Umgang mit dem baulichen Erbe der Osmanen – Überlegungen anhand von fünf Städten

Karte von Südosteuropa 1812, Foto: Alexander Altenhof (KaterBegemot) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Gibt es den Typus der „südosteuropäischen Stadt“? Der Historiker Wolfgang Höpken jedenfalls lehnt eine derartige Verallgemeinerung ab: Es sei vollkommen undienlich, so unterschiedliche Städte wie Belgrad, Skopje und Thessaloniki in einer gedanklichen Kategorie subsumieren zu wollen, da man der immensen Vielfältigkeit dieser Städte so nicht gerecht werden könne.[1] Nachdem ich im Rahmen einer Übung und Exkursion zu „Städtebau und urbanem Leben in Südosteuropa“ eine Vielzahl von Städten der Region besichtigen durfte, würde ich mich Höpkens Urteil grundsätzlich anschließen. Diese Ansicht schließt jedoch nicht aus, dass die Städte des Balkans einige bedeutsame Gemeinsamkeiten besitzen: Die wohl prägendste historische Erfahrung, die beinahe alle Städte auf der Halbinsel teilen, ist die jahrhundertelange osmanische Herrschaft und die anschließende Umgestaltung der Stadt im Zuge der Nationsbildung. Doch trug auch diese Analogie interessanterweise zu der für die Region so charakteristischen Diversität bei: Zwar entwickelten alle südosteuropäischen Staaten ihr Nationalbewusstsein in Opposition zu der als Joch aufgefassten osmanischen Herrschaft, doch wurde in den jeweiligen postosmanischen Nationalstaaten ein unterschiedlicher Umgang mit dem osmanischen Erbe praktiziert.



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Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/1299

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Balkanissimo: Fußball-Länderspiel Serbien – Albanien, 14. Oktober 2014

Hochklassiger Fußball und Flaggenzeigen, das gehört international fast seit dem Beginn des Rasensports zusammen. Die Art, in der am Abend des 14. Oktober 2014 im Stadion von Partizan Belgrad beim Länderspiel zwischen Serbien und Albanien albanischerseits Flagge gezeigt wurde, hat man so trotzdem noch nie gesehen, und das hatte seine Folgen. Als circa in der 41. Spielminute eine Drohne im Stadion segelte und eine historisierende Karte des albanischen Siedlungsraums mitsamt Abbildungen des albanischen Staatsgründers Ismail Qemali und von dessen kosovarischem Zeitgenossen Isa Boletini sowie dem englischen Begleittext „Autochthonous“ mit sich schleppte, war bald darauf der Teufel los. Der für den SC Freiburg spielende Defensivspieler Stefan Mitrović übte sich in einer Abwehr der anderen Art, indem er mit einem hohen Sprung die provokante Fahne vom Himmel holte. Albanische Spieler stürzten zur Verteidigung des Stoffteils heran, einige Schläger aus dem Publikum stürmten das Spielfeld und prügelten wild auf die skipetarischen Spieler ein. Diese wehrten sich und wurden durch ihre Gegenspieler nunmehr tapfer gegen die von außen kommenden Prügler abgeschirmt. Bald blieb ihnen aber nur noch die von Wurfgeschossen begleitete Flucht in die Katakomben. Schon vor dem Einflug der Drohne war das Spiel wegen bengalischer Feuer beim Spielstand von 0:0 unterbrochen worden; zum Wiederanpfiff kam es nun nicht mehr. Welche Folgen der Spielabbruch und das ganze Geschehen für die beiden Fußballverbände und Mannschaften in der Qualifikationsrunde zur EM 2016 haben werden, in deren Rahmen das Skandalspiel gehörte, werden wir seitens der UEFA am 23. Oktober erfahren.

