So wird’s gemacht: Aktenkundliche Kritik einer modernen Stadtrechtsverleihung

Dieses Blog will auch verdeutlichen, dass Aktenkunde keine Trockenübung ist, sondern tatsächlich etwas bringt. Ein ausgezeichnetes Beispiel für methodisches Vorgehen und historische Erkenntnisstiftung hat jüngst der Stadtarchivar von Greven, Dr. Stefan Schröder, veröffentlicht.
Greven liegt im Landkreis Steinfurt in Nordrhein-Westfalen. Stefan Schröder leitet das Grevener Stadtarchiv, das eine auf den 22. November 1949 ausgestellte Urkunde des nordrhein-westfälischen Innenministers für die Verleihung des Stadtrechts verwahrt – als solche wurde dieses Schriftstück bislang zumindest aufgefasst.

In seinem Aufsatz analysiert Schröder (2014/2015) die Akten des Düsseldorfer Innenministeriums im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen mit dem klassischen, auf Heinrich Otto Meisner zurückgehenden Instrumentarium der Aktenkunde und gelangt zu einer überzeugenden radikalen Kritik des urkundlichen Prachtstücks.

Der Beitrag steht online zur Verfügung (pdf/9 MB).

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/473

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Medialisierung als neues Paradigma?


Frank Esser, Jesper Strömbäck: Mediatization of Politics. Understanding the Transformation of Western Democracies. Basingstoke: Palgrave.

Medialisierung wirdEsser Strömbäck 2014 - Cover in der Einleitung als ein vielversprechendes Konzept beworben, mit dem Prozesse und Phänomene auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene erfasst und so die Rolle der Medien in der Transformation etablierter Demokratien untersucht werden können. Als theoretischer Rahmen dient die von Jesper Strömbäck im Jahr 2008 vorgestellte vierdimensionale Konzeptualisierung von Medialisierung der Politik. Diese bietet sich nicht zuletzt auch deshalb besonders gut als theoretischer Hintergrund für solch einen Sammelband an, weil hier auf vier Dimensionen sowohl unterschiedliche analytische Ebenen, als auch unterschiedliche Forschungsrichtungen der Kommunikationswissenschaft adressiert und auf diese Weise unter dem Dach der Medialisierungsforschung vereint werden können (S. 6f.).

Aus neo-institutionalistischer Perspektive richten Esser und Strömbäck den Fokus auf Nachrichtenmedien. Als Sinnzusammenhang wird das „news media system“ konzipiert (S. 13) und entsprechend das Konzept der Medienlogik unter dem Namen „news media logic“ konkretisiert (S. 16-19). Die Medialisierung von Politik definieren sie dann als Langzeitprozess, durch den „the importance of the news media as an institution, and their spill-over effects on political processes and political institutions, has increased.“ (S. 22)

Damit sind die grundlegenden Bezugspunkte dieses Sammelbandes festgelegt. Im zweiten Teil folgen theoretische Beiträge führender Autoren aus dem Feld der politischen Kommunikation, die zunächst größere Fragen stellen:

Welche Folgen hat Medialisierung für die Demokratie? Wie wirkt sich Selbst-Medialisierung von Politikern auf die Gesellschaft aus? Und wie sieht die Zukunft aus? Jay G. Blumler zeigt hier gekonnt, dass politische Kommunikation nicht nur aus der Interaktion zwischen Journalisten und Politikern besteht, sondern auch andere Akteure umfasst (etwa: Denkfabriken, Soziale Bewegungen, Interessengruppen und Lobbyisten, internationale Agenturen, parlamentarische Komitees oder Wissenschaftler). Damit revidiert er das von Gurevitch und ihm konzipierte political communication system (S. 39). Abschließend plädiert Blumler dafür, den Forschungsfokus zu erweitern und sich anstelle der Medialisierung von Politik, lieber der Medialisierung von Öffentlichkeit zu widmen.

Hervorzuheben ist auch Gianpietro Mazzolenis Beitrag zu medialisiertem Populismus (S. 50), in dem er einen Wandel hin zur „Mediatization 2.0“ konstatiert: Eine Situation, in der sich die Logik der traditionellen Medien mit interaktiven Kommunikationsmodi (etwa soziale Netzwerke) vermischt, um das politische System von den Massenmedien abhängig zu machen – „more dependent than ever“ (S. 44). Ein neuer Kontext also, in dem sich Politiker mir einer „fragmented, reactive and largely uncontrollable audience“ (S.49) konfrontiert sehen. Nichtsdestotrotz findet Medialisierung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen und auf allen Ebenen statt. Auch wenn sich Wissenschaft vorwiegend auf die Medialisierung der politischen Sphäre konzentriere. (S. 43)

Winfried Schulz setzt sich dann in einer analytisch wertvollen Abhandlung mit dem Gebiet Medialisierung und Neue Medien auseinander, während Frank Marcinkowski und Adrian Steiner hier die Möglichkeit erhalten, ihr systemtheoretisch angelegtes Medialisierungskonzept einem englischsprachigen Publikum darzulegen.

Am Ende dieses Theorieteils fragt sich der Leser, wie soziologischer Institutionalismus und Systemtheorie miteinander zu vereinbaren sind. Aber das ist nicht Ziel des Sammelbandes. Hier könnte kumulative Theoriebildung (S. 238) stattfinden, im Vordergrund stehen aber „assessing and furthering our theoretical as well as empirical understanding of the mediatization of politics“ (S. 5).

Empirisch könnte es dann auch weitergehen. Die Auswahl der Beiträge im dritten und letzten Teil verdeutlicht jedoch, dass es an empirischen Studien mangelt. Wie oben angedeutet, kann entlang der vier Dimensionen von Strömbäck auch eine Medieninhaltsanalyse als Medialisierungsstudie verstanden werden (so auch Udris & Lucht, D’Angelo et al.). Dennoch sind drei von sechs Beiträgen Literatursynopsen (Shehata & Strömbäck, De Vreese, Van Aelst et al.), die etablierte Forschungsstränge (Mediennutzung, Framing, Agenda-Setting) an das Medialisierungskonzept koppeln.

Patrick Donges und Otfried Jarren demonstrieren schließlich, dass Medialisierungsforschung mithilfe qualitativer und quantitativer Methoden neue Zugänge erlaubt. In ihrem Beitrag stellen sie zwei Studien zur Medialisierung politischer Organisationen im internationalen Vergleich vor. Während die Medialisierung politischer Parteien anhand von Dokumentenanalysen und Leitfadeninterviews analysiert wird, stützt sich die Untersuchung der Medialisierung von Interessengruppen auf Online-Befragungen. Die Fallstudien belegen, dass Medialisierung stattgefunden hat, wenn auch nicht im erwarteten Ausmaß. Zudem gibt es länderspezifische Unterschiede. Dennoch können sich politische Organisationen aufgrund ihrer Organisationsformen und einer starken Pfadabhängigkeit nicht uneingeschränkt an die Medienlogik anpassen. Obwohl diese Studien keine konkreten Rückschlüsse über die Medienlogik erlauben (erfasst wird hier lediglich die wahrgenommene Medienlogik), wird die Existenz einer umfassenden Logik bezweifelt und eine neue Definition gefordert (S. 196).

Dieser Sammelband bündelt erkenntnisreiche Beiträge. Leider sind sie nicht so neu, wie man zunächst vermuten mag. Dennoch bilden sie den Stand der Medialisierungsforschung gut ab: Es wird viel versprochen und gefordert. Empirische Studien sind in diesem Forschungsfeld nach wie vor rar und wenn es hart auf hart kommt, entscheiden sich Autoren auch für ein anderes Label. Der Blick in die Zukunft stimmt jedoch optimistisch: „A Paradigm in the making“ heißt das Fazit der Herausgeber, das eine gelungene Nachbereitung der Beiträge darstellt.

