Der Geschmack des Archivs. Heute: Salz

Arlette Farges Der Geschmack des Archivs (frz. 1989, dt. 2011) ist ein Klassiker des kulturwissenschaftlich erweiterten Archivdiskurses. In vielen Aspekten der Archivpraxis ist er zwar nicht aktuell (Kröger 2011) und der Diskurs hat, weil er sich ja am Leben halten muss, auch theoretische Defizite entdeckt (Lepper/Raulff 2016, S. 5). Farges Verdienst bleibt aber, lange vor dem material turn , die subjektive Erkenntnis, wie die sinnlichen Überraschungen beim Umgang mit archivierten Akten, seien sie fragil, schmutzig oder schwer lesbar, die historische Arbeit beeinflussen: von den Sinneseindrücken verlangsamt, fühlt sich das Vorstellungsvermögen in das hinein, was es für die Lebenswelt der Verfasser und Betroffenen der Aktenstücke hält (Farge 2011: 19).

Vom „Geschmack“ redet Farge also metaphorisch. Wir wollen ihn aber wörtlich werden. Stellen wir uns vor, wir wären ein Papierfischchen, neue Nemesis des Papier-Archivs, und bissen herzhaft in ein ganz bestimmtes Schriftstück…



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Quelle: https://aktenkunde.hypotheses.org/768

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Telegrafie – Aktenkunde – Diplomatie (Emser Depesche, Schluss)

Manchen Lesern mag die aktenkundliche Behandlung der Emser Depesche in den letzten vier Postings erschöpfend detailliert vorgekommen sein. Dabei habe ich vieles ausgelassen oder vereinfacht. Aber es ist völlig legitim, die Sinnfrage zu stellen. Wo und wie hilft die Aktenkunde als Hilfswissenschaft? Zurecht wird die Forderung gestellt, die Aktenkunde müsse sich (wie vor ihr die Urkundenlehre) auch Fragen der pragmatischen Schriftlichkeit zuwenden (Schäfer 2009: 98-101, 119). Für die Telegrafie im Dienst der Diplomatie ist dies besonders reizvoll, und die Emser Depesche ist ein gutes Beispiel – das am Ende auch zeigt, warum das solide handwerkliche Fundament unverzichtbar bleibt.

David Nickles’ “Under the Wire” (2003) ist eine faszinierende Lektüre, noch dazu hervorragend geschrieben. Der Mitarbeiter im Historischen Dienst des Departement of State hat sich damit befasst, wie der Telegraf die Arbeitsweise und den Charakter der Diplomatie verändert hat: Erstmals konnten die Außenminister der Mächte ihre Botschafter minutiös dirigieren und in Krisenzeiten annähernd in Echtzeit handeln. Damit stieg allerdings auch der Handlungsdruck, mit vielleicht fatalen Folgen, wenn die öffentliche Meinung aufgestachelt war. Jedenfalls konnte die Außenpolitik zentralisiert und bürokratisiert werden. Für einen Politiker wie Bismarck, der seine Diplomaten als Befehlsempfänger betrachtete und Weisungen exakt ausgeführt wissen wollte, war der Telegraf wie geschaffen. So konnte er selbst von Varzin aus in das Geschehen eingreifen (Nickles 2003: 47 f., 117).

Die Emser Depesche erwähnt Nickles (2003: 7) nur en passant: “The Franco-Prussian war was the first major conflict whose origins were popularly associated with a telegram.” Aber nicht nur im kollektiven Gedächtnis ist die Emser Depesche emblematisch für die Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen: Nur mit der Geschwindigkeit dieser Technologie konnte Bismarck in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli eine verloren geglaubte diplomatische Operation mit wenigen geschäftstechnischen Handlungen um ihre eigene Achse drehen und in einen Sieg verwandeln.

