36. Das Romantische oder: Geschichte wiederholt sich doch nicht

Alles schon mal dagewesenRomantik

Vor kurzem wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt: Das kennst du doch irgendwoher, hätte ich mir denken können, wenn ich in dem Moment einen vollständigen Satz gedacht hätte. Aber wahrscheinlich kam nur so etwas heraus wie: Ach! Und wenn ich statt Ach! schon einen vollständigen Satz hätte denken können, dann hätte er weniger lauten sollen, dass ich das da irgendwoher kenne, sondern eher, dass ich es irgendwannher kenne. Aber für solche Verstiegenheiten war die Zeit zu knapp. Da war das Ach! einfach schneller.

Unangenehm ist vor allem, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, was mir da so bekannt vorkam. Liegt wohl daran, dass es seit geraumer Zeit so viele Gelegenheiten gibt, Altbekanntem oder vermeintlich längst Vergangenem wieder zu begegnen. Da war man sich zum Beispiel mal im späten 20. Jahrhundert sicher, dass man die ganze Sache mit dem Nationalismus überwunden hätte, bis genau dieser Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder fröhliche Urständ feiert und in den letzten 25 Jahren auch keine Anstalten gemacht hat, wieder zu verschwinden. Dabei geht es nicht nur um nationalistisch motivierte, kriegerische Auseinandersetzungen, sondern viel eher noch um die offensichtliche Hoffähigkeit und Veralltäglichung nationalistischer Positionen auf verschiedenen Ebenen der politischen Meinungsbildung. Ob man sich den Aufstieg nationalpopulistischer Parteien in den Niederlanden, in Skandinavien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und sonstwo ansieht oder die eingeforderte Selbstverständlichkeit betrachtet, mit der nicht wenige fordern, gegen so genannte Migranten und so genannte Ausländer hetzen zu dürfen („Wir sind keine Nazis, wir sind Bürger“!) – mulmig muss einem werden, wenn es nicht einmal mehr einer gehörigen Wirtschaftskrise bedarf, um solche Emotionen zu schüren.

Die Religion wird gleich mitgenommen. Auch wenn sich die Pegida-Bewegung in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn müde gelaufen haben sollte, wird es ersatzweise sicherlich andere Komplexitätsreduzierer geben, denen die Dinge gar nicht einfach genug sein können. Und ‚das Abendland‘, das auch dann wieder verteidigt werden soll, muss natürlich ein irgendwie – also eher diffus – christliches sein, so dass man weiterhin den Krieg der Religionen und Konfessionen ausrufen kann, weil man ja auch in diesen Religionen eine irgendwie geartete Identitäts- und Stabilitätsgarantie zu entdecken vermag.

Aber es sind eben nicht nur die offensichtlichen Beispiele von Nation und Religion, die einem im vergangenen Vierteljahrhundert temporale Schwindelgefühle verursachen konnten, weil das alles schon mal dagewesen ist und eigentlich schon längst abgehakt war. Auch in anderen, politisch gänzlich unverfänglichen Zusammenhängen kann einem das eine oder andere bekannt vorkommen. So können aufmerksame Beobachter kulturwissenschaftlicher Diskussionen zum Beispiel feststellen, wie in den vergangenen Jahren zunehmend versucht wird, den überbordenden Verunsicherungen und Unwägbarkeiten neue/alte Grundlagen entgegenzusetzen. Da gerät die Frage nach dem Sein und der Ontologie unversehens zu einer neuen Blüte, da wird gegen alle möglichen Spielarten von Konstruktivismus die Unmittelbarkeit einer Präsenz hervorgehoben oder da wird gegen nervende Relativierungen ein „Neuer Realismus“ ausgerufen. [1] Generell war das Geschimpfe gegen alles, was man als „postmodern“ bezeichnen konnte, ja schon immer groß, nun kommt es aber zunehmend auch aus den Reihen derjenigen, von denen man bisher immer denken durfte, dass sie eigentlich zu diesen „Postmodernen“ dazu gehören. Das scheint nach dem Motto zu laufen, dass dieses ganze theoretische Herumexperimentieren ja ganz nett war, nun aber mal Schluss mit dem Quatsch sei, weil es jetzt wieder ernst werde: Kriege, Krisen, Katastrophen! [2]

Eine zweite Romantik

Natürlich ist klar, woher wir das alles schon kennen, dieses zunächst ironisch-experimentelle Herumspielen, das aber schon recht bald übergeht in die Suche nach dem Eigentlichen, dem Essentiellen, dem Wirklich-Wahren, dem eigentlich Unfassbaren, das so groß ist, dass man sich ihm einfach nur noch hingeben kann. Unabhängig davon, ob dieses Eigentliche, mit dem wir es da zu tun haben und das alles übersteigt, nun Nation, Religion, Geist, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit oder sonstwie heißt – es widersetzt sich letztendlich allen Differenzierungen und Theoretisierungen und kann in seiner Großartigkeit nur noch hingenommen werden. Die Romantik hat all das schon einmal ähnlich durchgespielt. Und in der Tat sind die Parallelen fast schon unheimlich: Zunächst haben wir es mit einer theoretischen Bewegung zu tun, die es unternimmt, die Grundlagen der sicher geglaubten Welt zu erschüttern (dort Aufklärung, hier Postmoderne), sodann eine politische Revolution, die mit dieser Erschütterung tatsächlich ernst macht (dort Französische Revolution 1789, hier die europäischen Revolutionen 1989/90), gefolgt von der schwierigen und zähen Aufarbeitung all dessen, was da geschehen ist. In der anschließend entstandenen Verwirrung, ausgelöst durch den Verlust einst sicher geglaubter Wirklichkeitsparameter, wird nicht ausschließlich, aber doch ganz merklich der Versuch beobachtbar, verlorene Gewissheiten wiederzugewinnen. Dann macht es mit einem Mal Sinn, sich wieder auf die Religion zu kaprizieren, die Nation zu vergöttern, die Wahrheit wertzuschätzen oder die Einheit in der Wirklichkeit wieder zu entdecken, weil in all diesen Essentialismen das endlose Differenzieren und Relativieren endlich ein Ende findet.