Zur Verlagshomepage

Quelle: http://medialogic.hypotheses.org/287

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„Hier wird regiert!“ – eine Ausstellung in Wolfenbüttel

Ausstellungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit bringen regelmäßig Aktenschriftstücke als Exponate, aber sie eröffnen keine methodischen Bezüge zur Aktenkunde. Das ist bei dieser Ausstellung in der Neuen Kanzlei in Wolfenbüttel anders.

Die Neue Kanzlei in Wolfenbüttel. Eigenes Bild, CC-BY-SA

Die Neue Kanzlei in Wolfenbüttel. Eigenes Bild, CC-BY-SA

Die Neue Kanzlei beherbergte seit ihrer Fertigstellung 1590 auch die Schreibstube und das Archiv der Verwaltung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Fassade hat seit einem historisierenden Umbau Mitte des 19. Jahrhunderts wenig Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglichen Anblick. Das Besondere ist aber, dass sich im Erdgeschoss die markanten Teile der Innenausstattung des Archivs - nach heutigem Verständnis: der Registratur - erhalten haben, nämlich wandhohe Einbauschränke mit hölzernen Aktenladen, daneben auch Archivtruhen von beeindruckenden Ausmaßen (Bild).

Man kann sich leicht vorstellen, wenn man in diesen Gewölben steht, wie geschäftige Sekretäre und Registratoren schreiben, abstreuen und siegeln, Konzepte von Raum zu Raum bringen, Laden öffnen und schließen, Akten ausheben und reponieren.

Die Idee der Macher, ausgerechnet hier eine Ausstellung zur Herrschaft im Zeitalter des "Policey"-Staates und zu deren verschriftlichter Praxis zu inszenieren, ist deshalb brillant. Der Titel der Ausstellung ist ihr Programm: Genau hier wurde regiert. Der zeitliche Bezug ist die Regierungszeit Herzog Anton Ulrichs (Mitregent 1685, allein 1704-1714), eine wichtige Epoche der braunschweigischen Landesgeschichte. (Offizielle Ausstellungsbeschreibung)

Heute beherbergt die Neue Kanzlei die archäologische Abteilung des Braunschweigischen Landesmuseum, das für dieses Projekt mit dem Standort Wolfenbüttel des Niedersächsischen Landesarchivs kooperiert hat. Die Ausstellung läuft bis zum 3. Mai 2015.

Die Ausstellungsmacher haben sich große Mühe gegeben, durch ein ansprechendes, aber nicht krampfhaft zeitgemäßes Design die Ausstellung für ein breites Publikum interessant zu machen; das Symbol der Ausstellung ist die Silhouette eines Würdenträgers mit barocker Perücke und zur "Merkel-Raute" gelegten Händen. Die ungünstigen Öffnungszeiten (Mi. 15-19 Uhr, Fr.-So. 10-17 Uhr) werden dem Publikumserfolg trotz dieses Bemühens um Zugänglichkeit aber wohl Grenzen setzen. Die "Braunschweiger Zeitung" titelte in ihrer Ausgabe vom 19. November 2014 "Mehr Bürokratie wagen" und findet die Ausstellung ganz interessant, auch wenn es viel olles Papier zu sehen gibt. Da ist wohl etwas nicht ganz 'rübergekommen.

Außenaufgang zur Loggia des 1. Stocks (ehemaliger Audienzsaal). Eigenes Bild, CC-BY-SA

Außenaufgang zur Loggia des 1. Stocks (ehemaliger Audienzsaal). Eigenes Bild, CC-BY-SA

Es ist ein Begleitband mit Miszellen zur Herrschaft Herzog Anton Ulrichs erhältlich, der mit Abbildungen zahlreicher Exponate illustriert ist, aber keinen Ausstellungskatalog im eigentlichen Sinne darstellt (Bei der Wieden u. a. 2014). Aus aktenkundlicher Sicht sind aus dem Inhalt besonders hervorzuheben Brage Bei der Wiedens verwaltungsgeschichtlicher Abriss "Die Fürstlichen Kollegien und ihre Organisation" (S. 42-57) und Markus Friedrichs "Regierungspraxis und Archivbenutzung in Wolfenbüttel zur Zeit Anton Ulrichs (S. 136-155) - letzteres ein Zeugnis der erfreulichen Hinwendung der Geschichtswissenschaft zur Archivgeschichte und zum Archiv als Element des Machtapparats der Obrigkeit.

Die Ausstellung ist von der Menge der Exponate her klein, aber aussagekräftig. Das Landesmuseum hat eine Anzahl interessanter Realien von der Münzwage bis zum Richtschwert gestellt. Für hilfswissenschaftlich Interessierte stehen natürlich die Archivalien das Landesarchivs im Vordergrund, die mit dieser Ausstellung in den räumlichen Zusammenhang ihrer Entstehung, administrativen Wirksamkeit und jahrhundertelangen Aufbewahrung zurückkehren. (Die Neue Kanzlei diente vor ihrer Widmung zum Museum bis 1956 als Staatsarchiv.)

Der besondere Reiz dieser Ausstellung liegt in der fassbaren Inszenierung pragmatischer Schriftlichkeit der frühneuzeitlichen Obrigkeit. Diese Erfahrung nutzt auch der praktischen Anwendung der Aktenkunde. Mit einem plastischen Bild von den physischen Verhältnissen vor Augen fällt es leichter, den Geschäftsgang eines frühneuzeitlichen Schriftstücks nicht nur zu rekonstruieren, sondern auch zu verstehen.

Literatur

Bei der Wieden, Brage/Wendt-Sellin, Ulrike/Derda, Hans-Jürgen, Hg. 2014. Hier wird regiert! Die Beamten im Dienste des durchlauchtigsten Herzogs Anton Ulrich. Kleine Reihe des Braunschweigischen Landesmuseums 6. Braunschweig.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/282

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Warum wählen wir? Funktionen und Bedeutungen von Wahlen im 19. Jahrhundert (Gastbeitrag Hedwig Richter)

Hedwig Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Der nachstehende Beitrag skizziert und illustriert ihr laufendes Habilitationsvorhaben „Kulturgeschichte der Wahlen. Funktionen und Bedeutungen von politischen Wahlen in Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert“. Über die von ihr und Hubertus Buchstein zu demselben Themenbereich organisierte Tagung „Culture and Practice of Elections“ im Mai 2014 wurde auf diesem Blog bereits mehrfach berichtet. Für die Bereitstellung des hier veröffentlichten Textes sei Frau Richter herzlichst gedankt. Warum geht alle […]

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/740

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Die Julikrise 1914 in ihren Telegrammen

Auf Archivalia macht Dr. Graf in dankenswerter Weise eine breite Netzöffentlichkeit auf die Digitalisate zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufmerksam, die das Politische Archiv des Auswärtigen Amts kürzlich online gestellt hat.

(Wer das Impressum dieses Blogs nicht kennt: Ich bin Mitarbeiter des Politischen Archivs.)

Die digitalisierten Unterlagen aus den Akten des Auswärtigen Amts sind mit Hintergrundmaterial verknüpft, u. a. zur Aktenkunde des Auswärtigen Dienstes um 1914. Die aktenkundliche Einführung beruht auf Meyer (1920), setzt aber in Form von bearbeiteten Scans auf die alte Weisheit, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt.

Über Einschätzungen zum didaktischen Wert und Nutzen dieser Mini-Aktenkunde würde ich mich an dieser Stelle freuen.