Das Spiel war schon vorab für viele Anwesende eine ganz besondere „Herzensangelegenheit“. Schuld daran war natürlich der offiziell gar nicht anwesende Dritte namens Kosovo. Der Krieg dort ist zwar immerhin 15 Jahre her, aber die emotionalen Wunden auf kosovarischer und serbischer Seite reichen weiter tief. Als seit 2008 jüngster Staat in Europa hat Kosovo weiterhin viele Probleme. Zu ihnen zählt, dass es in den meisten internationalen Sportverbänden wegen serbischen Einspruchs nicht Mitglied ist. Auf dem Fußballfeld folgt daraus, dass inzwischen zwar eine kosovarische Nationalmannschaft besteht, doch die kann höchstens Freundschaftsspiele austragen. Wer aus Kosovo stammt und gut Fußball spielt, tut sich das aus gutem Grund in der Regel nicht an. Davon profitiert nicht nur die Schweizer Nationalmannschaft, sondern vor allem die albanische: nicht weniger als acht der 11 Spieler, die in Belgrad für Albanien auf dem Rasen standen, sind in Kosovo geboren oder kommen aus der kosovarischen Diaspora in der Schweiz und in Deutschland. Die Anspannung, im Quasi-Feindesland vor dem Belgrader Publikum zu spielen, war bei ihnen mit Händen zu greifen. Rückendeckung durch eigene Fans hatten sie keine (diesen war ja vorher im Einvernehmen beider Verbände der Zutritt verboten worden), dafür erklangen von Beginn des Spieles an (und auf dem akustischen Höhepunkt im Stadion dann tausendfach) Gesänge, die auch für raue Fußballverhältnisse nicht gerade nett zu nennen sind. Einer der populärsten ging so: Ubij, zakolji da Šiptar ne postoji!1 Ohne Poesie verdeutscht bedeutet das in etwa: „Töte, schlachte, damit es den Albanesen auf dem Erdball nicht mehr gibt!“

Die Idee, zur Untermalung der Gesamtatmosphäre und zur gezielten Provokation eine Drohne für eine albanische Flaggendemonstration ins Stadion zu schicken, war bei all dem nur halb so originell, wie sie zunächst scheinen man. Bei einem Länderspiel ist sie zwar noch nie zur Anwendung gekommen, aber bei Ligaspielen gab es in Belgrad zuletzt schon öfters Drohnenauftritte. Vermutlich genügte es also für die jetzigen Täter, gelegentlich im Internet serbische Zeitungen zu lesen oder jemanden in Belgrad zu kennen, der von der praktischen Idee zu berichten wusste. Die anschließende albanisch-nationale Adaption dieser Methode war nun sprachlich zielgerichtet auf ein internationales Medienpublikum und auf eventuell des Englischen kundige serbische Stadiongäste ausgerichtet.

Wer aber hat die Eskalation mit der Drohne herbeigeführt? Die in regierungsfernen serbischen Blogs aufkommenden Verschwörungstheorien, dass dahinter Regierungskreise stünden, die den am 22. Oktober anstehenden Besuch des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama in Belgrad torpedieren wollten, kann man wohl beiseitelassen. War es dann Olsi Rama, der im Stadion anwesende jüngste Bruder des albanischen Regierungschefs, wie es im Gefolge serbischer Pressemeldungen auch die deutschen und sonstigen westlichen Qualitätsmedien fast einen ganzen Tag lang unkritisch verbreiten sollten? Dafür spricht auch unabhängig von seinem am Tag darauf von Tirana aus verbreiteten Dementi wohl rein gar nichts – aber praktisch alles spricht dagegen, angefangen von seinem Verhältnis zum älteren Bruder, der offenkundig als erster albanischer Staatschef seit Jahrzehnten nach Belgrad reisen will, bis hin dazu, dass eine regierungsaffine Persönlichkeit aus Albanien wohl kaum mit einer so durch und durch nichtstaatlichen Flagge wie jener durch das Stadion fliegenden identifiziert werden wollte. Sehr viel spricht hingegen dafür, dass es in der Tat nationalistische Fans des albanischen KF Shkëndija aus dem makedonischen Tetovo waren, so wie es in den sozialen Medien aus diesen Kreisen bald darauf neben anderen „Bekennernachrichten“ verlautet wurde.