Diese zeitlichen und inhaltlichen Parallelen sind so frappierend, dass man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen könnte, wir lebten in einer zweiten Romantik (nach der „Zweiten Moderne“ wäre das ja durchaus folgerichtig). Und wäre dem so, hätten wir zwei ganz wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens hätten wir bestimmte historische Verlaufsformen, wenn nicht sogar eine grundlegende historische Gesetzmäßigkeit ausfindig gemacht. Und zweitens könnten wir dann auf dieser Basis sogar voraussagen, wie sich zumindest in groben Zügen der weitere Verlauf der Entwicklungen vollziehen wird. Heureka!

Alles noch gar nicht dagewesen

Aber nein, so ist es natürlich nicht. War nur ein Scherz. Die Rede von einer zweiten Romantik (oder einem zweiten Wasauchimmer) mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, erweist sich aber schnell als Popanz. Also keine Sorge, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie tut es nicht nur nicht, weil es verboten oder argumentativ zu einfach wäre. Auch tut sie es nicht, weil um 1800 einige Aspekte eine eher geringe Rolle gespielt haben, die uns um 2000 wesentlich stärker betreffen, zum Beispiel die globalen Kommunikationszusammenhänge, in die wir eingebunden sind (während die erste Romantik schon ein sehr europäisches Phänomen war), oder die überbordend große Rolle ökonomischer Fragen, die im frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht so bedeutsam waren. Sie tut es vor allem nicht, weil ein solcher Blick, der sich auf die Wiederkehr bestimmter historischer Verlaufsmuster konzentriert, nur das sieht und betont, was er sehen will. Alles Unpassende wird beiseitegeschoben. Und die Verwandtschaft der Jahreszahlen zu betonen (1789-1989) übersieht entweder, dass dazwischen doch zwei Jahrhunderte Differenz liegen, oder hat sich noch nicht wirklich von der Macht kabbalistischer Zahlenmystik befreit. Dem kann man dann möglicherweise historische Prozesse auch dadurch erklären, dass man auf die Namensähnlichkeit von Staatschefs verweist: Lenin-Stalin-Putin!

Aber ein gewisses Muster gibt es natürlich trotzdem. Allerdings liegt das weniger in ‚der Geschichte‘ (was auch immer mit diesem vermeintlich alles erklärenden Gottersatz gemeint sein mag), sondern eher bei uns. In der Art und Weise, wie wir uns auf abwesende Zeiten beziehen, wie wir mit Vergangenheit und Zukunft als Orientierungshorizonten operieren, versuchen wir unsere eigene Gegenwart zu organisieren. Und auf Verunsicherungen, die aus einem empfundenen oder tatsächlichen Übermaß an Veränderungen resultieren, kann man unter anderem reagieren, indem man auf vermeintlich überzeitlich gültige Grundlagen rekurriert. Dann müssen mit einem Mal die seltsamsten Konstrukte herhalten, um den Irritationen des Konstruktivismus zu entgehen. Dann werden Nation und Religion (natürlich die jeweils ‚eigene‘) mit einem Mal ebenso bedeutsam wie die Unbestreitbarkeit der einen Wahrheit oder der einen und einzigen Wirklichkeit. Gab es jemals eine bessere Zeit für postmoderne Dekonstruktionsarbeiter als diese, in der man sich allenthalben nach neuen Konstrukten sehnt?

Damit hätten wir aber kein historisches Grundgesetz formuliert, sondern höchstens Einsichten in die allzu menschlichen Unzulänglichkeiten gewonnen. Dass Verunsicherungen und Turbulenzen nicht angenehm sind, lässt sich schon aus der Genesis lernen. Aus dem Paradies vertrieben zu werden, war offensichtlich nicht besonders angenehm. Und seither suchen zumindest manche Vertreter der Gattung Mensch den Weg dorthin zurück, in die geordneten, sorgenlosen und ewig gültigen Verhältnisse eines Paradieses, in dem irgendeine höhere Instanz dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber dieses Paradies wäre die Hölle.

Die Romantik des Historischen

Dummerweise sind von solchen Phänomenen der Re-Romantisierung alle historischen Tätigkeitsfelder ganz besonders betroffen. Insofern ist es kein Zufall, dass man es seit den 1990er Jahren mit einem unübersehbaren Geschichts- und Erinnerungsboom zu tun hat, bei dem nicht nur alles und jedes historisiert wird, sondern bei dem vor allem ‚die Geschichte‘ mal wieder die versichernden Antworten auf all die verunsichernden Fragen zu geben hat. Insofern muss ich mir tatsächlich Sorgen machen über die anhaltende Attraktivität meines eigenen Arbeitsgebiets.