Wer meine laufende Serie zur Emser Depesche verfolgt, findet in den Akten zur Julikrise insbesondere zu den Telegrammen viel Vergleichsmaterial.  Es ist doch merkwürdig, dass ein Typ von Schriftstücken, der fast 150 Jahre lang das hauptsächliche Arbeitsmaterial der Diplomatie war und als solches im Guten wie im Bösen Weltgeschichte geschrieben hat, von der akademischen Aktenkunde allenfalls gestreift wird.

Mehr zu den Eigenheiten des Telegramms in der nächsten Folge der “Emser Depesche”, die ich in der kommenden Woche veröffentlichen will.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/219

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Wer produzierte das Wissen, auf das sich die Geschichte des 19. Jh. stützt? Zwei Tagungen

Dass historische Quellen – welcher Art auch immer – keinesfalls jene „transparenten Fenster“ in die Vergangenheit sind1, als welche sie die Geschichtswissenschaft früherer Generationen benutzen zu können glaubte, ist eine Erkenntnis, die unter HistorikerInnen heute kaum mehr explizit bestritten werden dürfte. Mit ihrer Anwendung in der geschichtswissenschaftlichen Praxis sieht es freilich je nach Quellengattung, Epoche und Einzelfall noch recht unterschiedlich aus, und auch die quellenkundliche Forschung, die sich darauf richtet, Überlieferungen in ihrer unhintergehbaren Gemachtheit zu verstehen, hat in vielen Bereichen noch große Aufgaben vor sich.

Dabei dürften gerade Materialien aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit ein besonderes Risiko in sich tragen. In ihrer sprachlichen und medialen Form wirken sie oft verhältnismäßig vertraut und leicht verständlich – wodurch die Illusion von Transparenz leichter entsteht als bei mittelalterlichen Urkunden oder antiken Inschriften. Daher rührt wohl in erster Linie die relative Schwäche und geringe Verbreitung quellenkundlicher und historisch-grundwissenschaftlicher Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert, die in diesem Blog auch kürzlich im Hinblick auf den Vergleich zwischen Aktenkunde und Diplomatik zur Sprache kam.

Die beiden Veranstaltungen, auf die hier hingewiesen werden soll, vertreten zwei Forschungsgebiete, die in dieser Hinsicht in neuester Zeit wichtige Beiträge leisten und eine breite Kenntnisnahme verdienen: die Geschichte der amtlichen Statistik und jene der Archive. Beide Institutionen erlebten im 19. Jahrhundert einen bemerkenswerten Aufschwung, der mit dem Ausbau und der Professionalisierung der staatlichen Verwaltung ebenso zusammenhing wie mit der Arbeit an der Konstruktion nationalstaatlicher Identitäten, die auf entsprechend zusammengestellte Wissensbestände gestützt wurden. Die Ergebnisse ihrer Tätigkeit sind noch heute unumgängliche Arbeitsgrundlagen für HistorikerInnen, die aber eben nicht als „transparente Fenster“ benutzt, sondern als selektiv und intentional konstruiertes Wissen angesehen werden müssen. Die Erforschung ihrer Produktionsbedingungen und ihrer Funktionen im Kontext der Entstehungszeit bildet einen Überschneidungsbereich zwischen Politik- und Verwaltungsgeschichte einerseits, Wissenschafts- und Wissensgeschichte andererseits; und die aus dieser Forschung zu schöpfenden Reflexionen sind einerseits bei der Arbeit zur Geschichte des 19. Jahrhunderts konsequent im Auge zu behalten, andererseits aber auch durchaus für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Gegenwart relevant.

Call for Papers: Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert

Für die Tagung, die im September 2015 in Göttingen stattfinden soll, endet in wenigen Tagen die Einreichfrist für Abstracts. Die Veranstalter Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo schreiben über ihre Perspektive und Ziele Folgendes:

„Bisher sind Statistiken im Wesentlichen als sozialpolitisches oder sozioökonomisches Phänomen, in historischer Perspektive als Datengrundlage der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte thematisiert worden. Die Tagung möchte diesen Blick um eine kulturhistorische Perspektive erweitern. Statistiken bilden eine (historische) Wirklichkeit nicht nur rational ab, sie tragen vielmehr durch Kategorisierung und Taxonomie von Daten zu einer spezifischen Konstruktion von Realität bei, ja mehr noch: Die Erhebung der Daten selbst basiert bereits auf vorgängigen Entscheidungen über die Realitätskonstruktion, die nicht immer offengelegt werden.

Die Tagung verfolgt zwei Ziele: Erstens will sie ein Forum schaffen, Statistiken als Medium moderner Politik und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu historisieren. Durch die Verortung im Kontext der Erfindung der Nationalstaaten und im transnationalen Vergleich soll gefragt werden, welche historischen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz von Statistik Bedeutung hatten. Zweitens soll gefragt werden, wie Statistiken Realität repräsentieren und wie sie dadurch eine kulturelle Wirklichkeit erzeugen, die dann geschichtswirksam wird. Dazu möchte die Tagung einen Zeitraum von der Einführung von Statistiken im 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Kalten Krieges umfassen. Räumlich und kulturell will sie sich nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen, sondern auch Platz für transkulturelle und transnationale Vergleiche bieten. Schließlich fragt die Tagung nach dem wachsenden Einfluss der Mathematisierung auf die verschiedenen Agenturen der Datenerhebung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und das Verschmelzen mathematisch-probabilistischer Methoden mit den herkömmlichen Praktiken der Datenauswertung.“

Der vollständige Call for Papers ist auf HSK zu finden.

Tagung: Archives and History. Making Historical Knowledge in Europe during the Long Nineteenth Century

Ebenfalls in Göttingen findet vom 26. bis 28. Juni 2014 diese Tagung statt, in der das Verhältnis von Archiven und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert thematisiert wird. Zur Sprache kommen sowohl die Frage, wie Archive und Archivbestände gebildet wurden, als auch die Bedingungen der geschichtsforschenden Arbeit in und mit ihnen. Aus der Ankündigung durch den Veranstalter Philipp Müller:

Under which institutional conditions were historians able to undertake historical studies in archives? And how did these conditions of historical-archival research impinge on the production of historical knowledge? In looking into these two inextricably interlinked matters, the symposium highlights an essential, and ultimately scientific, attribute of historical work, rising to prominence in Europe during the long nineteenth century. In order to advance our understanding of the history of the study of records and files, its performance and ramifications for the making of historical knowledge, the symposium draws on different strands of scholarship and gathers experts from different fields of research such as the history of historiography, the history of sciences, anthropology and the history of archives.

Das Programm ist gleichfalls auf HSK abrufbar.

