Handbibliothek Doktorandenraum GRK1678, 27. März 2015, 15:58:58, aufgenommen mit Motorola Moto G.
Dieses Logbuch dokumentiert das Publikationsprojekt “Schizophrene Ökologien. Für eine Gleichstellung fiktionaler Welten” von Dr. Sergej Rickenbacher und Martin Bartelmus. Unter ‘schizophrenen Ökologien’ verstehen wir fiktionale Welten, in denen Versammlungsweisen von nichtmenschlichen und menschlichen Akteuren sowie die modernen und nicht-modernen Prozesse von Welt-Bildung erfahrbar werden. In unserem Publikationsprojekt wenden wir uns literarischen Texten von Arno Schmidt, Christian Kracht und Dietmar Dath zu, die dystopische und postapokalyptische Welten verhandeln.
Doch warum ein öffentliches Logbuch führen?
Die Entscheidung, ein Logbuch über die gemeinsame Arbeit anzulegen und zusätzlich den Lesern des GRK1678-Blog zugänglich zu machen, basiert auf zwei Überlegungen:
1. Das Fahrzeug der Reise: Wissenschaftliche Texte als Artefakte des Kollektivs
Die erste Überlegung knüpft an die methodischen Grundlagen der “Schizophrenen Ökologien” an. Das Projekt orientiert sich methodisch wie begrifflich bei Bruno Latour, der den wissenschaftlichen Text gerade nicht als unproblematischen Bericht über die Ergebnisse eines Experimentes oder einer Studie versteht. In Bezug auf Bruno Latours ‘fünfte Quelle der Unbestimmtheit’ in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft verstehen auch wir den wissenschaftlichen Text als Artefakt, das am Ende vieler Operationen steht, um gleichzeitig wieder in die Prozesse des Kollektivs eingespeist zu werden. Die Fabrikation eines wissenschaftlichen Textes ist somit ein Mittler in einer fortlaufenden Kette von Übersetzungen zwischen Beobachter, Daten, Notizen, Entwürfen, Autor, Tastatur, Schriftzeichen, Leser etc.: “Be-schreiben, auf-schreiben, erzählen und das Schreiben von Abschlußberichten sind so unnatürlich, mühselig und komplex, wie es das Sezieren von Fruchtfliegen oder die Beförderung eines Teleskops in den Weltraum sind.”1 Das Logbuch ist konstitutiver Bestandteil einer Akteur-zentrierten Methode, die versucht die Entstehung eines Textes in seiner Komplexität ernst zu nehmen.
Stuhlarrangement mit Dietmar Daths “Abschaffung der Arten” (Suhrkamp Taschenbuch) im Doktorandenraum, 27. März 2015, 15:05, aufgenommen mit Motorola Moto G.
Uns interessieren hier besonders ›Notizbücher‹, die den Weg zum wissenschaftlichen Text dokumentieren sollen. Latour unterscheidet vier verschiedene Formen von Notizbüchern, die wir in eigener Terminologie aufzählen: Logbuch, Karteikästen, Entwürfe und Wirkungsprotokoll. Alle vier Notizbücher berücksichtigen wir auf die eine oder andere Weise im Verlaufe unseres Projektes. Für den Blog-Leser ist vorerst das Logbuch von besonderer Relevanz. Das Logbuch soll zum einen die begangenen Schritte der Reise protokollieren und zum anderen die Veränderungen enthalten, die wir selbst während der Arbeit mit diesen Texten erfahren.