Daher heißt es gegensteuern. Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat gerade nicht die Funktion, zur Orientierung und Identitätsbildung oder sonstigen Versicherungsmaßnahmen beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn man nicht so genau hinsieht und das Gewesene als billiges Argumentationsarsenal missbraucht. Ganz im Gegenteil hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Aufgabe, uns in unserer selbstverständlichen Bräsigkeit zu verunsichern, Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch nicht einmal wussten, dass sie existieren könnten, und das vermeintlich überzeitlich Gültige als zeitlich recht beschränkt vorzuführen. Und das gilt sowohl für die Suche nach unbezweifelbaren Grundlagen (schließlich muss man laut Wittgenstein an allem zweifeln – nur am Zweifel selbst nicht) wie auch für die Illusion von historischen Gesetzmäßigkeiten.

 

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014

[2] Dazu scheint zu passen, dass diese theoretischen Expermientierfelder gerade ihre eigene Historisierung erfahren: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015.


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11. Gabriel und die Theorie- resistenz der Wirklichkeit

back-dir-deine-welt-ausstechformen-berlin_0Schon seit Wochen begeistert sich das Feuilleton für die Frage, warum es die Welt nicht gibt. Autor des gleichnamigen Buchs ist Markus Gabriel, bei dessen Vorstellung immer wieder drauf hingewiesen wird, wie jung, polyglott und international renommiert er ist. Und jetzt auch noch ein Buch, bei dem sich alle freuen, dass es keine Richard-David-Precht-Philosophiepampe ist, sondern ernsthaftes Nachdenken, das trotzdem nachvollziehbar bleibt und es sogar in die Spiegel-Bestseller-Liste schafft.

Wie sieht es da aus, wenn ein bereits mittelalter, nicht ganz so vielsprachiger und weniger ins Ausland eingeladener Mensch, der es wohl nie auf irgendeine Bestseller-Liste schaffen wird, an diesem Buch rumzumäkeln versucht? Nicht gut. Da kann man nur verlieren. Aber wie mir einer meiner Sportlehrer durchaus mal hätte sagen dürfen (es aber bedauerlicherweise niemals getan hat): Besser verlieren als gar nicht mitspielen. (Stattdessen gab es faschistoide Sportlehrersprüche wie: „Was nicht tötet, härtet ab.“ Nun ja …).

Ich baue einfach darauf, dass dieser Beitrag zum Ausklang der Sommerferien erscheint, wenn noch alles am Strand liegt und niemand Blogs liest. Nichts weiter als ein kurzes Knacken im Netzrauschen.

Der Zusammenhang aller Zusammenhänge

Da das hier keine Rezension wird, muss ich Gottseidank auch keinen systematischen Gang durch die Argumentation des Buchs unternehmen. Da gibt es viel Kluges und Erfreuliches, nicht zuletzt die Tatsache, dass es offensichtlich für eine gehörige Portion Menschen einen Anlass darstellt, sich mal wieder (oder überhaupt erstmals) auf erkenntnistheoretische Fragen einzulassen. Aber es gibt auch Ärgerliches, und das betrifft nicht zuletzt die grundlegenden Thesen dieses Buchs.

Ich lasse an dieser Stelle einmal den Umstand beiseite, dass Postmoderne und Konstruktivismus von Gabriel als ziemlich inhaltsleere Pappkameraden aufgebaut werden („Alles Illusion!“ – so soll der Konstruktivismus angeblich behaupten), um sie mit einem lässigen Fingerschnipsen von der Bühne zu befördern; oder dass es in der Argumentation auch einige interne Widersprüche gibt; oder dass es elend schlecht ist, den großen Richard Rorty als „elend schlechten Philosophen“ zu bezeichnen. Nein, gehen wir gleich aufs große Ganze, weil sich hier unter Umständen ja auch erweisen kann, welche Bedeutung diese Überlegungen für die Geschichte haben kann – und umgekehrt.

Die zentrale These steckt bereits im Titel: Die Welt als das alles Umfassende, als den Zusammenhang aller Zusammenhänge gibt es nicht. Was es stattdessen gibt, ist eine Vielzahl kleiner Welten, die nebeneinander existieren, sind so genannte „Sinnfelder“, in denen uns diese Welten erscheinen und mit denen wir umgehen. Insgesamt hört dieser Ansatz auf den Namen „Neuer Realismus“. Genau genommen wartet dieser „Neue Realismus“ weniger mit einer These, sondern vor allem mit einer Behauptung auf – dass es „die Welt“ nämlich nicht gibt (alles andere aber schon). Warum es „die Welt“ nicht geben soll, wird weder begründet noch argumentativ hergeleitet, sondern schlicht konstatiert. Punkt. Nur: Wenn es die Welt nicht gibt, wie kann Gabriel dann darüber reden, dass es sie nicht gibt?