  1. Die Metapher ist hier entlehnt nach GEARY, Patrick J.: Entre gestion et gesta. Aux origines des cartulaires, in: GUYOTJEANNIN, Olivier – MORELLE, Laurent – PARISSE, Michel (Hrsg.): Les cartulaires. Actes de la Table ronde organisée par l’École nationale des chartes et le G.D.R. 121 du C.N.R.S. (Paris, 5–7 décembre 1991) (Mémoires et documents de l’École des chartes 39), Paris 1993, 13–26, hier 13. Vgl. die daran geknüpfte Diskussion bei KURATLI HÜEBLIN, Jakob: Archiv und Fälscherwerkstatt. Das Kloster Pfäfers und sein Umgang mit Schriftgut, 10. bis 18. Jahrhundert (Studia Fabariensia. Beiträge zur Pfäferser Klostergeschichte 4), Dietikon – Zürich 2010, 16–18.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/559

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Vortrag: 1830 et 1848, révolutions européennes et mouvements transnationaux (Sylvie Aprile)

Sylvie Aprile, Professorin für Histoire contemporaine an der Université Lille 3 und aktuelle Präsidentin der „Société d’histoire de la Révolution de 1848 et des révolutions du XIXe siècle“, hat am vergangenen 11. Februar 2014 an der Universität Freiburg im Breisgau einen Vortrag zu einem der gleichzeitig interessantesten und schwierigsten Aspekte der Revolutionen von 1830 und 1848 gehalten, nämlich zu ihrer transnationalen Dimension. Obwohl bereits den Zeitgenossen klar vor Augen stand, dass es in beiden Fällen einen gesamteuropäischen, in Ansätzen sogar globalen Zusammenhang der Ereignisse gab, ist sich die Historiographie – oder vielmehr: sind sich die Historiographien verschiedener europäischer Länder und politisch-ideologischer Lager – bislang nicht einig geworden über die beste Art, diesen Zusammenhang zu konzeptualisieren und zu beschreiben1. Dies lässt sich selbst an so grundlegenden Dingen ablesen wie der Frage, ob von einer europäischen Revolution von 1848 gesprochen werden kann oder nur von multiplen gleichzeitigen Revolutionen, die miteinander auf näher zu definierende Weise verbunden waren. Möglicherweise können auch beides sinnvolle Zugänge sein, wie sich etwa an einem jüngst von Sylvie Aprile mitherausgegebenen Sammelband zu 1830 ablesen lässt, der zwar im Titel von „les révolutions de 1830 en Europe“ spricht, dessen Einleitung aber mit „Une révolution transnationale“ überschrieben ist2.

Wichtig wäre aber jedenfalls, so Aprile in ihrem Freiburger Vortrag, die Überwindung dessen, was sie histoires cloisonnées nennt: in sich abgeschlossener nationaler Geschichtserzählungen, deren Interpretamente in den meisten Fällen von der teleologisch vorgegebenen Notwendigkeit geprägt waren und sind, die revolutionären Ereignisse in ein Narrativ der letztlich geglückten Nationalstaatsbildung einzuordnen. Sie plädierte weiterhin für eine Öffnung der Revolutionsforschung nach mehreren Richtungen, nämlich definitorisch, räumlich und zeitlich: von einer einseitigen Konzentration auf die spektakulärsten insurrektionellen Ereignisse hin zur Erforschung der vielen kleineren Protesthandlungen und Verschiebungen politischer Praxis und Symbolik; von der Festlegung auf wenige Zentren der Revolution, denen vorgeblich apathische „Peripherien“ gegenübergestanden wären, hin zum vielfach lohnenden näheren Blick auf die Letzteren; und von der Betrachtung einzelner Jahre wie 1830 oder 1848 als inselhafte Zäsuren hin zur Analyse der Sequenzen niederschwelligen Protests, die vorangingen und nachfolgten. Nicht zuletzt aber wären die in den letzten Jahrzehnten sprunghaft weiterentwickelten Ansätze und Perspektiven der transnationalen Geschichtsforschung, insbesondere der „verflochtenen Geschichte“, verstärkt in der Revolutionsforschung anzuwenden: histoire croisée als Antidot zur histoire cloisonnée.

Wir entnehmen diese Informationen dem ausführlichen Vortragsbericht von Axel Dröber (in französischer Sprache), der auf dem Blog des Deutschen Historischen Instituts Paris „Das 19. Jahrhundert in Perspektive“ veröffentlicht worden ist. Allen Interessierten sei natürlich die Lektüre des vollständigen Berichts wärmstens empfohlen!

  1. Auseinandersetzungen mit diesem Problem bieten etwa KAELBLE, Hartmut: 1848: Viele nationale Revolutionen oder eine europäische Revolution?, in: HARDTWIG, Wolfgang (Hrsg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, 260–278; MIDDELL, Matthias: Europäische Revolution oder Revolutionen in Europa, in: FRÖHLICH, Helgard – GRANDNER, Margarete – WEINZIERL, Michael (Hrsg.): 1848 im europäischen Kontext (Querschnitte 1), Wien 1999, 9–34.
  2. FUREIX, Emmanuel: Une révolution transnationale, in: APRILE, Sylvie – CARON, Jean-Claude – FUREIX, Emmanuel (Hrsg.): La Liberté guidant les peuples. Les révolutions de 1830 en Europe (Époques), Seyssel 2013, 7–32.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/527

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Ein gesamtdeutscher Diplomat in Paris? Der gescheiterte Versuch 1848

Im August 1848 reiste Friedrich von Raumer mit dem Auftrag von Frankfurt nach Paris, dort als diplomatischer Vertreter der neuen Provisorischen Zentralgewalt von der französischen Regierung anerkannt zu werden. Sein Aufenthalt in Paris war allerdings kurz und erfolglos, denn bereits in den letzten Tagen des Jahres 1848 trat er die Rückreise an. Warum lohnt es sich trotzdem, die wenigen Monate zu betrachten, in denen Raumer vergeblich versuchte, von französischer Seite diplomatische Anerkennung zu finden?

Friedrich von Raumer

Friedrich von Raumer (Künstler unbekannt; Quelle: Illustrierte Zeitung 1910/3, S. 626 – Wikimedia Commons)

Der Aufenthalt von Raumer in Paris stellte den Versuch dar, einen gesamtdeutschen diplomatischen Vertreter in Paris zu etablieren. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Paris mehrere deutsche Staaten, darunter beispielsweise Preußen, Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt, die jeweils eigene diplomatische Vertretungen in der französischen Hauptstadt unterhielten. Die im Jahr 1848 infolge der revolutionären Umwälzungen entstandene Provisorische Zentralgewalt mit Sitz in Frankfurt am Main strebte alsbald an, eigene Diplomaten ins Ausland – darunter auch Raumer nach Paris – zu entsenden. Friedrich von Raumer war jedoch kein erfahrener Diplomat, sondern hatte sich bisher vielmehr als Historiker, Professor an der Berliner Universität sowie liberaler Abgeordneter der Nationalversammlung hervorgetan. Nicht nur auf Grund seiner diplomatischen Unerfahrenheit hatte er Schwierigkeiten, sich mit seinem Auftrag in Paris durchzusetzen: Die französische Regierung wollte den Vertreter einer vorläufigen Regierung nicht anerkennen. Demgegenüber reagierten die etablierten deutschen Diplomaten in Paris sowie die Regierungen, die sie vertraten, höchst unterschiedlich auf den Vorstoß der Provisorischen Zentralgewalt: Das Spektrum reichte von der sofortigen Bereitschaft, Paris zu verlassen bis dahin, die Bestrebungen möglichst zu ignorieren.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts möchte ich in einem Unterkapitel den gescheiterten Versuch, einen diplomatischen Vertreter für gesamtdeutsche Interessen in Paris im Jahr 1848 zu etablieren, untersuchen1 Denn es handelte sich um eine Situation, in der die Existenz mehrerer deutscher diplomatischer Vertretungen in Paris grundsätzlich in Frage stand. Die etablierten deutschen Diplomaten vor Ort mussten sich gezwungenermaßen mit ihrer eigenen Legitimität auseinandersetzen. Die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in Paris war kurzzeitig hinterfragbar geworden – angesichts der Möglichkeit, einen gesamtdeutschen Diplomaten in Paris zu etablieren.