Noch weiter treibt diesen Ansatz Tobias Nanz in seiner medienwissenschaftlichen Dissertation (2010). Für Historiker ist dieses Buch, in dem das System der europäischen Diplomatie anhand einer Dekonstruktion von Shakespeares “Der Sturm” beschrieben wird, vielleicht etwas ungewohnt. Auch muss man den assoziativen Sprachstil dulden, in dem Bismarck “wie ein optischer Telegraph agierte” (im Wortsinn angesichts der Statur des Fürsten Bismarck eine interessante Vorstellung) und “die komplexen Verflechtungen eines bevorstehenden Krieges in die fechttechnischen Codes Quartz [sic!] und Terz zu transformieren” imstande war (Nanz 2010: 180).

Dennoch bringt Nanz interessante Ansätze, etwa den Hinweis darauf, dass Bismarck mit Lothar Bucher einen Quereinsteiger ins Auswärtige Amt geholt hat, der als Redakteur des Wollfschen Telegrafenbüros große Erfahrung im Telegrammstil hatte, der maximalen sprachlichen Verkürzung von Nachrichten bis an den Rand der Verständlichkeit (Nanz 2010: 181-183). Was unmittelbar der Gebührenersparnis diente, kam Bismarcks Stil der Arbeit mit Drahterlassen zur Steuerung seines Apparats sehr entgegen.

Wenn Nanz (2010: 183 f.) in der Kürzung des Textes aber nur die konsequente Anwendung des Telegrammstils auf Abekens in der Tat umständlichen Bericht sehen will, geht das zu weit. Beim Telegrammstil geht es um die Verringerung der Wortzahl. Dazu werden alle irgendwie entbehrlichen Partikeln und Füllwörter gestrichen. “Ankomme Donnerstag” ist typischer Telegrammstil. Der Aktenbefund eines so redigierten Telegramms zeigt Streichungen und zwischen die Zeilen geschriebene Änderungen. Die Pfeilmarkierungen auf der Entzifferung von Abekens Telegramm zeigen aber keine redaktionelle, sondern eine inhaltliche Bearbeitung an. Bismarck wandte nicht den Telegrammstil an, denn die übernommenen Passagen zeigen unverändert Abekens Weitschweifigkeit. Vielmehr formulierte er durch Auslassung von Textblöcken eine Botschaft an die französische Führung. Letzteres sieht Nanz (2010: 186) auch selbst, löst den Widerspruch aber nicht auf.

In seinen Erinnerungen legt sich Bismarck (hg. v. Ritter/Stadelmann 1932: 310) Folgendes in den Mund: “Wenn ich diesen Text [...] sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsere Gesandtschaften mittheile, so wird er vor Mitternacht bekannt sein [...]“. Nun ist dieses Werk als Rechtfertigungsschrift bekanntlich mit großer Vorsicht zu rezipieren.

Daran fehlt es bei Nanz (2010: 188), der anhand des Aktenbefunds registriert, dass im Verteiler der “1. Expedition” zunächst auch das Wollfsche Telegraphenbüro stand, vor dem Abgang aber wieder gestrichen wurde: “Vielleicht hatte man im Auswärtigen Amt doch noch ein wenig Angst vor dem ‘gallischen Stier’. [...] Es bot sich offenbar eine weniger direkte Lösung an: Man verschickte die erste Expedition wie auch die zweite [...] im Gegensatz zur dritten um 2.30 Uhr morgens nicht in Ziffern, sondern en clair, wie man an der Korrektur am Kopf des Blattes bemerken kann. Jeder, der den Morse-Code beherrschte und Zugang zu einer Telegraphenleitung hatte, konnte den Text lesen. Damit dürfte für eine breite Öffentlichkeit gesorgt worden sein”.

Setzte Bismarck also auf ein “Ems-Leaks”? Nanz (2010: 186) weiß selbst, dass der Depeschentext schon um 21 Uhr als Extrablatt der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vertrieben wurde. Gegen 23 Uhr, also zum Zeitpunkt der Absendung der 1. und 2. Expedition, war er in der Berliner Öffentlichkeit schon allgemein bekannt (Walder 1972: 19 Anm. 2, 73). Da brauchte es keine geschwätzigen Telegraphenbeamten mehr.