Die Tetovoer Fans und Hooligans treten unter der Selbsttitulierung als „Ballisten“ ähnlich radikalchauvinistisch auf wie die im am Dienstag im Belgrader Stadion so reichlich vertretenen Hardcorefans und Hooligans von Partizan Belgrad. In der Hooliganlogik ergibt das Ganze denn auch von beiden Stadionfraktionen her reichlich Sinn: Den Gegner bis aufs Blut reizen, wenn man ihn schon nicht verprügeln kann. Die Drohne ist in dieser Auseinandersetzung ein ebensolcher Triumph der einen Seite wie umgekehrt das Einprügeln auf die albanischen Nationalspieler für jene Belgrader Hooligans, die die Absperrungen durchdrungen hatten.

In jeder anderen Logik aber gibt es nur Verlierer dieses Spiels. Die jungen Leute, die in Belgrad aus dem Kosovo für Albanien auf dem Rasen standen, mögen unter großem angestautem psychischem Druck gestanden haben, als sie nach dessen Fangaktion auf ihren serbischen Berufskollegen und Altersgenossen Mitrović losgingen. Trotzdem bleibt ihre Handgreiflichkeit auf dem Platz unentschuldbar, und der beifällige Jubel der jungen Leute von Tirana bis Mitrovica über die Vorkommnisse sollte der albanischen wie der kosovarischen Gesellschaft nur peinlich sein. Die serbischen Institutionen wiederum haben sich bis auf die Knochen blamiert: Mit keinem Wort sind sie rechtzeitig den rassistischen Hassgesängen im Stadion entgegengetreten, eine „feindliche“ Drohne – die ja auch wesentlich Gefährlicheres hätte tragen können als nur einen Fetzen Stoff – konnte in Anwesenheit des serbischen Staatspräsidenten Tomislav Nikolić ihre Kreise ziehen (vgl. mit entsprechender sicherheitstechnischer Kritik,2 4000 zuvor halbmilitärisch aufgebotene Bereitschaftspolizisten und das Ordnerpersonal im Stadium konnten nicht verhindern, dass gegnerische Spieler noch auf dem Rasen Opfer von Schlägerattacken aus dem Publikum wurden. Dazu kommen noch Politiker wie Außenminister Ivica Dačić, der munter über vermeintliche politische Hintergründe schwadronierte und dabei keinerlei Rücksicht auf zwischenstaatliche verbale Gepflogenheiten nahm. Der Balkan insgesamt präsentierte sich dem internationalen Publikum von einer Seite, als ginge es darum, alle über ihn vorhandenen westlichen Klischees zu erfüllen: hasserfüllt, unkontrolliert, desorganisiert. Und die „Internationalen“? Sie stehen kaum besser da: Eine UEFA, die die Brisanz der Partie offenbar nicht einzuschätzen wusste, die mit wechselseitigem Stadionverbot für die Gästefans ihre Schuldigkeit getan zu haben glaubte und nichts dafür tat, damit Serben Albanern und Albaner Serben sportsmännische Achtung entgegenbringen. Dazu kam die EU-Kommission, die über ihre Sprecherin den serbischen Behörden ein mehr als unerklärliches Lob für die „professionelle Handhabung“ der Situation aussprach.3 Das traurige Bild komplettieren die westlichen Medien, die mit Blick auf die Urheberschaft des Zwischenfalls bar eigener Recherche über Stunden nur diejenige (serbische) Version über das Geschehene weitertrugen, die ihnen mit der größeren Vehemenz serviert worden war. Fazit: Ein Trauerspiel, hoffentlich ohne Fortsetzung.

  1. Vgl. http://www.slobodnaevropa.org/content/article/26637528.html und http://www.youtube.com/watch?v=rrDdtVb2tZE.
  2. http://www.b92.net/info/vesti/index.php?yyyy=2014&mm=10&dd=15&nav_category=12&nav_id=911777.
  3. http://www.euractiv.com/video/eu-denies-role-serbia-albania-football-match-flag-stunt-309209.