Unverständliches Weltverbot

Bereits hier – und wir sind eigentlich erst am Anfang des Buchs – wird es meines Erachtens seltsam. Erstens verstehe ich nicht, warum es die Welt nicht geben darf. Es mag ja durchaus sein, dass ein solcher Zugang hilfreich sein könnte, aber dann hätte ich dafür bitte auch eine anständige Begründung. Sich den allumfassenden Zusammenhang aller Zusammenhänge vorzustellen, erfordert fraglos einiges Abstraktionsvermögen – das gilt aber ebenso für die von Gabriel angeführten Sinnfelder, sagen wir einmal: Wirtschaft oder Gesellschaft oder Politik. Die sind zwar nicht „die Welt“, sind deswegen aber keineswegs besser zu handhaben. Zweitens ist es seltsam, warum es in Gabriels Argumentationszusammenhang etwas nicht geben soll, wovon er selbst so viel Worte macht. Er redet die ganze Zeit von der Welt, die es nicht gibt – wie aber soll das möglich sein, wenn es sie nicht gibt? Alles soll es geben, selbst Einhörner auf der Rückseite des Mondes, nur die arme Welt darf es nicht mehr geben. Was aber, wenn das der Welt ziemlich egal wäre? Er bemüht sich so intensiv darum, etwas zu zertrümmern, worüber wir uns offensichtlich verständigen können (ansonsten könnten wir nicht darüber reden), dass man sich irgendwann zwangsläufig fragen muss, wozu der ganze Aufwand eigentlich gut sein soll. Da kommt eine schnittige Behauptung daher, die zunächst vielleicht viel Staub aufwirbeln mag, die schlussendlich aber wenig mehr als warme Luft ist – und mehr braucht man ja auch nicht zum Staubaufwirbeln.

Zeitmangel, Menschmangel

Auffallender Weise fehlen dieser Welt, die es nicht geben darf, zwei Dinge, die ich für nicht ganz unwichtig halte: Menschen und Zeit. Denn, wie Gabriel auch selbst öfter unterstreicht, die Tatsachen der Welt sind gegeben, sind Tatsachen an sich (S. 59),  da muss man nicht groß rumdiskutieren, ansonsten wären wir ja auch schon in der Nähe des Konstruktivismus, den er zu scheuen scheint wie der Teufel das Weihwasser. Auch ist die Welt (von der Gabriel selbst immer wieder spricht, obwohl es sie nicht geben darf, z.B. S. 62) in verschiedene Bereiche eingeteilt, in Gegenstandsbereiche oder Sinnfelder. Aber offensichtlich scheint niemand diese Kategorisierung vorgenommen zu haben, sie ist schlicht gegeben – auch wenn man sich damit in gefährliche Nähe eines biblischen Schöpfungsaktes begibt. Nur wird dadurch die Welt, die es nicht geben darf (und von der man dann auch gar nicht mehr weiß, wie man sie bezeichnen soll), seltsam steril. Da ist niemand, der irgendetwas tut, und da ist auch gar nichts, was sich verändern könnte. Das merkt man an den wenigen historischen Ausflügen, die Gabriel unternimmt. So behauptet er beispielsweise, dass es sich bei frühneuzeitlichen Hexendiskursen um „Geschwätz“ handele, weil es keine „Gegenstandsbereiche“, sondern nur „Redebereiche“ seien. Dementsprechend enthielten historische Texte über Hexen auch kein Wissen, weil es Hexen ja nicht gebe (S. 53). In der Logik einer Welt, die auf radikale Eindeutigkeit aus ist, mag das funktionieren. Man frage aber einmal die Menschen, die als Hexen verbrannt worden sind, von Hexen verzaubert wurden oder Hexen verurteilt haben, ob sie ebenso davon überzeugt waren, dass es sich nur um „Geschwätz“ handelte.

Gabriel steht, wie an vielen Stellen deutlich wird, in der Tradition der analytischen Philosophie, und vertritt in deren Gefolge offensichtlich die Vorstellung, dass es eine (und zwar nur eine) mögliche Weltdeutung geben müsse, die man mit den entsprechenden (wissenschaftlichen) Methoden ausfindig machen kann. Das bedeutet aber, dass in dieser Welt nicht nur keine Menschen mit all ihren Eigensinnigkeiten vorkommen, sondern dass diese Welt auch keine Geschichte haben darf (oder dass diese Geschichte zumindest bald an ein Ende kommen muss), um den Veränderungen der Weltdeutung (oh, Entschuldigung, schon wieder von „Welt“ gesprochen) eine Ende zu setzen. Hier scheint eine seltsame Verkehrung vonstatten zu gehen: Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, um Wirklichkeit besser verstehen zu können, sondern die Wirklichkeit hat sich gefälligst nach den Vorgaben der Wissenschaft zu richten.

Theorieunfähigkeit

Ich habe demgegenüber den schweren Verdacht, dass die Welt (oder die Wirklichkeit oder die Realität oder wie man dieses Ding auch immer bezeichnen will, selbst wenn man es nicht mehr bezeichnen darf) nicht theoriefähig ist. Zumindest nicht mit unseren bescheidenen Mitteln. Die Welt (jawohl, genau die) ist zu komplex, um in ein paar abstrakte Sätze gepackt zu werden, die sich auf einer übersichtlichen Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckel klemmen lassen. Gut, dieses Argument ließe sich leicht gegen mich selbst wenden, weil es nur belegt, dass meine eigenen bescheidenen Kompetenzen einfach nicht ausreichen, um eine solche Theorie zu erkennen, geschweige denn selbst zu formulieren (was ich sofort eingestehe).