  1. Die Quellengrundlage bilden neben den Akten aus den Staatsarchiven der fünf ausgewählten diplomatischen Vertretungen von Preußen, Österreich, Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt die Akten der Provisorischen Zentralgewalt, die im Bundesarchiv (v.a. Bestand DB 53) verwahrt werden, Auszüge aus Parlamentsdebatten sowie die edierten Briefe von Friedrich von Raumer: RAUMER, Friedrich von: Briefe aus Frankfurt und Paris 1848–1849, 2 Bde., Leipzig 1849. In der Forschung ist der Provisorischen Zentralgewalt und ihrer Außenpolitik sowie dem Aufenthalt von Raumer in Paris bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Hilfreiche Ausführungen finden sich bei BOTZENHART, Manfred: 1848/49: Europa im Umbruch (Uni-Taschen­bücher 2061), Paderborn – München – Wien u. a. 1998; HEIKAUS, Ralf: Die ersten Monate der provisorischen Zentralgewalt für Deutschland (Juli bis Dezember 1848) (Europäische Hochschulschriften – Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 739), Frankfurt am Main – Berlin – Bern u. a. 1997.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/476

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Nachlese: Journée d’étude „La marche vers l’unité allemande 1815–1871“

Am Freitag, 13. Dezember 2013, fand am Deutschen Historischen Institut in Paris der Studientag „La marche vers l’unité allemande 1815–1871“ statt – siehe die ausführliche Ankündigung auf dem Blog des DHI. Die von Hélène Miard-Delacroix (Université Paris-Sorbonne) und Mareike König (DHI Paris) organisierte Veranstaltung richtete sich in erster Linie an KandidatInnen für die „agrégation“ (höhere Lehramtsprüfung) aus Deutsch; der Titel entsprach der historischen Rahmenfrage, die seitens des französischen Bildungsministeriums (Ministère de l’Éducation nationale) für dieses Jahr vorgegeben ist.

Veranstalterinnen und Vortragende waren freilich gleichermaßen bemüht, das aus einer solchen Formulierung sprechende Geschichtsbild kritisch zu beleuchten. Bereits in ihren einführenden Worten machte Hélène Miard-Delacroix darauf aufmerksam, dass die deutsche Reichsgründung von 1871 in der heutigen Geschichtswissenschaft kaum mehr als zwangsläufiger Endpunkt einer notwendigen und geradlinigen Entwicklung („marche vers …“), sondern als Resultat einer Vielzahl kontingenter Einzelentscheidungen und der mehrfachen „exclusion d’alternatives“ gesehen wird. Mareike König wies darüber hinaus darauf hin, dass die Vorstellung einer linearen Bewegung in dieser einen Richtung auf einem Narrativ beruht, das über Generationen hinweg in der öffentlichen Erinnerungskultur wie in der akademischen Geschichtsschreibung immer wieder in unterschiedlichen Varianten und mit sich wandelnden Zielsetzungen konstruiert wurde.

In der einen oder anderen Weise schlugen auch die Vortragenden in diese Kerbe. In sechs kurzen Beiträgen, die thematisch wie in ihrem Zugriff bewusst unterschiedlich angelegt waren, wurde eine Reihe von Perspektiven auf die Komplexität der Vorgänge im 19. Jahrhundert eröffnet. Armin Owzar (Université Paris III) legte seine Darstellung zur deutschen Verfassungsgeschichte jener Zeit überwiegend systematisch an und ging auf die Definition, die Merkmale und die Funktionen moderner Verfassungen ein. Er machte verständlich, dass kodifizierte Verfassungen zugleich herrschaftssichernd und herrschaftsbeschränkend wirken, und wies zudem auf ihre politische und gesellschaftliche Integrationsfunktion hin; dadurch suchte er begreiflich zu machen, dass Konstitutionalisierung in manchen Fällen durchaus auch von den Regierungen der deutschen Staaten als in ihrem eigenen Interesse liegend begriffen und betrieben wurde. Katrin Rack (Universität Bielefeld, derzeit Fellow am DHI Paris) ging auf die institutionelle Struktur des Deutschen Bundes, seine Stellung im europäischen Gleichgewicht und damit auf die internationalen Aspekte der „deutschen Frage“ ein. Ob der Bund fortbestand, ob und wie er sich weiterentwickelte, ob und in welcher Form an seiner Stelle ein deutscher Bundesstaat entstand, ging keineswegs nur die BewohnerInnen und die Regierungen der deutschen Staaten an, sondern berührte auch die Interessen der anderen europäischen Staaten und wurde in deren Öffentlichkeiten wahrgenommen und diskutiert.

Jakob Vogel (Sciences Po, Paris) widmete sich der Deutung der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 in der offiziellen und öffentlichen Gedenkkultur des Wilhelminischen Kaiserreiches. Dabei kam nicht nur die interessengeleitete Selektivität der meisten vermittelten Geschichtsbilder zur Sprache, sondern auch ein beachtliches Ausmaß an Deutungskonflikten sowohl innerhalb der Eliten des Kaiserreichs als auch zwischen diesen und oppositionellen Formationen – etwa in den durchaus ambivalenten Beziehungen staatlicher Stellen zu den Veteranenverbänden. Dieser Vortrag griff über die zeitliche Festlegung  „1815–1871“ in einer Weise hinaus, die von den Veranstalterinnen ausdrücklich begrüßt wurde; gerade den von Mareike König hervorgehobenen Aspekt der Gemachtheit der verbreiteten Vorstellungen von der Geschichte der Einheitsbewegung unterstrichen und veranschaulichten die Ausführungen Vogels. Thorsten Logge (Universität Hamburg) behandelte die Rolle politischer Vereinsbewegungen anhand der Turner und Sänger. Er analysierte mediale Aspekte ihres Wirkens, insbesondere die zeitnahe Verbreitung eigener Deutungen ihres Tuns in Zeitungen und Druckschriften, die zu den Grundlagen der Entstehung der bereits mehrfach erwähnten Geschichtserzählung gehörte. Ebenso zeigte er, dass sowohl Turnen als auch Singen keine bloß zufällig gewählten Aktivitäten waren, sondern bürgerlich-männliche Tugenden dabei eingeübt, vermittelt und öffentlich zur Schau gestellt wurden.

Frankfurter Nationalversammlung

Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung (kolorierte Lithographie nach einer Zeichnung von Leo von Elliott, 1848)

Thomas Stockinger (Universität Eichstätt) bemühte sich, eine kurze, aber komplexe Phase der längeren Entwicklung übersichtlich darzustellen, nämlich die Versuche zur Bildung eines deutschen Staates im Gefolge der Revolution von 1848/49. Dazu gehörte einerseits das Verfassungswerk der Frankfurter Nationalversammlung, andererseits aber auch die parallelen, oft konkurrierenden Bemühungen der Regierungen um eine zwischenstaatliche Vereinbarungslösung, insbesondere die preußische „Unionspolitik“ von 1849/50. Der Vortrag fügte sich insoweit in den Tenor der Veranstaltung ein, als die Vielfältigkeit und teilweise Überlagerung der Interessensgegensätze ebenso betont wurden wie das hohe Maß an Kontingenz, das diesen Ereignisfolgen innewohnte. Im abschließenden Vortrag von Jean-François Eck (Université Lille III) ging es dann um den oft vernachlässigten ökonomischen Aspekt der Entwicklung: die vor allem in den 1850er und 1860er Jahren in Fahrt kommende Industrialisierung Deutschlands und die Rolle, die Vereinbarungen zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums dafür spielten. Hierzu zählte der Deutsche Zollverein ebenso wie die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Auch überwiegend privatwirtschaftliche Initiativen wie der Ausbau des Eisenbahnnetzes waren von großer Bedeutung.

Am Schluss der gut besuchten Veranstaltung kam es, wie bereits nach den einzelnen Vorträgen, zu angeregten Diskussionen, bei denen von den Zuhörenden zahlreiche wohldurchdachte Fragen gestellt wurden. Es bleibt zu hoffen, dass die Veranstaltung, für deren reibungslosen Ablauf vor allem dem Personal des DHI zu danken ist, nicht nur auf den Prüfungserfolg der „agrégatifs“ förderlich wirkt, sondern das eine oder andere von ihren Inhalten künftig auch den Weg in den Unterricht an den Schulen findet.

