich einschlägige Studien wie Spangenbergs Arbeit zu den Kanzleivermerken (1928) erschienen. Tangl war aus dem österreichischen Archivdienst hervorgegangen und lehrte zunächst in Marburg und dann in Berlin mittelalterliche Geschichte.

Marburg und Berlin sind die beiden Orte, mit denen die Forschungsgeschichte der Aktenkunde vielfach verknüpft ist. Maßgeblich, aber nicht ausschließlich, hängt dies mit der Ansiedlung der Ausbildungseinrichtungen für Archivare in Preußen, der DDR und der Bundesrepublik zusammen. Wichtig ist, dass diese Orte im Laufe der Zeit auch begannen, für unterschiedliche Denkschulen zu stehen.

Friedrich Küch: Aktenkunde in der Archivarbeit

Zum 400. Geburtstag Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen legte Friedrich Küch (1863–1935), Archivar am preußischen Staatsarchiv Marburg, den ersten Band von dessen "Politischen Archiv" vor. Küch hatte aus einer zersplitterten archivalischen Überlieferung den Zustand auf dem Papier  rekonstruiert, den der Aktenbestand des Landgrafen zu außenpolitischen Angelegenheiten zu seinen Lebzeiten hatte. Die Aktenstücke hatte Küch, nach Vorgängen zusammengefasst, durch ausführliche Regesten in einer heute kaum noch vorstellbaren Tiefe erschlossen. Dennoch handelt es sich beim "Politischen Archiv" noch um ein archivisches Findmittel, nicht schon um eine Edition (Kretzschmar 2013: 93).

Küch legte die zeitgenössische Behördenorganisation zugrunde. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich daraus, dass Akten zu derselben Angelegenheit sowohl in der Kasseler Zentrale als auch bei den hessischen Gesandten an anderen Höfen angefallen sein konnten – klassische Spiegelakten also: Was in Kassel als Konzept zu den Akten ging, liegt in denen des Gesandten als Ausfertigung vor, usw. Küch schreibt (1904: XXIV):

"Eine notwendige und wohltätige Folge der gewählten Anordnung war der Zwang jedes [...] Schriftstück [...] an dem Orte unterzubringen, wohin es seiner kanzleimäßigen Entstehung nach gehörte".

Somit war "die möglichst scharfe Feststellung des kanzleimäßigen Zustandes, in dem das betreffende Stück überliefert ist" (ebd. XXX) die Voraussetzung für die sachgerechte Verzeichnung des Bestands. Indem Küch über die dazu berücksichtigten Grundsätze Rechenschaft ablegte, führte er bis heute zentrale Forschungsbegriffe zu Entstehungsstufen und Überlieferungsformen von Schriftstücken ein: Schreiben in Akten können als Konzept, als Mundum (Ausfertigung) oder in Abschrift vorliegen; zentrale Bearbeitungsschritte waren die Revision des Konzepts und der Vollzug der Ausfertigung.

Auch gebührt Küch das Verdienst, als erster konsequent den neutralen Begriff Schreiben für Korrespondenzen in Akten benutzt zu haben. Seine Terminologie ist noch nicht trennscharf, seine Ausführungen sollten aber auch keine Methodologie begründen, sondern nur vor den Benutzern des Repertoriums Rechenschaft über die Arbeitspraxis ablegen (ebd. XII).

In der Summe ist genau das, eine Methodologie zu begründen, Küch unbeabsichtigt aber dennoch gelungen. Schon Haß und Meyer, den nächsten Pionieren der Aktenkunde, dienten seine Erkenntnisse zur kanzleimäßigen Entstehung von Schriftstücken als Leitfaden und Kontrastfolie für andere Epochen der Kanzleigeschichte.

Martin Haß: Aktenkunde als Editionsmethode

Um die Edition der politischen Korrespondenz eines anderen wirkungsmächtigen Herrschers, Friedrichs des Großen, zu ergänzen, wurden 1887 die Acta Borussica begründet, eine momumentale Editionsreihe von Aktenstücken zur inneren Entwicklung Preußens. Das umfasste auch die Verwaltungsgeschichte, deren Erforschung zudem die Grundlage für das Verständnis anderer Zweige der inneren Entwicklung war. Die Acta Borussica waren Grundlagenforschung, die in die Hände erfahrener Editoren gelegt war.

Einer dieser Editoren – und verantwortlich für die Editionsgrundsätze v war der Tangl-Schüler Martin Haß (1883–1911). Er veröffentlichte 1909 eine Studie "über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen", die in ihrer Verbindung von verwaltungsgeschichtlicher und hilfswissenschaftlicher Betrachtung wegweisend für die Aktenkunde war. Haß stand auf diesem Feld nicht allein: Auch Granier (1902), Klinkenborg (1915) und andere befassten sich mit dem, was zum brandenburgisch-preußischen Referenzmodell der Aktenkunde werden sollte; dieser Berliner Urgrund der Aktenkunde wird von Henning (1999) genau untersucht. Haß' Studie sticht durch ihren Umfang und den Versuch, Neuland zu kartieren, heraus:

"Die historische Aktenkunde ist ein weites, schier unübersichtliches Feld, das fast noch in seiner ganzen Ausdehnung wüst liegt und nur erst von ein paar Hauptwegen durchzogen ist."
(Haß 1909: 521 - zitiert nach der durchgehenden Seitenzählung des Bandes.)