Aber ich hätte noch zwei kleine empirische Befunde, die nach meinem Dafürhalten die Theorieresistenz der Wirklichkeit unterstreichen können. Erstens ist es bisher noch keinem theoretischen Entwurf gelungen, eine hinreichend zufriedenstellende Fassung der Welt zu präsentieren, denn ansonsten müssten wir ja nicht immer wieder neue Anläufe dazu nehmen. Und dass diese Letztbeschreibung noch nicht gelungen ist, ist auch gut so, denn ansonsten wären Herr Gabriel und ich und eine Unmenge anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitslos. Stattdessen lässt man uns weiter fahnden nach der Welt, die es gibt oder auch nicht.

Die einzige Art, die ich mir vorstellen kann, um Welt und Wirklichkeit in einem immer unzureichenden Sinn fassbar zu machen, ist die erzählende. Ein Grund, warum ich mit meiner Berufswahl als Historiker immer noch ganz zufrieden bin.

[Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013]


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10. Philipp II. und die Welt als Tisch

Tisch

Im Windschatten allgemeiner Aufmerksamkeit

Jeden Tag benutzen wir sie: Tische in unterschiedlichsten Formen, als Esstisch, als Schreibtisch, als Konferenztisch, als Kaffeetisch, als Nachttisch, als Wickeltisch, als Stammtisch und manchmal sogar als Katzentisch. Und das ist eine recht unvollständige Auflistung. Es bedarf nicht vieler Argumente, um die menschliche Abhängigkeit vom Tisch sowohl im Allgemeinen wie im Besonderen zu belegen. Wir verbringen jeden Tag so viele Stunden an diesem unscheinbaren Möbel, dass es zu Lasten unserer Gesundheit geht und sich ganze Dienstleistungszweige ausgebildet haben, die sich den Auswirkungen einer „vertischten“ Gesellschaft widmen.

Bei allen gesundheitlichen Spätfolgen, die das Leben am Tisch mit sich bringt, gilt es hinreichend zu würdigen, dass der Tisch für die Gattung Mensch eine ungemein nützliche Erfindung ist. Sein spezifischer Knochenbau mit diversen Scharniergelenken (Knie, Hüfte, Ellenbogen) prädestiniert den Menschen zu einer sitzenden Haltung. Und da der Mensch nun einmal dazu tendiert, die Welt so einzurichten, wie es seinen physischen Voraussetzungen entspricht, zieht er in dieser sitzenden Position gleich noch einen Tisch heran, um dort sein Essen abzustellen, Papier zu stapeln oder die Ellenbogen aufzustützen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Erfindung des Tisches kaum weniger bedeutsam ist als die Erfindung des Feuers oder des Rades.

Dass der Tisch aber üblicherweise nicht in eine Reihe mit diesen grundlegenden Erfindungen der Kulturgeschichte gestellt wird, könnte ein Beleg für die klugen Schachzüge (Schach – ein Tischspiel!) dieses Möbels sein, seine weltfundierenden Funktionen geschickt zu verbergen, um im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit umso effektiver zu agieren. Denn in seiner vermeintlichen Schlichtheit und stillen Zurückhaltung versteht es der Tisch, den Umstand zu verdecken, dass er weit mehr ist als ein Gebrauchsgegenstand. Im Tisch steckt nichts weniger als ein umfassendes Ordnungsmodell, ein Entwurf unserer Welt. Der Tisch repräsentiert nicht einfach nur eine bestimmte Sicht auf unsere Welt, sondern er macht uns diese Welt überhaupt erst verfügbar. Und man könnte sogar die etwas irritierende Frage stellen, ob wir uns wirklich des Tisches bedienen, um die Welt zu bewältigen, oder ob es nicht vielmehr der Tisch ist, der uns seine Version der Welt vorführt, sie uns geradezu „auftischt“.

Ein entmythisierter Atlas

Unter unseren Händen, Tellern, Papierstapeln und Computerbildschirmen ächzt also nicht einfach nur ein bewährtes Stück Materialität, das unserer Zivilisation schon viele Dienste erwiesen hat. Vielmehr stützen wir uns auf eine der zentralen Möglichkeiten, wie wir uns der Welt überhaupt noch versichern können. Der Tisch ist unser entmythisierter Atlas, der für zwar nicht mehr das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern, aber all unsere Weltentwürfe auf seiner Platte trägt.

Wie aber konnte das geschehen? Wie kam die Welt auf den Tisch und wie wurde der Tisch zur Welt? Es hängt wohl nicht zuletzt mit dem wachsenden Radius menschlicher Aktivität zusammen. Der Expansionsdrang des Menschen, der auf mehr Macht, mehr Geld, mehr Wissen und überhaupt mehr von allem abzielt, neigt dazu, den unmittelbar zugänglichen Ausschnitt der Welt als nicht mehr ausreichend anzusehen. Dem Willen nach Mehr wird der eigene Vorgarten irgendwann zu eng. Dieses Mehr an Welt wird jedoch mit einem paradoxen Effekt erkauft – nämlich einem gleichzeitigen Weniger an Welt. Je weiter wir ausgreifen, um mehr von dieser Welt zu wissen, mehr von ihr zu besitzen und mehr von ihr zu beherrschen, desto weniger können wir diese Welt in unmittelbarer Weise erfahren. Wir müssen uns technischer Hilfsmittel bedienen, um mit ihr überhaupt noch umgehen zu können – und an genau dieser Stelle kommt der Tisch ins Spiel.