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/290

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Geteilte Vergangenheiten, teilende Erinnerung: Wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina gedacht wird

 

von Ulf Brunnbauer (Universität Regensburg, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung)

Am 28. Juni dieses Jahres wurde die Nationalbibliothek Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo nach langjähriger Rekonstruktion wiedereröffnet. Sie war im August 1992 von den serbischen Belagerern in Brand geschossen worden, wobei das Gebäude schwer beschädigt und ein großer Teil der unikalen Sammlung orientalischer Schriften vernichtet wurden. Nach dem Ende des Bosnienkriegs stand die Ruine der Nationalbibliothek jahrelang hinter einem Bauzaun als unwillentliches Mahnmal für den Wahnsinn des Kriegs und der in ihm begangenen Verbrechen, bis endlich der Wiederaufbau in Angriff genommen und heuer zu einem guten Ende gebracht wurde.

Dieses gute Ende erfuhr allerdings am 28. Juni 2014 eine Eintrübung: An der Wiedereröffnungszeremonie hätten der Staatspräsident der Republik Serbien, Tomislav Nikolić, sowie der serbische Ministerpräsident, Aleksandar Vučić, teilnehmen sollen – im Sinne einer Versöhnungsgeste. Es blieb beim Konjunktiv, denn die beiden wichtigsten Politiker Serbiens sagten kurzfristig ab. Sie stießen sich an einer Aufschrift am Eingang zur Bibliothek, die besagt, dass dieses Gebäude von „serbischen Verbrechern“ in Brand gesetzt worden sei. Die serbische Regierungsspitze phantasierte allerdings von einem Wortlaut, der Begriffe wie „faschistische serbische Aggressoren“ und „Tschetniks“ beinhalten würde. Vor einem solchen Angriff auf die Würde der serbischen Nation könnten sie sich unmöglich sehen lassen.1 Anstelle nach Sarajevo reisten die beiden, Nikolić und Vučić, in das in der Republika Srpska gelegene, vom Regisseur Emir Kusturica errichtete Disney-Land-artige Kunstdorf Andrićgrad. Diese soll nominell den berühmten Schriftsteller Ivo Andrić ehren, der sich gegen diese Art von nationalistischer Vereinnahmung und kitschiger Huldigung nicht mehr wehren kann. In Andrićgrad inszenierte Kusturica am 28. Juni eine Nachstellung des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand. Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer wurden ausgiebig lobgepriesen. Mit ihrem Besuch dieses ethnonationalistischen Historienspektakel unter der Ägide einer politischen Entität, die ihre Genese aus einem Genozid bis heute leugnet, lieferte die serbische politische Elite jedenfalls all jenen Argumente, die ihr in den letzten Jahren ostentativ geäußertes Bekenntnis zu Europa für wenig glaubwürdig halten.

In Sarajevo wiederum glänzten Vertreter Serbiens und der Republika Srpska durch Abwesenheit. Auch die internationale Staatenwelt war kaum vertreten – mit Ausnahme der Österreicher: Die Wiener Philharmoniker spielten auf, der österreichische Bundespräsident Fischer nahm an der Eröffnungszeremonie teil. Diese österreichische Note war kein Zufall: Das Gebäude, das die Nationalbibliothek beherbergt, ist unter österreichisch-ungarischer Herrschaft errichtet worden und hat viele Jahre hindurch als Rathaus der Stadt Sarajevo gedient; daher auch ihre umgangssprachliche Bezeichnung als Vijećnica. Österreich hat sich beim Wiederaufbau engagiert und ist generell in Sarajevo stark präsent; zudem breitet sich unter den bosnischen Muslimen eine ausgesprochene Nostalgie für die Zeit der habsburgischen Herrschaft aus.