Die Studie konzentriert sich auf die "Formalien in den Schriftsätzen" (ebd. 522), also auf innere Merkmale, und erklärt sie als Spuren der dahinter abgelaufenen Verwaltungsvorgänge. Im Grunde ging es Haß um ein Spezialproblem: Welche im Namen des Fürsten ergangenen Weisungen stammten wirklich von ihm und welche ergingen in seinem Namen von Behörden? Damit war die Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen und die Zuschreibung von Verantwortung als ein Hauptzweck der Aktenkunde formuliert worden.

"Es konnte vorkommen, daß Friedrich Wilhelm als Kammer eine Verfügung ergehen ließ, die Friedrich Wilhelm als Generaldirektorium tadelte, und daß dann Friedrich Wilhelm als König, wenn die Sache an ihn gelangte, womöglich noch eine andere Entscheidung fällte."
(Haß 1909: 541.)

In einem aktenkundlichen locus classicus wies Haß (1909: 531 f.) nach, dass der auf Schriftstücken häufig anzutreffende Vermerk "Auf Seiner Majestät allergnädigsten Specialbefehl" oder "ad mandatum speciale regis", entgegen dem Wortsinn gerade keinen speziellen Befehl des Königs, sondern eine selbständige Behördenweisung anzeigte.

Richtungsweisend verknüpfte er die verwaltungsgeschichtliche Rekonstruktion der Behördenorganisation mit der Analyse normativer Texte wie Kanzleiordnungen und dem empirischen Befunde der Schriftstücke. Sein besonderes Interesse galt dem Kanzleistil als "Staatsgrammatik" (ebd. 522).

Die Forschung kann ihm dankbar dafür sein, dass er seiner eigentlichen Argumentation Anhänge beigab, die von den 55 Seiten allein 24 einnehmen. Ohne verfrühte Systematisierung stellte Haß darin seine gesammelten Beobachtungen an Aktenstücken zur Verfügung. Herausragend ist der Exkurs "über die Entstehung eines Aktenstücks" (ebd. 554–559), der die Entstehungsstufen unter den Bedingungen des voll entwickelten kollegialen Verwaltungstyps nachvollzieht und sich dazu bereits mit Küchs Befund aus dem 16. Jahrhundert auseinandersetzt. Der Anhang "Musterbeispiele" (ebd. 568–575) bringt eine Zusammenstellung der für einzelne Schriftstücktypen charakteristischen Formularbestandteile.

Man würde Haß Unrecht tun, ihn nur als überholten Vorgänger Heinrich Otto Meißners zu sehen. Hier wurde nicht nur reiches Material für die nachfolgende Forschung ausgebreitet und vieles angedeutet, was Meißner später ausführen sollte, sondern Haß demonstrierte am Beispiel des Spezialbefehls auch, dass die Aktenkunde zu allgemeinen historischen Fragen, wie eben der Verantwortlichkeit des frühneuzeitlichen Fürsten, einen originären Beitrag leisten konnte – wozu also der ganze Aufwand gut war.

Hermann Meyer: Aktenkunde aus der Verwaltungspraxis

Hermann Meyer (1883–1943) war mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Im Auftrag der Reichsregierung wurde 1919 eine vierbändige kritische Edition der "deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" 1914 veröffentlicht. Zur archivtechnischen Unterstützung des Vorhabens wurde der Archivar Meyer von der preußischen Archivverwaltung an das Auswärtige Amt abgeordnet.

Obwohl Meyer nicht zu den Editoren zählte, hoben diese doch hervor, dass "dessen fachmännische Spuren der Leser überall wahrnehmen wird" (Montgelas/Schücking 1919: VII). In erster Linie wird man dazu die saubere Bestimmung der Entstehungsstufen, die Zuweisung von oft schwer leserlichen Randbemerkungen und die zeitliche Einordnung, wer wann wovon Kenntnis hatte, verstehen können. Auch hier ging es also um das Problem der Feststellung von Verantwortlichkeit nach Aktenlage, das Haß beschäftigt hatte - nur eben nicht am grünen Tisch, sondern im Rahmen der heißen Kriegsschulddebatte. Selten fanden Akteneditionen eine derart weite Verbreitung. Meyers schmale Monografie von 1920 über "das politische Schriftwesen" des Auswärtigen Amts wandte sich als Hilfe zur Lektüre der edierten Dokumente ebenfalls an ein breites Publikum.