Wir sind also weder neutrale Beobachter noch maliziöse Manipulatoren: Zwischen uns und dem Untersuchungsgegenstand entfaltet sich vielmehr diverse Wechselwirkungen in der Zeit, die zudem von vielen unerwarteten Entitäten zusätzlich dynamisiert oder modifiziert werden. Diese Kollektive (oder Akteur-Netzwerke) umfassen aber nicht nur uns als Autoren und die Romane Schmidts, Krachts und Daths als Untersuchungsgegenstand, sondern zu ihm gehören gleichfalls alle anderen Mitglieder des GRK1678, unsere Computer, deren Software, ja auch unsere Handbibliothek, unsere Tische, unsere Kaffeemaschine, unsere Kantinen oder unser Kiosk. Alle diese Akteure im Kollektiv sind im Normalfall zu einer stummen und geheimen Koexistenz verdammt. Wir erhoffen uns, durch das Logbuch mehr über die kollektive Produktion unserer Texte zu erfahren.
2. Es sind noch Plätze frei! Die Demokratisierung der Wissenschaft
Wieso aber dieses Logbuch auf dem Blog GRK1678 veröffentlichen? Präziser: Wieso ein Logbuch für ein Blog überhaupt erst schreiben? Die Antwort auf diese Fragen entspricht der zweiten Überlegung. Sie ist zweiteilig. Der erste Teil bezieht sich auf die Ziele dieses Blogs: Es hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur wissenschaftliche Inhalte zu vermitteln, sondern auch einen Einblick in die Arbeit des GRK1678 zu ermöglichen. Mit der fortlaufenden Dokumentation unseres Publikationsprojektes soll diesem Anspruch nachgekommen werden.
Martin Bartelmus, Büro Postdocs, 4. Februar 2015, 14:08, aufgenommen mit Motorola Moto G.
Der zweite Teil der Antwort ist wiederum durch Latour inspiriert. Unser Projekt »schizophrene Ökologien« orientiert sich an Latours ‘politischer Ökologie’, die er v.a. in Das Parlament der Dinge entwickelt. Eine zentrale Forderung der ›politischen Ökologie‹ ist ein neuer Wissenschaftler. Er soll nicht mehr als Auserwählter der Gesellschaft eine ko-existierende, aber stumme Außenwelt zum ‘Sprechen’ bringen und die Ergebnisse dieser Tätigkeit als ‘Tatsache’ der Gesellschaft verkünden können. Zum einen seien ‘Tatsachen’ nicht natürlich gegeben, sondern ein verhandelter Konsens, an dem menschliche und nicht-menschliche Akteure gleichermaßen beteiligt waren. Zum anderen sollen, wenn die ‘Tatsachen’ schon ein Verhandlungsergebnis seien, auch die Öffentlichkeit an ihrer Schaffung beteiligt sein. Das Logbuch auf dem Blog übersetzt die wissenschaftliche Arbeit in die Öffentlichkeit und stellt es dem Leser frei, mittels Kommentarfunktion an der Verhandlung teilzunehmen.
Sergej Rickenbacher, Büro Postdocs, 4. Februar 2015, 14:08, aufgenommen mit Iphone 4S.
Latours Soziologie und ‘politische Ökologie’ sollen aber nicht naiv übernommen werden (ebenso bildet er nicht die einzige theoretische Grundlage für die “Schizophrenen Ökologien”). Eine Irritation war für uns die Absenz der Literatur- und Sprachwissenschaft in Latours Soziologie und Ökologie. Gerade die Philologien könnten ja kompetent über die Praxis, Poetik und Poiesis von Texten Auskunft geben könnten. Den naturwissenschaftlichen Gestus der Objektivität, den Latour an der ‘Soziologie des Sozialen’ kritisiert, hat die Geisteswissenschaft diese Haltung spätestens mit dem linguistic turn abgelegt. Sie ist sich der Artifizialität ihrer Texte also schon längst bewusst, ohne deswegen den Anspruch auf Genauigkeit aufzugeben. Gerade angesichts des methodischen Bewusstseins für den konstruktiven Aspekt der eigenen Arbeit stellt sich aber die Frage, ob die Übersetzung der Textkonstruktion in eine Öffentlichkeit nicht ebenso dringlich wie für die Naturwissenschaften ist? Wir meinen ja. Im Gegensatz zur Natur- und Sozialwissenschaft wäre aber das Ziel einer solchen Übersetzung nicht die Dekonstruktion falscher ‚Tatsachen’ oder die Demaskierung einer falschen ‘Objektivität’. Vielmehr macht unser Logbuch erstens sichtbar, wie ‘experimentell’ die Literaturwissenschaft verfährt, und legt zweitens offen, wie und ob unsere Argumente funktionieren.