Die Folien der den Vortrag von Thomas Stockinger unterlegenden Präsentation finden Sie in Form eines PDF-Dokuments hier.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/448

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Tagungsbericht: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich

Unter dem vielsagenden Titel „Zwischen Unverzichtbarkeit und Ungewissheit: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich“ fand am 22. Oktober 2013 am Österreichischen Staatsarchiv in Wien ein Workshop statt, zu dem dieses zusammen mit dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeladen hatte. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Bestandsaufnahme und Bewusstseinsbildung zu Stand und Perspektiven der Regierungsakteneditionen in Österreich, wozu auch der Vergleich mit derartigen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz beitragen sollte.

Das Programm der Veranstaltung finden Sie hier.

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Nach Begrüßungsworten vom Direktor des INZ, Michael Gehler, wurde die Tagung mit einem Impulsreferat von Waltraud Heindl eröffnet. Die pensionierte Universitätsprofessorin, bekannt unter anderem für ihre Forschungen zur Geschichte der Bürokratie in Österreich1 und des Frauenstudiums, war auch lange Zeit Mitarbeiterin an der Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie. Sie begann mit der Feststellung, Editionen seien „das ungeliebte Kind“ unter den wissenschaftlichen Großprojekten. Politische Ansprüche, die sich auf eine einseitig ökonomisch verstandene „Anwendbarkeit“ richteten, und organisatorische Paradigmen, die jede langfristige Bindung von Mitteln zu vermeiden suchten, hätten schon die Vorstellung von Langzeitvorhaben den Entscheidungsträgern „unbegreiflich“ gemacht. Demgegenüber stellte sie die kritische Textedition als wissenschaftliche Tradition heraus, die aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts komme – einer Zeit, in der die Historie eine Leitwissenschaft der europäischen Gesellschaften und das allgemeine Bewusstsein der Gebildeten in weit höherem Maße historisch geprägt gewesen sei als gegenwärtig. Die damals entwickelten Standards und Methoden seien allerdings keineswegs ausschließlich für die Geschichtswissenschaft, sondern für den gesamten Bereich der Geistes-, Kultur- und Rechtswissenschaften gültig geblieben. Die Edition strebe einerseits danach, aus einer schwer zugänglichen Quelle einen leicht und zuverlässig abrufbaren „Wiedergebrauchstext“ zu machen, andererseits sei ein bloßer Abdruck keine Edition, sondern als unverzichtbarer Bestandteil gehöre zu dieser auch die wissenschaftliche Aufbereitung durch kritische Textgestaltung, Regestierung, Kommentierung und Einleitung. Das Vorgehen habe dabei nicht dem Ermessen zu unterliegen, sondern an Richtlinien gebunden zu sein, die im voraus festgelegt und auch den Benutzern deutlich gemacht werden. Dementsprechend, so Heindl, seien „nur die besten Historikerinnen und Historiker gut genug, um editorisch tätig zu sein“. Im Übrigen würden auch der cultural und der linguistic turn in der Geschichtswissenschaft das Bedürfnis nach solide ausgeführten Texteditionen keineswegs reduzieren, sondern im Gegenteil erhöhen – schließlich könne niemand Texte dekonstruieren, wenn keine zur Verfügung stehen. Sie schloss mit einem Plaidoyer erstens dafür, den Entscheidungsträgern in politischen Ämtern und Förderinstitutionen den Wert von Editionen verständlich zu machen, und zweitens dafür, auch an den Universitäten wieder mehr die Fähigkeiten in der Lehre zu berücksichtigen, die EditorInnen bräuchten.

Im Folgenden wurden zwei deutsche, ein schweizerisches und drei österreichische Großvorhaben jeweils von ihren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern vorgestellt. Bärbel Holtz, Leiterin des Akademievorhabens „Preußen als Kulturstaat“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sprach über die von 1994 bis 2003 durchgeführte Edition der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums. Hier war eine durchgehende Überlieferung über mehr als ein Jahrhundert (1817–1934/38) zu bearbeiten, wobei die Vorgaben des Fördergebers – die Finanzierung erfolgte aus dem Akademienprogramm – von Beginn an klarstellten, dass eine limitierte Projektzeit einzuhalten und eine Volltextedition jedenfalls ausgeschlossen war. Zentral für die Lösung dieser Aufgabe war ein Editionskonzept, das eine Mischung aus überwiegend standardisierter regestenförmiger Wiedergabe und der Übernahme einzelner besonders signifikanter Ausdrücke aus dem Originalwortlaut vorsah. Dank dieser kompakten Präsentationsweise nimmt ein Protokoll in der Regel nur eine Druckseite ein. Der wissenschaftliche Wert liegt daneben aber auch in einem sehr eingehend gestalteten Anmerkungsapparat, der möglichst umfassend auf bezügliche Akten sämtlicher Ministerien verweist, und in den kommentierten Registern, wobei vor allem das Personenregister geradezu eine Prosopographie der bis dahin schlecht erforschten preußischen Beamtenschaft wurde und inzwischen gerne als solche benutzt wird. Die 12 Bände in insgesamt 17 Teilbänden sind heute vollständig und unentgeltlich online zugänglich.

Hanns Jürgen Küsters, Professor an der Universität Bonn und Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, berichtete über die lange, aber keineswegs geradlinige Geschichte der Edition der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Er hob hervor, wie unmittelbar dieses Unternehmen nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in Detailentscheidungen über Zielsetzungen und Editionsplan von konkreten politischen Darstellungs- und Legitimationsinteressen abhängig war und ist – ein Umstand, der zu einer (so Küsters wörtlich) „verkorksten“ Reiheneinteilung und Erscheinungsfolge der Bände geführt habe. Die Arbeitsgruppe unterstand direkt dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, später dem Bundesinnenministerium; andere Ministerien zeigten sich freilich nicht immer kooperativ bei der Bereitstellung amtlicher Schriftstücke. Küsters ging auch auf die großen Probleme der Auswahl der Dokumente ein, zumal auch ausländische Bestände nach Möglichkeit herangezogen werden; das „Zauberwort ‚Schlüsseldokumente‘ “, meinte er augenzwinkernd, stehe zwar in jedem Antrag und Projektbericht, eine Definition sei ihm aber noch nicht untergekommen.

Ursina Bentele präsentierte die Edition „Diplomatische Dokumente der Schweiz“. In den 1970er Jahren zunächst als interuniversitäre Initiative entstanden, ist sie heute ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften. Die erste Reihe mit 15 Bänden zum Zeitraum 1848–1945 ist abgeschlossen; die Edition der Dokumente ab 1945 erfolgt parallel in Form der Datenbank DODIS und gedruckter Bände, in die freilich nur ein Teil der in der Datenbank bearbeiteten Stücke im Volltext eingeht – die Bücher erhalten so die Funktion von „Wegweisern“ zur Datensammlung. Die Forschungsleistung der Editionsgruppe, so Bentele, bestehe aber auch noch unter diesen Umständen zu einem beträchtlichen Teil in der Reduktion des verfügbaren Materials auf die präsentierte Auswahl: Für einen Band, der drei Jahre Schweizer Außenpolitik abdeckt, würden etwa 600 Laufmeter Akten oder rund 1,5 Millionen Schriftstücke gesichtet.