Was zeigen die beiden parallelen Episoden in Bezug auf die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Serbien und Bosnien-Herzegowina und allgemeiner hinsichtlich der vorherrschenden Geschichtspolitik? Für Serbien lässt sich konstatieren, dass das offiziell propagierte und vom Großteil der Gesellschaft akzeptierte Geschichtsbild noch nicht im „post-heroischen“ Zeitalter angekommen ist. Gavrilo Princip wird weiterhin als Befreiungsheld erinnert, ihm werden sogar neue Denkmäler gewidmet, wie das kürzlich in Istočno Sarajevo (der in der Republika Srpska gelegene Stadtteil Sarajevos) feierlich enthüllte; dessen realsozialistische Ästhetik eröffnet eine weitere Ebene der mnemotechnischen Kontinuität. Diese Denkmäler, ebenso wie die Inszenierung des Attentats vom 28. Juni 1914 sind eine Reaktion auf die in Serbien herrschende Wahrnehmung, Kräfte im Ausland wollten die Geschichte des Ersten Weltkriegs umschreiben und Serbien vom Opfer zum Täter machen. Entsprechend heftig fielen in Serbien die Reaktionen auf Christopher Clarks Buch „Sleepwalkers“ aus (vielfach ohne Lektüre des Buches, das noch nicht in serbischer Übersetzung vorliegt).2 Ebenso von Politik, nationalen Historikern und Medien heftig kritisiert wurde eine große internationale Tagung zum Ersten Weltkrieg, die im Juni 2014 in Sarajevo stattfand, da dort – so die in Serbien medial breit getretene, gleichwohl falsche Ansicht – Gavrilo Princip vom Helden zum Terroristen umgedeutet werden sollte.3

Geschichte, zumal wenn es sich um Stützpfeiler der nationalen Meistererzählung handelt, wird von den zentralen geschichtspolitischen Akteuren in Serbien noch immer als Ding betrachtet, das es zu verteidigen gilt gegen alle jene Kräfte, die es schon immer mit Serbien schlecht meinten. Diese wollen „uns“ nun auch noch die Geschichte rauben, nachdem sie Serbien in den letzten Jahrzehnten bereits so ungerecht behandelt haben; eine solche Angst vor Identitätsverlust wird von patriotischen Intellektuellen, Politikern und ihren medialen Sprachrohen häufig artikuliert. Es ist bezeichnend, dass die größte Tagung zum Ersten Weltkrieg in Belgrad von den Trutzburgen des ethnonationalen Geschichtsbewusstseins ausgerichtet wurde – unter der unvermeidlichen Schutzherrschaft des Patriarchen Serbiens: Die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, die Akademie der Wissenschaften und Künste der Republika Srpska und die Matica Srpska luden zu einer Konferenz zum Thema „Die Serben und der Erste Weltkrieg“.4

Andererseits war die Terminierung der Wiedereröffnung der bosnischen Nationalbibliothek auf den 28. Juni kein Akt der politischen Klugheit. Denn dadurch wurde fast zwangsläufig das Gedenken an den Krieg der 1990er Jahre mit jener an den Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht, obwohl diese beiden Kriege – außer in der patriotisch verzerrten Wahrnehmung lokaler Akteure – nichts miteinander zu tun haben. Damit ist weder der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gedient noch der bosniakisch-serbischen Versöhnung. Hier ist sogar der Klage der „Politika“, die nahe am Puls der serbischen Regierung publiziert, zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien immer öfter mit den Krieg der jüngsten Vergangenheit in Verbindung gebracht werde – wobei es die „Politika“ nicht unterlassen kann, dahinter dunkle Mächte zu vermuten.5 Dunkle Mächte waren es nicht, sondern vor allem die von Frankreich initiierte und der EU finanzierte Stiftung „Sarajevo – Herz Europas“, die das Gedenken an den Ersten Weltkrieg unglücklicherweise mit den politischen Realitäten Bosnien-Herzegowinas in Zusammenhang brachte. Die Stiftung führt im Jahr 2014 eine Reihe von kulturellen Aktivitäten in Sarajevo durch, mit folgendem hehren Ziel: „The aim of the Foundation is in no way to take a historical stance on the past but rather to promote peace, dialogue and solidarity for a future free from strife.“6 Sarajevo solle erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit stehen, dieses Mal aber als Ort, von dem eine Friedensbotschaft ausgehe.