Das Problem, die pragmatische Schriftlichkeit einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren, stellte sich Meyer, der jederzeit die Registratoren und Sekretäre des Amts befragen konnte, nicht. Die Herausforderung der zeitgeschichtlichen Edition lag in der Masse und Verschiedenheit der Überlieferungsformen, an der moderne technische Verfahren mitschuldig waren. Meyer bleibt bis heute maßgeblich zu Bereichen, die der Mainstream der Aktenkunde nicht im Blick hat, insbesondere zur Übermittlung per Telegraf oder Fernschreiber und zu Chiffrierverfahren (1920: 83–97).

Aus der Praxis schreibend, gelang Meyer das vielleicht plastischste und prägnanteste Buch zur Aktenkunde überhaupt. Die Leser erhalten einen umfassenden Überblick, wie Schriftstücke im Auswärtigen Amt entstanden, versandt und bearbeitet wurden, wie der Kaiser eingebunden war, wie Staatsverträge abgeschlossen wurden und wie der ganze Betrieb organisiert war. Der Zeitdruck bei der Erstellung des im Dezember 1919 abgeschlossenen Manuskripts und die Nähe der Praxis forderten aber ihren Tribut, indem sie Meyer die systematische Durchdringung des Stoffs verboten.

Bei der Behandlung der Entstehungsstufen konnte er noch, mit Küchs Terminologie gewappnet, die wirren Begriffe der Kanzleipraxis bändigen:

"In der modernen Registratur und Kanzlei ist die Terminologie des Schriftverkehrs nicht immer unbedingt feststehend. So werden Ausdrücke wie Original, Entwurf, Konzept, Ausfertigung, Minüte und Grosse, zumal in den verschiedenen Ländern, in sehr verschiedener Bedeutung angewandt. Um so wichtiger ist es, hier klar zu sehen."
(Meyer 1920: 38.)

Bei der Beschreibung der Schriftstücktypen hatte Meyer darauf, wie er selbst beklagt (ebd. 3 f.) verzichten müssen:

"Andererseits bedeutete es eine wirkliche Entsagung, auf die Darstellung der historischen Entwicklung der […] Schriftstücke zu verzichten, also etwa von Noten oder Handschreiben zu sprechen, ohne deren Geschichte und nicht zuletzt die ihrer äußern [sic] Form zu behandeln."
(Meyer 1920: 3.)

Die dazu angekündigten Spezialstudien kamen nicht mehr zustande, nachdem er 1920 zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts berufen wurde; 1926 wechselte er in den diplomatischen Dienst. So scheiterte Meyer schon daran, die Entstehung und Behandlung der telegrafischen und schriftlichen Korrespondenz zwischen den Auslandsvertretungen an die Berliner Zentrale in ein logisches Verhältnis zu setzen, und behandelte beides an entgegengesetzten Enden der Darstellung. Vor lauter Bäumen verschwindet ein wenig der Wald.

Methodisch hat Meyer die Aktenkunde also nicht vorangebracht, aber es war sein Verdienst, die erste zeitgeschichtliche Aktenkunde geschrieben und den Ansatz Küchs auf frühe Verfahren der elektronischen Kommunikation angewandt zu haben.

Literatur

Außer den mit * gekennzeichneten werden alle Titel auch in der Basisbibliografie zur Aktenkunde nachgewiesen

Besprochene Werke

Brandi, Michael/Bresslau, Harry/Tangl, Michael 1908. Einführung. In: Archiv für Urkundenforschung 1. S. 1–4.
Online

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 15. S. 168–180.
Online

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 22. S. 521–575.
Online

Klinkenborg, Melle 1915. Die Stellung des Königlichen Kabinetts in der preußischen Behördenorganisation. In: Hohenzollern-Jahrbuch 19. S. 47–51.
Online

Küch, Friedrich 1904. Politisches Archiv des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen: Inventar der Bestände. Bd. 1. Publikationen aus den Preußischen Staatsarchive 78. Leipzig.
Online

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.
Online

Spangenberg, Heinrich 1928. Die Kanzleivermerke als Quelle verwaltungsgeschichtlicher Forschung. In: Archiv für Urkundenforschung 10. S. 469–525.

Weitere Literatur

Henning, Eckart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln. S. 105–127.

Kretzschmar, Robert 2013. Akten- und Archivkunde im Tübinger Netzwerk Landesgeschichte: Ein Plädoyer für eine zeitgemäße Archivalienkunde. In: Bauer, Dieter R. u. a., Hg. 2013. Netzwerk Landesgeschichte. Gedenkschrift für Sönke Lorenz. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 21. Ostfildern. S. 91–109.

*Montgelas, Max Graf/Schücking, Walter, Hg. 1919. Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Bd. 1. Charlottenburg 1919.
Online

*Neugebauer, Wolfgang 1998. Martin Hass 1883–1911. Beiträge zur Biographie eines preußischen Historikers und Wegbereiters der Aktenkunde als Historischer Hilfswissenschaft. In: Herold-Jahrbuch, Neue Folge 3. S. 53–71.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/306

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