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Von österreichischer Seite wurde zunächst die Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie von Stefan Malfèr und Thomas Kletečka vorgestellt. Als Gemeinschaftsunternehmen österreichischer und ungarischer HistorikerInnen nahm sie ihren Anfang in den späten 1960er Jahren; die erste Serie, enthaltend die Ministerratsprotokolle der Jahre 1848 bis 1867, ist heute mit insgesamt 26 Bänden nahezu abgeschlossen, die letzten zwei sind bereits in Vorbereitung. Ähnlich steht es um die in Ungarn edierten Protokolle des gemeinsamen österreichisch-ungarischen Ministerrats von 1867 bis 1918. Die dritte Serie mit den Protokollen des „cisleithanischen“ Ministerrats aus der Zeit der Doppelmonarchie ist auf lediglich elf Bände kalkuliert, weil ein erheblicher Teil der Vorlagen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 zerstört oder beschädigt wurde. Malfèr hob hervor, dass der hohe Standard – er bekannte sich insbesondere zur Volltextedition und zum ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar einschließlich Verweisen auf Bezugsakten und Forschungsliteratur – zwar für die lange Bearbeitungsdauer mitverantwortlich sei, die immer wieder der Verteidigung bedurft habe, aber auch ein entscheidendes Kriterium für den Wert und die sehr positive Aufnahme der Edition in Fachkreisen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung liefere unvermeidlich auch bereits erste Ergebnisse hinsichtlich einer Interpretation des Regierungshandelns, in diesem Fall etwa für eine Neubewertung der Leistungen und Versäumnisse des „Neoabsolutismus“ der 1850er Jahre oder des Oktoberdiploms von 1860. Die Arbeit der Gruppe verstehe sich damit auch als Beitrag zu einer von ideologischen Verzerrungen und Ressentiments „entrümpelten Erinnerungskultur“ zur Habsburgermonarchie, so Kletečka.

Gertrude Enderle-Burcel überschrieb den von ihr gemeinsam mit Hanns Haas und Alexandra Neubauer-Czettl vorgetragenen Bericht über die Ministerratsprotokoll-Edition zur Republik Österreich bewusst provokativ mit „Blick zurück im Zorn“. Bei Beginn des Unternehmens in den 1970er Jahren habe zwar seitens des Bundeskanzlers Bruno Kreisky und der Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg ein klares politisches Bekenntnis zur Notwendigkeit der Bearbeitung bestanden, die Finanzierung und Ausstattung der Arbeitsgruppe sei jedoch von Beginn an unzulänglich gewesen, und dies habe sich im Laufe der Zeit nur noch verschärft. Nie habe es mehr als einen festen Dienstposten für das Vorhaben gegeben; die zwischen Bundeskanzleramt und Wissenschaftsministerium geteilte Zuständigkeit habe es beiden Behörden immer wieder erleichtert, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Basisfinanzierung wurde schließlich nach jenem desaströsen Regierungsbeschluss von Oktober 2010, der zur Einstellung jeglicher Förderung des Bundes für außeruniversitäre Forschung führte, gestrichen. Derzeit gebe es noch eine Finanzierung durch die Gemeinde Wien in Form jährlicher (!) Förderverträge sowie eine Projektfinanzierung des Bundeskanzleramtes für die Digitalisierung und Transkription der Unterlagen. Dabei handle es sich – was im Grunde selbstverständlich sein müsste – um Quellen von höchster Wichtigkeit und großer Aussagekraft, deren Bearbeitung allerdings hohe Ansprüche stelle, da auch die Originalmitschriften zu berücksichtigen sind, in denen vieles enthalten ist, was in die Reinschriften keine Aufnahme fand. Diese Mitschriften freilich sind in Gabelsberger Kurzschrift aufgezeichnet worden, die heute nur noch von wenigen ExpertInnen gelesen wird. Die Zukunft des Unternehmens sei derzeit höchst ungewiss; nach den 23 erschienenen Bänden wären noch 29 weitere nötig, um auch nur die Erste Republik abzuschließen, eine zweite Reihe zur Zweiten Republik steht noch in den Anfängen.

Etwas versöhnlicher klang die Präsentation der „Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich“ durch Klaus Koch, Walter Rauscher und Elisabeth Vyslonzil. Dieses Gegenstück zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ wurde um 1990 – lange nach dem Einsetzen ähnlicher Projekte in vielen anderen europäischen Staaten2 – angestoßen. Der von Beginn an schlanke Editionsplan, der für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik 12 Bände vorsah, ist durchgehalten worden; acht Bände sind erschienen, zwei im Druck, die letzten beiden in Vorbereitung.

Der durch diese Präsentationen geschaffene Überblick zeigte zwar, dass auch in Deutschland und der Schweiz für langfristige Editionsprojekte der Himmel nicht immer voller Geigen hängt, dass aber doch die Situation in Österreich besonders unbefriedigend ist. Während die preußischen Staatsministeriumsprotokolle von fünf Promovierten bearbeitet wurden und DODIS acht wissenschaftliche MitarbeiterInnen beschäftigt, kann keine der genannten österreichischen Unternehmungen darauf zurückblicken, jemals mehr als drei Dienstposten besessen zu haben. Fördermodelle mit zehn- oder zwölfjähriger Laufzeit gibt es in Österreich schlichtweg nicht. Ein Großteil der Finanzierung erfolgte in allen drei Fällen über Jahrzehnte hinweg in Form aneinandergereihter dreijähriger Projekte, bei jeweils neuer Beantragung und Begutachtung. Die Zukunft aller drei Editionen ist völlig offen; für keine gibt es derzeit eine Finanzierung über das Jahr 2014 hinaus.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Geschäftsführerin Dorothea Sturn), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Brigitte Mazohl, Präsidentin der Philosophisch-historischen Klasse) und des Österreichischen Staatsarchivs (Gertrude Enderle-Burcel) sowie einer Beamtin des Wissenschaftsministeriums (Ursula Brustmann), die freilich bereits eingangs erklärte, nicht für die politische Ebene des Ressorts sprechen zu können, sondern nur den Standpunkt der dortigen FachbeamtInnen zu repräsentieren. Als Leitfragen wurden ausgegeben: „Wie kann politisches Interesse für Editionen gefördert werden? Welche Wünsche der Öffentlichkeit an Editionen sind zu berücksichtigen? Wie kann die nötige Finanzierung eingeworben und verstetigt werden?“

Ein niederschmetternd einmütiger Befund war zunächst der, dass es um das politische Interesse für Wissenschaft im Allgemeinen, Geisteswissenschaften im Besonderen und speziell für Editionen in Österreich derzeit schlecht bestellt respektive dieses überhaupt nicht vorhanden sei. Hinsichtlich der derzeit laufenden Verhandlungen über eine Regierungsbildung nach den Nationalratswahlen im September wurden zudem von mehreren Seiten Befürchtungen laut, dass eine Zusammenlegung des Wissenschaftsministeriums mit anderen Ressorts, vielleicht auch eine Trennung der Universitäts- von den Forschungsagenden zu befürchten sei. Dass von Seiten der Wissenschaft mehr Arbeit zur Bewusstseinsbildung nötig sei, blieb angesichts dessen unbestritten. Dazu wurden von verschiedenen Seiten Vorschläge vorgebracht, teils organisatorischer Natur – Vernetzung laufender Editionsvorhaben zu einer Plattform zwecks gegenseitiger Information und koordinierter Medien- und Lobbyarbeit (Mazohl; von vielen Seiten begrüßt) –, teils inhaltlicher Art, etwa die Idee einer Betonung des Werts von Staatsakteneditionen als Instrument der Demokratieerziehung (Küsters). Manches war wohl auch eher sarkastisch gemeint, etwa die Frage von Waltraud Heindl, ob es zielführend sei, die Namen politischer Entscheidungsträger ähnlich groß und sichtbar außen auf Editionsbände zu schreiben, wie die Namen der Bürgermeister auf Wiener Gemeindewohnbauten stehen.