3. Das Ticket lösen: Medialität der Übersetzung
Latour gilt es auf einem zweiten Feld zu ergänzen, denn nicht nur der wissenschaftliche Text ist ein Artefakt. Auch das Logbuch ist keine Abbildung des Arbeitsprozesses. Es ist immer schon ein Medium im Sinne eines Mittlers – und dies nicht nur wegen seiner sprachlichen bzw. bildlichen Erscheinungsformen. Obwohl der Begriff ‘Logbuchs’ weniger vorbelastet als z.B. ein Protokoll ist, entspricht es bereits einem Standard, der das Merk-Würdige vordefiniert. Auch für ein Logbuch gilt, dass es nicht nur ein kausales Zwischenglied, sondern ein aktiver Übersetzer ist. In unserem Vorhaben verkomplizieren weitere Gegebenheiten das Verfassen eines Logbuchs:
Vorschau Artikel auf MacBookPro, Büro Postdocs, 27. März 2015, 16:28, aufgenommen mit Motorola Moto G.
- Es existiert nicht nur ein Autor, sondern wir sind immer zwei, wenn nicht mehrere Autoren.
- Das Blog GRK1678 verlangt nach einer verständlichen Präsentation unserer Einträge und zwingt zu einer Periodisierung. Damit einher geht aber die Gefahr der Ästhetisierung und der Anpassung. Die Intimität und Unmittelbarkeit eines Fahrten- oder Tagebuchs fehlt und der Leser agiert bereits als fiktive Ordnungsinstanz.
- Für den Leser des Logbuchs besteht die Möglichkeit, zu intervenieren und damit die Reiseroute mitzubestimmen.
- Wir haben mit dem Publikationsprojekt bereits begonnen. Neben zahlreichen, nicht dokumentierten Gesprächen hielt Martin Bartelmus im Workshop “Spekulation und Verführung” an der Universität Düsseldorf am 23.01.2015 einen Vortrag zu Daths Feldevàye und gemeinsam haben wir eine Bewerbung für den Essayband “Relationen. Essays zur Gegenwart” eingereicht, die einen Exposé, eine Leseprobe und eine vorläufige Gliederung enthielt. Der Zuschlag für den Essayband erhielten wir nicht.
Wie mit diesen medialen Übersetzungen umzugehen ist, können wir zum gegebenen Zeitpunkt nicht sagen. Gleichfalls steht die Form des digitalen Logbuchs noch nicht fest. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es ohnehin nie ein Formular bilden, das es einfach auszufüllen gilt. Die Wandlungen seiner Form werden Spuren unserer Reise sein. Bisher liegen folgende Parameter vor, die im Verlauf erweitert, ergänzt und modifiziert werden:
- Das Logbuch auf dem Blog GRK1678 wird alle 14 Tage aktualisiert.
- Der Aktualisierung geht ein halbstündiges Gespräch der Autoren voraus.
- Ein zufällig geschossenes Foto illustriert die Gesprächssituation.
- Menschliche und nicht-menschliche Akteure (z.B. Laptops, Smartphones, Software, Bücher, Handapparat, Drucker, Getränke, Räume etc.) sollen zum Sprechen gebracht werden.
Wohin die Reise führt, ist ungewiss. Über das Ziel kann auch das Logbuch keine Auskunft geben. Aber es erlaubt uns dereinst nachzuvollziehen, wie wir dorthin gelangt sind, und davon ausgehend ein besseres Verständnis unserer kollektiven Produktionen von Texten zu erhalten.
- Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 237.
Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/453