Nanz übersieht hier den eigentlichen Witz im Verteiler der 3. Expedition: die Vorgabe eines Leitwegs über England für den nach Madrid bestimmten Erlass (4. Folge). Damit wurde eine Durchleitung durch Frankreich vermieden.

Im Quai d’Orsay lag der Depeschentext anhand der Zeitungsmeldungen erst am Morgen des 14. Juli vor, der Originaltext der 3. Expedition über den französischen Ministerresidenten in München erst am Mittag (Brase 1912: 147 f.). Um 12.30 Uhr berichtete schließlich auch der französische Botschafter, der in Ems ebenfalls aus der Zeitung davon erfahren hatte, nach Paris (Benedetti 1871: 386).

Was war hier passiert? Gerade in Paris wurde der Text eben nicht schon “vor Mitternacht” bekannt. Der aktenkundliche Befund zu Punkt 9 des Verteilers auf der 3. Expedition macht evident, dass genau das, nämlich ein frühzeitiges Bekanntwerden in Frankreich, verhindert werden sollte. Die französische Regierung sollte die Nachricht aus der Zeitung erfahren, um die Demütigung zu vervollständigen, und eben nicht durch ein Leck.

Bismarck rechnete mit der Kompromittierung der Madrider Chiffre und wählte deshalb den Leitweg über London. Er wollte verhindern, dass Gramont es von seinem cabinet noir erfährt, bevor er es in der Zeitung lesen muss. In dieser Feststellung liegt der historische Erkenntniswert der unscheinbaren Verteiler-Verfügung.

Wir sehen in diesem aktenkundlichen Befund eine präzise aus der Ferne gelenkte Operation, deren Timing von wenigen Stunden abhing. Die Emser Depesche bestätigt  eindrucksvoll die Schlüsse, die Nickles für die pragmatische Schriftlichkeit Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen gezogen hat. Sie baut Interpretationen historischer Quellen vor, die sich zu weit von der Basis entfernen. Und sie ermöglicht es, aus dem „Text“ des „Dokuments“ und den Bearbeitungsspuren auf dem physischen Schriftträger die vollständige Quellenbasis überhaupt erst herzustellen.

Handwerkliche Expertise ist nicht alles, aber ohne sie ist die historische Arbeit nichts.

- Fin -

Literatur

Benedetti, [Vincent] Comte 1871. Ma mission en Prusse. 2. Aufl. Paris 1871. (Online)

Bismarck, Otto von. Erinnerung und Gedanke. Ritter, Gerhard und Stadelmann, Rudolf Hg. 1932. Gesammelte Werke 15. Berlin.

Brase, Siegfried 1912. Emile Olliviers Memoiren und die Entstehung des Krieges von 1870. Historische Studien 98. Berlin.

Nanz, Tobias 2010. Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich/Berlin.
Nickles, David Paull 2003. Under the Wire. How the Telegraph Changed Diplomacy. Harvard Historical Studies 144. Cambridge, MA 2003. (Vorschau bei Google Books)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Aufl. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/235

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Emser Depesche: Bismarcks Redaktion

Die provokative Verkürzung des Originaltexts durch Bismarck macht den besonderen Charakter der Emser Depesche als Geschichtsquelle aus. Den entscheidenden Bearbeitungsschritt haben wir in der Form dünner Bleistiftmarkierungen auf der Berliner Entzifferung von Abekens Drahtbericht identifiziert. Damit sind wir aber noch nicht am Ende.

Die Frage nach der Verantwortlichkeit ist eine Triebfeder der Aktenkunde. Dass die politische Verantwortung für das Manöver, eine redigierte Version zu veröffentlichen, letztlich bei Bismarck lag, ist unbestreitbar. Aber natürlich hatte der Fürst für die Einzelheiten seine Leute. Wer hat aus den Bleistiftmarkierungen den neuen Text destilliert, also die Angabe des Fürsten zum Entwurf extendiert?