Gedenktafel Bieler Hof

“Ediert aus den Mitteln der Republik Österreich in den Jahren 2017–2020 unter der Bundeskanzlerin X und dem Bundesminister für Wissenschaft Y”? (Photo: Bauinschrift des Bieler-Hofes in Wien 21. Quelle: Wikimedia Commons/Herbert Josl)

In institutioneller Hinsicht waren sich die Diskutierenden einig, dass die bestehenden Fördermodalitäten des FWF (als inzwischen nahezu einzig verbliebener Agentur zur Förderung der Geisteswissenschaften in Österreich) für langfristige Editionsprojekte wenig geeignet sind. Ob es Aufgabe des FWF sei, eine derartige Förderschiene in sein Programm aufzunehmen3, war hingegen umstritten. Von manchen wurde dies mit Nachdruck gewünscht, die FWF-Vertreterin sah eine solche Ausweitung der Tätigkeit angesichts der aktuellen Ressourcenausstattung des Fonds jedoch für die absehbare Zukunft als nicht diskutabel an4. Als Trägerinstitution größerer Vorhaben sahen fast alle, angesichts der weiterhin sehr ungünstigen Bedingungen für die Schaffung neuer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, in erster Linie die Akademie der Wissenschaften gefragt. Nach den Worten ihrer Vertreterin wäre diese dazu gerne bereit – entsprechende Budgetmittel vorausgesetzt, womit natürlich wieder die politische Ebene angesprochen war.

Diskutiert wurde auch, inwiefern sich die Rahmenbedingungen auf editorische Tätigkeit selbst auswirken müssten. Von außen ist immer wieder der bloße Abdruck von Texten ohne wissenschaftlichen Apparat empfohlen, nicht selten auch gefordert worden, wie etliche Anwesenden berichten konnten. Allen Teilnehmenden der Veranstaltung war jedoch klar, dass hierin keine Lösung liegen kann, sondern gerade die wissenschaftliche Aufarbeitung den Mehrwert der editorischen Arbeit ausmacht: Indexierung schafft erst die Möglichkeit einer Benutzung zu vorgegebenen Themen, der Nachweis der bisherigen Literatur führt an den Forschungsstand heran und Verweise auf weitere Akten ermöglichen weiterführende Forschung. Ein Textabdruck oder auch eine Sammlung von Digitalisaten ohne alles dieses ist dagegen ein unbenutzbarer Datenwust. Dies müsste freilich auch außerhalb von Fachkreisen klar gemacht werden. Gertrude Enderle-Burcel gab unerquickliche Anekdoten aus ihren Verhandlungen mit Beamten des Bundeskanzleramts zum Besten: Es sei von ihren Gesprächspartnern als unverständlich bezeichnet worden, wie jemand ein oder gar zwei Jahre an einem Editionsband „herumnudeln“ könne; es sei nach den Kosten pro Seite, ja nach Kosten pro Anmerkung gefragt worden; schließlich erscheine die (bereits erwähnte) Finanzierung für die Digitalisierung und Transkription der Protokolle zwar ihr und ihren KollegInnen als Vorarbeit für eine Edition, dem Fördergeber jedoch anscheinend als abschließende Erledigung des Anliegens. Selbst die Anlage eines Registers sei für überflüssig befunden worden, denn wenn die Transkripte online verfügbar seien, gebe es ja die Möglichkeit der Volltextsuche – in ungefähr 13.000 Seiten …

Die neuen technischen Möglichkeiten der Bearbeitung und Präsentation wurden von allen als unverzichtbar eingestuft, etliche Stimmen riefen allerdings nach einer differenzierten Abwägung von Kosten und Nutzen. Auf Online-Präsenz ganz zu verzichten und nur auf gedruckte Editionsbände hinzuarbeiten, wurde allgemein als weder wissenschaftlich vertretbar noch gegenüber einem außerwissenschaftlichen Publikum entgegenkommend abgelehnt. Hingegen wurde darauf verwiesen, dass Online-Editionen, gerade solche in Datenbankform, vor allem erweiterte Zugangs- und Suchmöglichkeiten brächten, nicht jedoch die von uninformierter Seite häufig vermutete Kostenreduktion; im Gegenteil, spätestens bei der Absicht einer langfristigen Nutzung auf Jahrzehnte hinaus sei mit viel höheren Kosten zu rechnen. Gerade die lange Nutzungsdauer ist jedoch ein besonderes Merkmal von Editionen; Bände der „Monumenta Germaniae Historica“ oder der „Acta Borussica“ aus dem 19. Jahrhundert werden heute noch geläufig zitiert. Dies wurde mehrfach als gewichtiges Argument für den Druck gewertet, dessen Langzeit-Speicherfähigkeit von keinem elektronischen Medium ohne vielfache Datenmigration erreicht wird. Die meisten Diskussionsbeiträge liefen darauf hinaus, dass sich Kombinationslösungen empfehlen, bei denen die Kapazität, Zugänglichkeit und Suchmöglichkeiten einer Online-Edition mit den Speichereigenschaften einer parallelen Druckausgabe verbunden werden. Selbst bei dem in dieser Hinsicht zukunftsweisend erscheinenden DODIS-Projekt steht „die Abschaffung des gedruckten Bandes nicht zur Debatte“ (Bentele).

Gibt es ein Fazit, das auch für die Belange unseres weit kleiner definierten Eichstätter Editionsprojekts zur Zentralgewalt anwendbar wäre? Deutlich wurde durch die Veranstaltung zunächst, dass Editionen keineswegs bloße Kärrnerarbeit sind, sondern geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, die eine vielfache Weiternutzung ermöglicht. Dass dies außerhalb enger Fachzirkel den Wenigsten klar zu sein scheint, ist ein wesentliches Problem, und es steht allen an Editionen beteiligten ForscherInnen gut an, jede Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung zu ergreifen. Überaus klar wurde auch, dass Editionen hohe Ansprüche an eine gediegene und konsequente Bearbeitung stellen und dementsprechend Schwerarbeit sind. Letzteres wussten wir bei der Zentralgewalt-Edition schon; Ersteres auch, aber das Workshop bestärkt uns darin, den Blick stets darauf gerichtet zu halten, dass unsere Produktion nicht nach der Zahl der Dokumente bewertet wird, die wir abgetippt haben, sondern nach der zielführenden Auswahl derselben und der Güte der Bearbeitung. Jene Standards in Textgestaltung, Erschließung und Präsentation, die sich bei einem solchen Erfahrungsaustausch als unverzichtbar und unhintergehbar über die verschiedensten Projekte hinweg erweisen, sind auch in unserer Edition zu berücksichtigen. Aber davon wird an anderer Stelle mehr zu schreiben sein.

  1. HEINDL, Waltraud: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien – Köln – Graz 1990; HEINDL, Waltraud: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich 1848–1918, Wien 2013.
  2. Ein solches Verspätungsempfinden im internationalen Vergleich hatte Ursina Bentele bereits als Motivation für die 1972 erfolgte Initiative zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ angesprochen, was von Klaus Koch mit ironischem Lächeln aufgegriffen wurde.
  3. Dies war 2007/08 unter dem Programmtitel NIKE bereits geplant, fiel jedoch der Wirtschaftskrise und den daraus folgenden Budgetkürzungen zum Opfer.
  4. Dorothea Sturn verwies hierbei darauf, dass etwa der Schweizerische Nationalfonds, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, über viermal so viele Mittel verfüge wie der FWF.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/385

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