Man sollte sich davor hüten, hier eine historisch konsequente und von Anfang an zielgerichtete Geschichte zu erzählen, die unweigerlich auf mehr Tisch und weniger Welt hinausläuft. Aber man kann einige Stationen in der globalen Tischgeschichte herauspicken, anhand derer sich der Erfolg dieses Möbels nachvollziehen lässt. Auffallender Weise wurde der Tisch immer dann zum Inbegriff von Welt, wenn der Mensch sich von eben dieser Welt abwandte. In der Politik übernahm er seine tragende Rolle beispielsweise in dem Moment, als Herrscher keine Schlachten mehr schlugen, sondern nur noch von anderen schlagen ließen, um stattdessen Figürchen oder Fähnchen auf einem mit einer Karte bedeckten Tisch hin- und herzuschieben; oder als diese Herrschenden sich nicht mehr in die Welt hinein bewegen wollten, ihren Herrschaftsbereich nicht mehr selbst bereisten, wie es die mittelalterlichen Fürsten und Könige noch getan hatten, sondern sich in ihre allmählich gemütlicher werdenden Schlösser zurückzogen, um anschließend nur noch mittels Akten zu regieren, die man – ja, genau – auf den Tisch legen konnte: „My desk is my castle“.[1]

Schreibtischtäter

Unabhängig davon, ob es sich um die Welt der Politik oder der Wirtschaft oder eines anderen Lebensbereichs handelt, es sind immer Tische, auf denen sämtliche Informationen zusammenlaufen. Hier befindet sich der Nabel der (jeweils eigenen) Welt, hier kommt alles an und von hier geht alles weg. Auch unsere Bilderwelt ist angefüllt von Tischen als Inbegriffen der Macht. Es sind Konferenzräume oder Büros, in deren Mitte ganz selbstverständlich immer ein Tisch steht. Und will man Regierende bei der Tätigkeit des Regierens zeigen, dann lässt man sie an diesen Tischen sitzen. Die Fernsehnachrichtenbilder der Zusammenkünfte von Regierungsmannschaften sprechen eine deutliche Sprache, denn es ist der Kabinettstisch, von dem aus die Geschicke des Landes, wenn nicht der ganzen Welt entschieden werden. Je bedeutsamer der Tisch (und die Tischbenutzer), desto weitreichender die Auswirkungen, die von ihm ausgehen.[2]

Vor diesem Hintergrund macht der Ausdruck des „Schreibtischtäters“ auch überhaupt erst Sinn. Denn als Figur wie als Begriff bringt er genau dieses Tisch-Paradox zum Ausdruck, wonach der Tisch ein Mehr an Welt gewährleistet, indem er immer weniger Welt unmittelbar an den Tischbenutzer heranlässt. Man kann am Tisch Entscheidungen und Handlungen von ungeheurer Tragweite treffen, riesige Mengen Geldes bewegen, über das Leben von Millionen entscheiden, Länder zu ungeheurer Macht oder zum vernichtenden Untergang führen – ohne sich auch nur einmal von diesem Möbel entfernt zu haben. Aber man sollte nicht vorschnell davon ausgehen, dass der Schreibtisch diese Funktion erst im Zeitalter moderner Bürokratie und Telekommunikation erlangt hat.

Es gibt berühmte Beispiele von Herrschern, die ihren Tisch zum Zentrum der Welt machten und die Welt auf ihren Tisch konzentrierten. Einer der bekanntesten ist Philipp II. von Spanien (1527-1598), der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich über ein Imperium herrschte, das sich auch für den reiselustigsten Regierenden in dieser Zeit nicht mehr unmittelbar erfahren ließ; und was den direkten Kontakt mit der Welt anging, war Philipp II. ohnehin nicht der Engagierteste. Lieber schloss er sich in seinem als Kloster angelegten Herrschaftssitz Escorial ein und erwartete, dass die Welt zu ihm kam, auf seinen Schreibtisch. Das gesamte koloniale Riesenreich Spaniens, von Amerika über die Besitzungen in Italien bis nach Asien, wurde vor allem über das Studium von Akten kontrolliert. Nicht nur das, auch in seinem unmittelbaren Lebensbereich am Hof korrespondierte Philipp am liebsten über Notizen und Zettel, die er an seinem Schreibtisch verfasste. Das Leben als Schreibtischmonarch kam seinem Charakter entgegen, denn er galt als verschlossen und kontaktscheu, eigentlich unnahbar. Die Existenz am Schreibtisch erlaubte ihm, immer mehr von der Welt auszuschließen, um gleichzeitig immer mehr mit diesem Möbel zu verschmelzen. Er verzichtete ab 1559 nicht nur auf Reisen außerhalb Spaniens, sondern verließ auch sein Zimmer im Escorial in späteren Jahren nur noch für den Gottesdienst. Man mag es daher kaum als Zufall ansehen, dass ihn auch die typischen Gebrechen eines Schreibtischmenschen ereilten: Er soll der erste Monarch gewesen sein, der eine Brille benutzte, und gegen Ende seines Lebens war er an den Rollstuhl gefesselt, verbrachte seine Zeit also in einer Körperhaltung, die – so zynisch das auch klingen mag – wie angegossen zum Schreibtisch passt.[3]

Der Tisch ist eine Scheibe

Seit Philipp II. ist die neuzeitliche Geschichte gepflastert mit Menschen (nicht selten männlichen Geschlechts), die die Macht des Schreibtischs zu nutzen wussten. In der allgemeinen Diskussion hat sich dabei die Auffassung etabliert, es gäbe eine fundamentale Trennung zwischen dem Schreibtischleben und dem wahren Leben „dort draußen“, in der harten, kalten Realität. Aber diese Vorstellung ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn Welt und Tisch auf diese Weise in Opposition zueinander zu setzen, führt in die falsche Richtung. Vielmehr muss man festhalten, dass der Tisch eine Fortsetzung der Welt mit anderen Mitteln ist: Die Welt wird „tischbar“.