1. Expedition des redigierten Depeschentexts (PA AA, R 11674)

1. Expedition des redigierten Depeschentexts, unten Paraphe “vBu”
(PA AA, R 11674)

Der redigierte Text wurde mit drei Schreiben verbreitet, die als 1., 2. und 3. Expedition bezeichnet wurden:

  1. Expedition um 23.15 Uhr an die preußischen Gesandten an anderen deutschen Hofen, sowohl innerhalb des Norddeutschen Bundes als auch in den süddeutschen Staaten,
  2. Expedition, ebenfalls um 23.15 Uhr, an die Regierungen norddeutscher Bundesstaaten, bei denen Preußen keine Gesandtschaften unterhielt,
  3. Expedition um 2.30 Uhr, also bereits am 14. Juli, an die preußischen bzw. norddeutschen Botschafter und Gesandten bei den Regierungen der europäischen Mächte.
2. Expedition: Verteiler

2. Expedition: Verteiler

Der Empfängerkreis ist jeweils als durchnummerierte Büroverfügung oben rechts auf den Rand der halbbrüchigen Konzeptbeschriftung gesetzt.

3. Expedition: Verteiler (PA AA, R 11675)

3. Expedition: Verteiler
(PA AA, R 11675)

Systematisch betrachtet, sind die 1. und 3. Expedition Runderlasse der Zentrale des Auswärtigen Amts des Norddeutschen Bundes (des Preußischen Ministeriums des Auswärtigen) an nachgeordnete Auslandsvertretungen. Dagegen verkörpert die 2. Expedition Mitteilungsschreiben an (nominell) gleichgestellte Regierungen. Man kann das unmittelbar an dem Zusatz “Theilen Sie dies dort (unverzüglich) mit” am Ende von 1 und 3 ablesen.

Diese Unterscheidung ist keine Haarspalterei, sondern zeigt an, mit welchem Fortgang zu rechnen ist: Bei 1 und 3 wird die Nachricht im Rahmen einer mündlichen Demarche des preußischen Vertreters bei der jeweiligen Regierung überbracht, über deren Ausführung in den Akten mit einem Bericht zu rechnen ist, der dann Aufschluss über eventuelle Zusatzinformationen aus dem Gespräch geben mag. Bei 2 ist das nicht so, da die fremde Regierung der unmittelbare Empfänger ist. Solche Sachzusammenhänge sind aktenbildende Faktoren und quellenkritisch relevant.

Ernst Engelberg schreibt in seiner meisterhaften Bismarck-Biografie (1985: 724) ganz selbstverständlich: “Wieder zog er seinen Vertrauten Lothar Bucher heran; von seiner Hand liegt auch das Konzept der Bismarckschen Neu-Redaktion der Abekenschen Emser Depesche vor.” In der Tat war Lothar Bucher einer der engsten Mitarbeiter Bismarcks. Es war Bucher, der die Tage zuvor mit Bismarck in Varzin verbracht und dort den Schriftverkehr in der Spanischen Thronfolgekrise erledigt hatte (Nanz 2010: 183). Nun war Bismarck aber wieder in Berlin und hatte den ganzen Beamtenstab des Auswärtigen Amts zur Verfügung.

Walder (1972: 16-19) löst die Paraphe, die alle drei Expeditionen tragen, mit “Bu[=Otto von Bülow]” auf (vgl. die Abb. der 1. Expedition, ganz unten rechts). Beide, Bucher und v. Bülow, waren Vortragende Räte in der Politischen Abteilung und kommen damit als ausführende Hand des Kanzlers infrage.

Das “N. S. E.” vor der Paraphe bedeutet “Namens seiner Exzellenz” und entspricht einem heutigen “im Auftrag”. Die Exzellenz war natürlich Bismarck.

Heiteres Paraphenraten ist aktenkundlicher Breitensport: Bei beiden Kandidaten ist der paläographische Grundbestand “Bu” für eine Paraphe denkbar. Die Vorentscheidung fällt durch den gerundeten Haken in Schreibrichtung vor dem “B” – das sieht nach einem flüchtigen “v” aus.

