Dieses Jahr begeht
Arbetarnas Bildningsförbund (
ABF) [Der Bildungsverband der Arbeiter] sein 100-jähriges Jubiläum, welches er mit einer umfangreichen Veranstaltungswoche mit Vorlesungen, Workshops, Musik und Ausstellungen in Stockholm feiert. Anlässlich des Jubiläums einer der größten Weiterbildungseinrichtungen Nordeuropas erscheint es angebracht, einen Blick auf die Gründung – vor allem die
Begründung – des
ABF zu werfen.
Der
ABF wurde 1912 durch Initiative des Schulleiters von
Brunnsviks folkhögskola, der ersten ›rörelsefolkhögskola‹ [Volksbewegungshochschule] Schwedens, Rickard Sandler, gegründet, zunächst unter dem Namen
Arbetarnas riksförbund för biblioteks- och föreläsningsverksamhet [Der Reichsverband der Arbeiter für den Bibliotheks- und Vorlesungsbetrieb]. Durch ihn fand die Weiterbildungsarbeit der Arbeiterbewegung ihre zentrale Institution, die heute Schwedens größter Studienverband, mit Niederlassungen in nahezu jeder Kommune, ist.
Die Weiterbildungsarbeit stellte einen zentralen Wirkungsbereich der Arbeiterbewegung dar, womit sie eine Tradition der Volksbildung fortsetzten, die seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch die Kirchen, aber auch durch Volksbewegungen wie die Abstinenzler, betrieben wurde. Die Arbeiter sollten (weiter-)gebildet werden, um sie – und in der Idealvorstellung die gesamte Gesellschaft – zu ›besseren Menschen‹ zu erziehen und ihr ›Niveau zu erhöhen‹, wie Rickard Sandler in seiner Grundsatzrede zum Verhältnis der Sozialdemokratie und Volksbildung ausrief: »Wir brauchen keine Idealmenschen. Dass aber eine auf breitem demokratischen Fundament basierende Gesellschaft ein besseres Menschenmaterial [sic] benötigt als wir es heute besitzen, ist zweifellos. Wenn sich die Funktionen der Gesellschaft erweitern, wächst natürlich der Anspruch an die Kompetenz der Gesellschaftsmitglieder. Deshalb muss die Volksbildung ein Hauptanliegen des sozialistischen Staats sein, auf ganz andere Weise als für den kapitalistischen.«
Bildung stellte eine Grundvoraussetzung für die Verwirklichung der Sozialdemokratie/des Sozialismus dar, indem die Arbeiter zum Einen theoretisch geschult und zum Anderen moralisch und intellektuell ›erhöht‹ werden sollten. Besonders letzteres Bildungsziel nahm sich der
ABF auch aus taktischen Gründen zu Herzen, da die sozialdemokratische Jugend, stellvertretend für die gesamte Arbeiterklasse, in der Presse sowie in bürgerlichen Kreisen einen zweifelhaften Ruf hatte, den es zu verbessern galt. Durch die Priorisierung der allgemeinbildenden Inhalte war es zudem möglich, sich staatliche Unterstützung zu sichern, die einer rein sozialistisch ausgerichteten Bildungseinrichtung verwehrt geblieben wäre. Aufgrund der staatlichen Unterstützung waren die Einrichtungen des
ABF zudem für alle offen, nicht nur für Arbeiter. Zu den moralischen Bildungszielen gehörte die Bekämpfung des Alkoholkonsums, die schon seit den Anfängen der proletarischen Weiterbildungsarbeit, aufgrund der engen Verbindung führender Personen der Abstinenzler- zur Arbeiterbewegung, auf der Tagesordnung stand. Es galt, die vor allem durch die Einführung des Achtstundenarbeitstags neu erlangte Freizeit der Arbeiter sinnvoll zu füllen und ein Alternativangebot zu dekadenten Freizeitbeschäftigungen wie eben dem Alkoholkonsum sowie dem Konsum ›schlechter‹ Literatur zu schaffen. Der
ABF bekämpfte indirekt, durch sein Bildungsangebot, sowie direkt, durch eine groß angelegte Kampagne, die so genannte ›Schundliteratur‹: Detektivgeschichten, wie die Nick-Carter Hefte, und andere Groschenromane, die vor allem die Jugend
verziehen würden: »Die Volksseele wird durch die Presseprodukte, die lediglich das Leben verbittern oder Nahrung für Sensationslust und Skandalhunger bieten, vergiftet. Jeder Freund der Volksgesundheit sollte sich deshalb verpflichtet fühlen, solche Vergiftung zu verhindern.«
Wenn es auch noch weitere Zwecke der Weiterbildungsarbeit des
ABF gab, wie zum Beispiel die Agitation und die Gleichstellung von Frauen, so waren es doch gerade die allgemeinbildenden Ziele des Verbandes, die sein Programm maßgeblich beeinflussten und den Inhalt von Studienzirkeln, Vorlesungen, Lesezirkeln und Bildungsausflügen prägten, in denen sich
relativ unbeeinflusst durch sozialistische Propaganda mit Literatur, Kunst und Musik auseinander gesetzt wurde. Gerade die Studienzirkel, an denen bereits 1926 über 30.000 Schweden teilnahmen, stellten den Kern der Weiterbildungsarbeit dar. Rickard Sandler beschreibt die Ausrichtung der Studienzirkel in seiner Grundsatzrede von 1917: »Der Studienzirkel wird zu dem, was seine Mitglieder aus ihm machen. Ihr Bestes können sie nur in Freiheit tun. Keine patentierte Konstruktion, keine Gebrauchsanweisung der Welt kann mehr bewirken als das eigene freie Interesse der Mitglieder. Die Schablone ist der Tod für die Bildungsarbeit.« Diese bereits durch Sandler geforderte Freiheit für die Bildungsarbeit des
ABF, die die Gesellschaft verbessern soll, findet sich noch 100 Jahre später in Form eines kreativen Fotowettbewerbs, den der
ABF anlässlich seines Jubiläums ausrichtet und unter anderem auf
Youtube bewirbt.
Der heutige
ABF ist, bezogen auf seine inhaltliche Ausrichtung, seinem Erbe treu geblieben, wirft man einen Blick auf sein umfangreiches und breit gefächertes Angebot, das sich sehr von dem seiner etwas jüngeren Schwesterorganisationen in Dänemark (
Arbejdernes oplysningsforbund,
AOF, gegründet 1924) und Norwegen (
Arbeidernes Opplysningsforbund,
AOF, gegründet 1931) unterscheidet, wo vor allem berufliche
Aus-Bildung im Vordergrund steht. Auch bezüglich seiner Herkunft ist sich
ABF treu geblieben. Es ist die einzige der drei Organisationen, die ihr Akronym bereits auf der Startseite ihrer Homepage auflöst, den Besucher in Großbuchstaben mit der Überschrift »ABETARNAS BILDNINGSFÖRBUND« begrüßt und somit die politisch-ideologische Herkunft nicht versteckt.
Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/515