Und dass sich die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts die Welt immer noch auftischt, muss nicht großartig bewiesen werden. Die jüngsten medialen und technischen Entwicklungen können und wollen sich nicht von der Tischförmigkeit des Weltzugriffs lösen. Die Benutzeroberfläche des Computers nennt sich „Desktop“, und der Tablet-Computer kommt als „Tischchen“ mit dem Versprechen daher, uns die Welt umfassend zur Verfügung zu stellen. Erheben wir uns also nicht arrogant über frühere Zeiten und andere Kulturen. Die Erde war noch nie eine Scheibe, aber die Welt ist immer noch ein Tisch. Wir sind da kaum weiter gekommen. Oder haben Sie schon einmal einen Tisch in Kugelform gesehen?

[1] Uta Brandes/Michael Erlhoff (Hg.): My Desk is my Castle. Exploring Personalization Cultures, Basel 2011.

[2] Jacqueline Hassink: The Table of Power. Amsterdam 2000; Jacqueline Hassink: The Table of Power 2. Ostfildern 2011.

[3] Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009.


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08. Michon und die Faktizität des Fiktionalen

BilderrahmenGemalte Ambivalenz

Eine Begebenheit aus der Französischen Revolution: Die Herrschaft des Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre hat seinen Höhepunkt erreicht, der Terreur wütet und die Guillotinen verrichten ihre Arbeit. Im Winter 1793 wird der Maler François-Elie Corentin beauftragt, ein Gemälde der elf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses anzufertigen. Selbstredend ist es das Ziel dieses Gruppenportraits, das schließlich die riesigen Ausmaße von vier mal drei Metern annehmen sollte, Geschichte zu machen, soll heißen: die Sicht der Nachwelt auf das Wirken des Wohlfahrtsausschusses zu bestimmen. Die Geschichte dieses Gemäldes wird in dem jüngst ins Deutsche übersetzten Buch von Pierre Michon mit dem schlichten Titel „Die Elf“ erzählt. Die andauernde Faszination von Corentins Gemälde resultiert aus der Ambivalenz möglicher Deutungen. Man kann darin sowohl einen Robespierre als Halbgott der Revolution als auch einen Robespierre als machthungrigen Tyrannen entdecken.

In seiner Schilderung stellt Pierre Michon den Maler Corentin, der im französischen Limousin aufwuchs und beim Historienmaler Jacques-Louis David ausgebildet wurde, in eine Reihe mit keinen Geringeren als Giotto, Leonardo, Rembrandt, Goya oder van Gogh. Auch der französische Historiker Jules Michelet hat in seiner immer noch bedeutsamen „Geschichte der Französischen Revolution“, die in sieben Bänden zwischen 1847 und 1853 erschien, diesem riesigen Gemälde ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie sollten sich also bei ihrem nächsten Besuch des Pariser Louvre Michons Buch unter den Arm klemmen, seiner Wegbeschreibung folgen (er gibt genau an, wo das Bild – geschützt von dickem Panzerglas – hängt) und sich diese gemalte Form der Geschichtsproduktion näher ansehen.

Die Wirklichkeit des Erfundenen

Seien Sie aber nicht zu enttäuscht, wenn Sie nichts finden. Denn das Gemälde gibt es nicht. In seinem meisterlichen Stück Prosa, das eine Mischung aus Essay, Künstlerportrait und literarischer Augenwischerei ist, hat Michon eine Gestalt mit einer erfundenen Biographie und den Louvre mit einem nie gemalten Bild ausgestattet. Zugegeben, er will uns hier kein Schelmenstück vorführen, weshalb recht schnell klar wird, dass wir Leser einer Erfindung sind. Michon hat also nicht den Weg Wolfgang Hildesheimers eingeschlagen, der seinen „Marbot“ im Stil einer klassischen Biographie mit so viel Plausibilität belegte, dass man unweigerlich zum Lexikon greifen möchte, um sicherzugehen, dass Marbot tatsächlich nie lebte.

Aber selbst wenn wir durchschauen, dass es sich um Fiktion handelt, dass der Maler Corentin niemals existierte und das Gemälde „Die Elf“ auch nach intensiver Suche im Louvre nicht aufzufinden ist – sollte uns das tatsächlich die historischen Schultern zucken lassen und Gemälde samt Maler der völligen Bedeutungslosigkeit überantworten? Wenn Corentin und „Die Elf“ nie Wirklichkeit waren, haben sie dann auch mit unserer (historischen) Wirklichkeit nichts zu tun?

