Sedlmayrs Wien (Teil I)


Palmenhaus, Schönbrunn (innen) – Foto: MM

 

In wenigen Wochen wird im Palais du Louvre das Musée des Arts d’Islam eröffnet werden. Das  wellenförmige Dach wird voraussichtlich neue Maßstäbe in der materialen Ausreizung der Stahl-/Glasarchitektur setzen. Maßgeblich an der Umsetzung des Entwurfs von Mario Bellini und Rudy Ricciotti ist auch eine Wiener Firma beteiligt, die Erfahrung mit zahlreichen ähnlichen Großprojekten hat.[1] Dieses Innovationspotential wurzelt ausgerechnet im 19. Jahrhundert. Wien profilierte sich zu dieser Zeit als Metropole von Weltrang.

Dass Hans Sedlmayr in „Verlust der Mitte“ die Phänomene des modernen Lebens unter Beschuss nimmt, erscheint weniger merkwürdig, wenn man sich in Erinnerung ruft, welche Erfahrungen er in seiner Jugend gesammelt hat. Die Großstadt, die Technik, das Neue Bauen werden im Buch dämonisiert. Freilich sind die Massen, die Metropole gängige Topoi der kulturkritischen Literatur, die Sedlmayr zweifellos aktualisiert.

Aber es stellt sich doch die Frage, was den Autor zu dieser radikalen Haltung veranlasst. Diesbezüglich mögen biographische Überlegungen weiterhelfen. An deren Anfang jedenfalls steht die Idylle. Geboren und aufgewachsen ist Sedlmayr nämlich auf einem ungarischen Gut. In einer Umgebung, die er als Abenteuerspielplatz in der Weise beschreibt, dass sich jeder nachträglich eine ähnliche Kindheit wünscht.[2] 1907 zog die Familie Sedlmayr nach Wien um. Einen ungefähren Eindruck von dem Einschnitt, den dies für den Zwöljährigen bedeutet haben mag, soll der vorliegende Text vermitteln.

 

Palmenhaus, Schönbrunn, innen: Foto: MM

 

Als Sedlmayr nach Wien kam, erlebte die Hauptstadt der Donaumonarchie einen enormen Wachstumsschub. In den dreißig Jahren von 1880 bis 1910 stieg die Bevölkerungszahl um das Doppelte an und schoss über die Zwei-Millionen-Marke.[3] Es ist heute nahezu unvorstellbar, dass Wien vor 100 Jahren größenmäßig unter den Top Ten der Metropolen weltweit rangierte.

Die Schattenseite dieses rasanten Wachstums zeichneten die Väter der Sozialreportage, Max Winter und Emil Kläger, auf. Für ihre „Feldforschungen“ verkleideten sie sich als Obdachlose, um in den Elendsvierteln außerhalb des Rings und in der damals dicht besiedelten Kanalisation zu recherchieren.[4] An diesen Orten, ging die Tuberkolose, als  die gefürchtete ‘Wiener Krankheit’ um.

Man muss nur Stefan Zweigs Lebenserinnerungen zur Hand nehmen, um zu erfahren, dass die gehobenen bürgerlichen Kreise in einer anderen Welt lebten.[5] Das Wien der ‘Bettgeher’ werden sie zumindest als Bedrohung für die eigene soziale Hegemonie wahrgenommen haben. Es überrascht, dass schon ehedem Städtevergleiche bemüht wurden, etwa in den „Großstadt-Dokumenten“, von denen jeweils 10 Bände Berlin und Wien gewidmet waren.[6] War dies ein frühes Zeugnis der deutschsprachigen Metropolenforschung, so erfand Georg Simmel die Stadtsoziologie.[7]

 

Wien, Alseergrund um 1900 – Quelle: Wikimedia Commons

 

Hatte Wien Vieles seiner heutigen Gestalt durch die Stadterweiterung Mitte des 19. Jahrhunderts gewonnen, so wurde es in den nächsten 50 Jahren zur modernen Großstadt. Infrastrukturelle Maßnahmen veränderten die Hauptstadt. So fraß sich das frische historistische Wien allmählich durch die alten dörflichen Strukturen der ehemaligen Vorstädte. Ein rasterförmiges Straßennetz aus Mietskasernen entstand.

Im Zuge der Donauregulierung wuchsen fünf neue „stabile“ Brücken über den künstlich erschaffenen Fluss. Der Brückenbau ist zugleich eine technische und planerische Meisterleistung, in dem das zeitgemäße Material, Eisen, zum Einsatz kam. Nicht umsonst nannte sich 1905 in Dresden eine Künstlergruppe fortschrittsorientiert ausgerechnet „Die Brücke“. Ausdruck der Urbanität und der veränderten Bedürfnisse, die sich in Geschwindigkeit und Mobilität entäußerten, ist auch die von Otto Wagner 1894-1901 errichtete Stadtbahn.