Gewissheit verschafft der Blick in zeitgenössische Paraphensammlungen. Sie liegen in den “Geschäftsgangsakten” vor, mit denen das Auswärtige Amt seine eigenen Geschäftsprozesse verwaltete. In einer Sammlung von 1877 finden wir beide Kandidaten untereinander (Aktenzeichen IV GG 11 Bd. 7 – freundlicher Hinweis meines Kollegen Dr. Gerhard Keiper).

Lothar Buchers und Otto von Bülows Paraphen PA AA, R 138471

Lothar Buchers und Otto von Bülows Paraphen
(PA AA, R 138471)

Also hat Walder richtig gelesen, aber falsch transkribiert: Otto von Bülow hat die drei Expeditionen mit seinem “vBu” abgezeichnet und trägt damit die formale bürokratische Verantwortung. Das bedeutet aber noch nicht, dass die Konzepte insgesamt von seiner Hand stammen, wie es Engelberg für Bucher insinuiert. Dies war eigentlich die Aufgabe der Sekretäre, in Stoß- und Krisenzeiten konnte der Geheimrat aber durchaus auch selbst zur Feder greifen. Offenkundig ist, dass die drei Expeditionen von drei verschiedenen Händen stammen. Ohne Anspruch auf letzte Gewissheit scheinen mir die 1. und 2. Expedition von der Hand von Sekretären zu stammen, während die Nr. 3 v. Bülow selbst niedergeschrieben haben könnte; der Duktus ist flüchtig, ähnelt aber gesicherten Autographen.

Sehen wir uns an, was geschäftstechnich passiert. Bei Rundschreiben besteht zwischen dem Konzept und den anzufertigenden Reinschriften eine 1:N-Beziehung. Für jeden der listenmäßig aufgeführten Adressaten wird eine Reinschrift erstellt. Durch Randverfügungen können für jeden Empfänger außerdem Änderungen am gemeinsamen Text vorgesehen werden. Das deutlichste Beispiel bietet dafür die 9. Reinschrift der 3. Expedition.

9) An Graf Bernstorff, London. (Londoner Chiffre:) Geben Sie Nachfolgendes via Falmouth an Canitz in Madrid telegraphisch weiter. (Madrider Chiffre:) Inseratur wie oben; zuzufügen in Ziffern: Bismarck.

Was passiert hier? Graf Bernstorff, der Botschafter in London, ist bereits der Adressat der 1. Reinschrift der 3. Expedition. Für die 9. Reinschrift wird der Sekretär angewiesen,

  • anstelle “Namens seiner Exzellenz: von Bülow” explizit Bismarcks Namen zu setzen (um die Autorisierung der Mitteilung zu betonen),
  • den Text dann in der Chiffre zu verschlüsseln, die für den Telegraphenverkehr mit der Gesandtschaft in Madrid vorgesehen war,
  • die Weisung an London, diesen (dort nicht lesbaren!) Text auf einem bestimmten Weg nach Madrid weiterzuleiten, in der Chiffre der Botschaft in London zu verschlüsseln,
  • und den ganzen Salat im Klartext an Graf Bernstorff zu adressieren.

Der Chiffrieraufwand für diese neuen Reinschrift erklärt, warum die 3. Expedition erst drei Stunden nach den beiden ersten, offen bzw. en clair versandten Expeditionen abging.

Der Sinn dieser Operation war es natürlich zu verhindern, dass das französische Cabinet noir, wie man das einmal nannte, das Telegramm für Madrid auf einem Leitweg durch Frankreich abfängt. Die französische Regierung sollte nicht zu früh im Bilde sein. Darauf kommen wir in der nächsten Folge zurück.

Das Rundschreiben mit Anpassungen für einzelne Empfänger ist ein sehr effektives Werkzeug. Aus 3 Schriftstücken, die den Sachverhalt heute in den Akten der Berliner Zentrale dokumentieren, wurden in der Nacht auf den 14. Juli 1870 22 Reinschriften für das Telegrafenamt (Aufgabetelegramme) und ebenso viele Ankunftstelegramme, die dem Empfänger ausgehändigt wurden. Von den 9 chiffrieren Telegrammen mussten dann die uns als Überlieferungsform bereits bekannten Entzifferungen angefertigt werden. Das sind bereits 56 Textzeugen.