Man kann die Beantwortung dieser Frage vom jeweiligen kulturhistorischen Status fiktionaler Texte oder vom Wirklichkeitsverständnis abhängig machen, mit dem man zu hantieren bereit ist. Die naheliegende Unterscheidung nähme eine klare Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität vor. Die erfundenen Geschichten mögen als nette Unterhaltung dienen, mögen sogar erkenntnisfördernd sein und uns die Augen öffnen für die Zustände der Wirklichkeit – aber sie sind keine Wirklichkeit! Menschen, Objekten und Ereignissen, die allein in der Form von Druckerschwärze und Papier, Celluloid oder Pixeln existieren, darüber hinaus aber keine außermediale Existenz besitzen, streiten wir üblicherweise den Wirklichkeitsstatus ab. Problematisch an einer solchen Auffassung ist nur, dass wir zumindest die Bücher, Filme oder Bilder, die diese Fiktionen enthalten, als Teil unserer Wirklichkeit anerkennen müssen. Wenn sie aber schon einmal da sind, könnte es dann nicht sein, dass sie mitsamt ihren Geschichten auch Wirksamkeiten entfalten, also in unsere Wirklichkeit hineinwirken?

Absolute Wahrheit

Fiktionen zeichnen sich ja nicht zuletzt dadurch aus, dass sie innerhalb ihres eigenen Referenzrahmens in einer Art und Weise auf Wirklichkeit und Wahrheit pochen können, wie dies in der Welt außerhalb des fiktionalen Rahmens niemals möglich wäre. In der Welt der erfundenen Geschichten haben alternative Wirklichkeitsentwürfe nur insofern Platz, als sie durch die Schöpfer der Fiktion zugelassen werden. Die Wahrheit der Fiktion ist absolut. Ein solcher Grad an Wirklichkeitsverdichtung lässt sich nicht einmal in der totalitärsten aller Diktaturen erreichen.

Interessant wird es dann, wenn die unterschiedlichen Sphären der Wirklichkeit, die faktischen und die fiktionalen, miteinander in Kontakt treten und sich überschneiden. Denn die Fiktionen sind beständig dabei, unsere Wirklichkeit zu verändern und zu infizieren: Nicht nur kommt die nicht-fiktionale Welt in der fiktionalen vor, ebenso werden fiktionale Deutungsangebote in unsere außerfiktionalen Lebens- und Weltentwürfe importiert.

Dann ist es nicht mehr so einfach, zwischen Erfindung und Realität zu unterscheiden. Aber das ist wohl weniger ein Problem der mangelnden Trennschärfe, vielmehr ein Problem unseres unzureichenden und eingeschränkten Wirklichkeitsverständnisses. Es gehört zum Standardrepertoire von Romanen, dem Leser zu versichern, es handele sich um wahrheitsgemäße Darstellungen, die vom Autor nur in seiner Funktion als Herausgeber veröffentlicht würden. (Auch Michon bemüht die beständige Ansprache an den Leser als Realitätsevokation, so als befände man sich bei einer Museumsführung.) Die Fiktion imitiert und desavouiert die Wirklichkeit in ihrem Realitätsverständnis – gleichzeitig gelingt es der außerfiktionalen Realität aber nicht in der gleichen Weise, ihre fiktionalen Gehalte ernst zu nehmen.

Muss es aber nicht so erscheinen, als seien Figuren wie Don Quijote, Robinson Crusoe, Faust oder Dracula selbstverständliche Bestandteile unseres Lebens? Zumindest muss man sie als Elemente unserer historischen Wirklichkeit akzeptieren, weil sich einerseits in ihnen vergangene Realität verdichtet und weil sie andererseits auf diese Wirklichkeiten unübersehbaren Einfluss ausgeübt haben. Dabei handelt es sich bei diesen und vielen weitere Figuren um Beispiele, die ihre Fiktionalitätsmarkierung noch eindeutig mit sich herumtragen. Etwas mulmiger wird die Angelegenheit schon, wenn man erfährt, dass das US-Verteidigungsministerium kurz nach dem 11. September 2001 Renny Harlin engagierte, um Untergangsszenarien für mögliche weitere Anschläge zu entwerfen. Harlin war aber nicht Mitglied eines politikstrategischen think-tanks, sondern Drehbuchautor und Regisseur von „Die Hard 2“. [1]

Aber haben wir auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Erfindungen wir als selbstverständliche historische Wahrheit mit uns herumschleppen? Eine Märchengeschichte, die beispielsweise bis zum heutigen Tag in historischen Darstellungen und Schulbüchern wiederholt wird, handelt von der mittelalterlichen Überzeugung, bei der Erde handele es sich um eine Scheibe anstatt um eine Kugel. Dass diese „Geschichte“ eine Mittelalter-Fiktion des 19. Jahrhunderts ist, wurde schon längst erwiesen. [2] Scheint aber fast niemanden zu interessieren. Als Fiktion ist sie so mächtig, dass sie allenthalben nachgeplappert wird.

Die Frage danach, wer oder was denn nun Geschichte macht, lässt sich erwartungsgemäß auch nicht mit Blick auf die Fiktion letztgültig beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte, die fiktiven Geschichten und Figuren dürfen dabei nicht vergessen werden. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen inzwischen im Louvre nachgefragt haben, wo denn nun das Gemälde der „Elf“ zu finden sei.

[1] David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest, München 2011, 92

[2] Peter Aufgebauer: „Die Erde ist eine Scheibe“. Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006) 427-441

[Pierre Michon: Die Elf. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin 2013]


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2013/05/26/08-michon-und-die-faktizitat-des-fiktionalen/

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