 

Stadtbahn mit Hofpavillon – Foto: MM

 

Wagner war zugleich der innovative Kopf des progressiven Bauens in Wien. Seine Postsparkasse (1910-1912) war richtungsweisend für die Verbindung von Ästhetik und Funktionalität. Ein Netz aus Metallbolzen überzieht die Außenhaut des Gebäudes, indem es die Marmorplatten zu fixieren scheint. Begleitet wird die konsequente Verweigerung des Ornaments von der Verwendung neuer Materialien, wie Aluminium und Stahlbeton. Das setzt sich in den Innenraum fort. Das Oberlicht im Kassensaal dringt durch eine gewölbte Glasdecke.

 

Postsparkasse – Quelle: Wikimedia Commons

 

Diese fast organisch anmutende Raumform basiert auf den Ausstellungs- und Gewächshausarchitekturen des 19. Jahrhunderts. Initialbau der Eisen-Glasbauweise war der anlässlich der Weltausstellung errichtete “Crystal Palace” in London (1851). Dieser war vorbildgebend für andere gläserne Ausstellungsarchitekturen, wie dem “Glaspalast” in München (1853). 1882 wurde das Palmenhaus in Schönbrunn eröffnet. Dessen Vorbild ist unübersehbar „Kew Gardens“ in London (1841-49).

Ähnelten die Glaspaläste in ihrer Grundform eher den traditionellen Bauten aus Stein, entfalten sich die Palmenhäuser vergleichsweise freier, den flexiblen, plastischen Qualitäten des Konstruktionsmediums entsprechend. Die zeitgenössischen Stimmen über das Schönbrunner Glashaus reichen freilich von emphatischer Aneignung bis zu entschiedener Zurückweisung. In seiner funktional-biomorphen Erscheinung und in seinen Dimensionen – es gehört zu den drei größten weltweit – markiert das Wiener Glashaus eine Schlüsselstelle des Neuen Bauens in Österreich.

 

Palmenhaus Schönbrunn, innen – Foto: MM

 

Während die Eisenkonstruktionen für die erwähnten Brücken noch von ausländischen Firmen besorgt wurden, gründete Ignaz Gridl die erste Stahlbaufirma in der Doppelmonarchie.[8] Der „k. und k. Hofschlosser und Eisenconstructeur“ war auch Ausführender des Palmenhaus-Projekts von Schönbrunn. Seine Firma lieferte darüber hinaus die konstruktiven Elemente, unter anderem für das Wiener Rathaus, die Universität und die beiden Hofmuseen. Ohne die zeitgenössische Technologie wären die monumentalen Illusionen von Antike, Gotik und Renaissance in der Wiener Ringstraßen-Architektur undenkbar.

 

Palmenhaus, Schönbrunn – Foto: MM

 

Aus der Stellung Wiens als Metropole ergaben sich neue Aufgaben, welche die Organisation des Raumes und der Menschen, sowie die Repräsentation betrafen. Aus diesem Grund wurde Know-how benötigt. Dieses mündete schließlich in formale Neuerungen, wie sie durch Otto Wagner beispielsweise umgesetzt wurden. Sedlmayr ist ein Zeitzeuge dieser Entwicklungen. Seine prägendsten Jahre hat er als Jugendlicher inmitten dieses gesellschaftlichen Umbruches erlebt, als die Moderne noch Experiment und keine hundertjährige Erfahrung war.

Und Waagner-Biró, heute beteiligt am Louvre-Projekt, erwarb 1934 das Traditionsunternehmen Ignaz Gridl. Somit steckt ein Stück alte Wiener Moderne und Innovationspotential aus dem 19. Jahrhundert in einigen der aktuell aufsehenerregendsten Bauten weltweit.

 

Palmenhaus, Schönbrunn (Detail) – Foto: MM

 

 

[1] Beitrag in €CO, ORF, Sendung v. 23.08.2012. http://tv.orf.at/program/orf2/20120823/575175901/343684/

[2] Hans Sedlmayr: Das goldene Zeitalter. Eine Kindheit, München 1986

[3] Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1998, S. 398.

[4] Emil Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, Wien 1908 und Max Winter: Im unterirdischen Wien, Berlin 1905 (zugl. Band 13 der Reihe „Großstadt-Dokumente“).

[5] Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1942.

[6] In 50 Bänden herausgegeben zwischen 1904 und 1908 von Hans Ostwald.

[7] Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, 1903.

[8] Ute Georgeacopol-Winischhofer: „Ig. Gridl“: The heritage of Vienna’s most important steel. Workshop, 1880s-1930s. XIII TICCIH International Congress, September 2006, Terni (Italien), Workshop 10, URL: http://www.ticcihcongress2006.net/paper/Paper%2010/Georgeacopol.pdf (zuletzt besucht am: 01.09.2012)

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/85

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