In London wurde aus Nr. 9 der 3. Expedition ein neues telegraphisches Schreiben an die Kollegen in Madrid. Angenommen, des Ankunftstelegramm habe als Entwurf gedient, so wären noch die Londoner Reinschrift, das Madrider Ankunftstelegramm und die dortige Entzifferung hinzugekommen (theoretisch – ich habe es nicht nachgeprüft). Macht 59.

Und das ist nur der Niederschlag, der als Teil von Behördenakten die Chance hat, durch Archivierung zu einer historischen Quelle zu werten. Verloren ist das Zwischenmaterial der Telegrafenstationen: die Endlosstreifen mit den Punkt-Strich-Mustern der Morse-Apparate oder schon dem Typendruck von Hughes-Fernschreibern und die Eingangsbücher, in denen der Text der Ankunftstelegramme vor der Ausfertigung für den Empfänger “zwischengespeichert” wurde. Solches Zwischenmaterial fiel auf einem längeren Leitweg auch bei jeder Zwischenstation an!

Die Zahl der ursprünglich insgesamt erstellten Textzeugen dürfte in die Hunderte gehen.

Für die geschichtswissenschaftliche Quellenkritik reduziert sich dieses Korpus auf “die Emser Depesche”, die dann womöglich noch mit Abekens Konzept und der Berliner Entzifferung nach Art philologischer Textkritik kollationiert wird. Es steht außer Frage, dass die Komplexität der materiellen Überlieferung für historische Untersuchungen auf die relevanten Aspekte und ein handhabbares Maß reduziert werden muss. Am Ende sieht man sonst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Man sollte sich aber des Ausmaßes der Abstraktion von der materiellen Überlieferung bewusst bleiben, um nicht vorschnell relevante Details über Bord zu werfen.

Im letzten Teil der Serie soll es um die Perspektiven gehen, die eine über das rein handwerkliche hinausgehende Aktenkunde für die Interpretation historischer Quellen bietet.

Literatur

Engelberg, Ernst 1985. Bismarck: Urpreuße und Reichsgründer. Berlin.

Nanz, Tobias 2010. Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich/Berlin.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/228

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Die Julikrise 1914 in ihren Telegrammen

Auf Archivalia macht Dr. Graf in dankenswerter Weise eine breite Netzöffentlichkeit auf die Digitalisate zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufmerksam, die das Politische Archiv des Auswärtigen Amts kürzlich online gestellt hat.

(Wer das Impressum dieses Blogs nicht kennt: Ich bin Mitarbeiter des Politischen Archivs.)

Die digitalisierten Unterlagen aus den Akten des Auswärtigen Amts sind mit Hintergrundmaterial verknüpft, u. a. zur Aktenkunde des Auswärtigen Dienstes um 1914. Die aktenkundliche Einführung beruht auf Meyer (1920), setzt aber in Form von bearbeiteten Scans auf die alte Weisheit, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt.

Über Einschätzungen zum didaktischen Wert und Nutzen dieser Mini-Aktenkunde würde ich mich an dieser Stelle freuen.

Wer meine laufende Serie zur Emser Depesche verfolgt, findet in den Akten zur Julikrise insbesondere zu den Telegrammen viel Vergleichsmaterial.  Es ist doch merkwürdig, dass ein Typ von Schriftstücken, der fast 150 Jahre lang das hauptsächliche Arbeitsmaterial der Diplomatie war und als solches im Guten wie im Bösen Weltgeschichte geschrieben hat, von der akademischen Aktenkunde allenfalls gestreift wird.

Mehr zu den Eigenheiten des Telegramms in der nächsten Folge der “Emser Depesche”, die ich in der kommenden Woche veröffentlichen will.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/219

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