Die Initiatoren des Unterfangens waren schlecht beraten: In einem Land, wo sich die ethnisch segregierten Parteien nicht einmal auf elementarste Verwaltungsvorschriften einigen, geschweige denn irgendeine gemeinsame Vision für das Land entwickeln können, gleicht eine derart moralisch aufgeladene Mission einer Überforderung der politischen Akteure. Schließlich können deren Sichtweisen auf die Vergangenheit unterschiedlicher nicht sein; dabei bricht sich die Interpretation des Ersten, ebenso wie des Zweiten Weltkriegs, an dem noch lebendigen Gedächtnis des Bosnienkrieges der 1990er, dessen Aufarbeitung innerhalb des Landes in den ethnonationalen Denkschablonen stecken geblieben ist. Kaum eine politische Frage wird in Bosnien-Herzegowina nicht mit dem Krieg und dessen Resultaten in Verbindung gebracht – angesichts radikal divergenter Erfahrungen führt das zu ebensolchen Wahrnehmungen und Erwartungen. Das gilt nicht nur für in die Zukunft gerichtete politische Projekte, sondern auch – und gerade – die Geschichtspolitik. Dabei legen die politischen Akteure und ihre Vorfeld-Intellektuellen große Kreativität an den Tag, auch vermeintlich unbestrittene Ereignisse zum Gegenstand konfligierender, an den aktuellen Interessen orientierter Interpretationen zu machen. Auf ein so epochales Ereignis wie das Attentat von Sarajevo trifft dies umso mehr zu: Ziehen viele Serben Bosniens eine Kontinuitätslinie von der österreichisch-ungarischen „Fremdherrschaft“ bis zum heutigen ungeliebten bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat, so sehen Bosniaken eine Verbindung von Gavrilo Princip bis Srebrenica.

Die Praktiken des Erinnerns des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina im Gedenkjahr 2014 illustrieren die Reproduktionsmechanismen nationaler, ja nationalistischer Geschichtsnarrative. Auch nach einer Unzahl von international großzügig geförderten Projekten zur Schaffung eines Bewusstseins für die Gemeinsamkeit der Geschichte, um Empathie für die Sichtweise der jeweils anderen zu generieren, dominiert ein mythisches Geschichtsbild, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine untrennbare Verbindung bringt und die Nation als Akteur und Organ der Geschichte begreift. Hauptgrund dafür ist die politische Instrumentalisierung von Geschichte: Politische Akteure geben bei den als für die eigene Nation schicksalhaft postulierten Ereignissen die Interpretationen vor; die zentralen Institutionen der historiographischen Produktion – gerade in Serbien, aber nicht nur dort – sind fest in der Hand von Vertretern einer patriotischen Geschichtsschreibung. Internationale Versöhnungsinitiativen können sich in einer solchen Konstellation als kontraproduktiv erweisen, wenn sie historische Fragen mit aktuellen politischen Debatten verbinden. Damit provozieren sie nicht nur Verteidigungshaltungen, sondern leisten genau jener Vergegenwärtlichung und Politisierung von Geschichte Vorschub, die einer nüchternen Sicht der Dinge entgegensteht.

  1. Adelheid Wölfl: „Kein gemeinsames Gedenken in Sarajevo“, Der Standard, 17.6.2014.
  2. Christopher Clark. The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2014.
  3. Zum Programm der Tagung, die vom IOS mitorganisiert wurde, siehe: http://konferencija2014.com.ba/.
  4. Für das Programm siehe: http://www.sanu.ac.rs/Projekti/Skupovi/2014WWI-1.pdf.
  5. „Revizija prošlosti u režiji velikih sila“, Politika, 27.6.2014.
  6. http://www.sarajevosrceeurope.org/purpose.html.

 

 

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/221

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