Cartul@rium – Historische und linguistische Grenzpendler: Mittelalterliche Urkunden in der Großregion

Vor etwa drei Jahren sind auf Initiative der französischen Mittelalterhistorikerin Hélène Schneider (MSH, Universität Nancy) eine Handvoll Forscherinnen und Forscher zusammengekommen, um sich der unglaublich reichhaltigen mittelalterlichen Urkundenüberlieferung der Großregion zu widmen. Diese Region, die Luxemburg, Lothringen, Saarland, Rheinland-Pfalz und Wallonien umfasst, ist, insgesamt betrachtet, seit vielen Jahrhunderten zweisprachig und bietet manche historische und linguistische Forschungsnuss, die es zu knacken gilt.

Das Vorhaben war ursprünglich als Pilotprojekt im Rahmen der Universität der Großregion konzipiert und wird durch die Idee der Interdisziplinarität sowie die dezidierte Arbeit an der Überlieferung selber getragen. Wie würden Historiker und Linguisten an den gleichen Quellen, die zum Teil noch ungehoben sind, interagieren? Wie miteinander darüber sprechen, geschweige denn diese so edieren, dass alle Disziplinen zufrieden sind? Es stellte sich schnell heraus, dass man diese Quellen nur gemeinsam verstehen und erschließen kann, und auch zunächst eine gemeinsame Sprache finden muss – eigentlich zwei gemeinsame Sprachen, deutsch und französisch. Eine der ersten Herausforderungen war es, gemeinsame Transkriptionsregeln zu entwickeln, die sowohl Historiker als auch Linguisten zufriedenstellen. Die einen normalisieren nämlich gerne, die anderen möchten am liebsten alle Schreibungen so dokumentieren, wie sie da in den Originalen stehen. Aus den Diskussionen entstanden eine Sensibilisierung und ein gegenseitiges Verständnis der Disziplinen füreinander, und so wurden dank der digitalen Technologien unterschiedliche Transkriptionstiefen erreicht.

Inzwischen sind an dieser Partnerschaft dreizehn Forscher beteiligt, Historiker sowie Germanisten und Romanisten, Doktoranden, Post-Docs, Forscher und Universitätsprofessoren – und alle hat die selber Neugierde und Faszination gepackt. Sie stammen u. a. aus dem Laboratoire d’Histoire der Universität Luxemburg, dem Centre de Médiévistique Jean Schneider et dem Centre d’Etudes Germaniques der Université de Lorraine, der Germanistik/Älteren Deutschen Philologie der Universität Trier (mitsamt Anbindung an das Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum HKFZ Trier) sowie dem Institut für Mittelalterliche Geschichte der Université Catholique de Louvain-la-Neuve. Das internationale Team arbeitet an eine gemeinsame Methodologie, die auch die Digital Humanities mit einbezieht. Die Analysen der Archivalien sollen sowohl auf historischer als auch linguistischer Basis möglich sein; ferner wurde eine Datenbank (entwickelt durch das ATILF/CNRS Nancy) entworfen, die die Erschließung der unterschiedlichen Fragestellungen unterstützen soll.

Die Leitidee des Projekts ist die Untersuchung des politischen, kulturellen Raumes der Großregion am Ende des Mittelalters. Sie gibt dazu Anlass, zwischen den Sprachen zu denken (« penser entre les langues »), um eine Formulierung eines vor kurzem erschienenen Buches von Heinz Wismann zu aufzugreifen.

Das Quellenkorpus des Forschungsprojekts wird gebildet durch Archivalien aus den fürstlichen Kanzleien der Herzogtümer von Lothringen und Luxembourg sowie derjenigen des Erzbistums Trier als Vergleichsebene. Wir haben es mit einer spannenden Zeit zu tun: dem 13. bis 15. Jahrhundert. Die Einflussbereiche politischer Mächte und die germanisch-romanische Sprachgrenze greifen hier vielfältig ineinander und bilden einen politisch-linguistischen Raum, der so mehrschichtig ist, dass man ihn kaum kartographisch darstellen kann. Die Wirrnisse der Zeit, insbesondere der Hundertjährige Krieg und die Pest, haben zu einer Übergangsphase zwischen den bis dahin dominierenden Feudalstrukturen und der modernen Staatenbildung geführt: die Archivalien sind dabei deren erste unmittelbare Zeugen, die es zu erschließen gilt.

Neben der gezielten Sammlung der Archivalien, die über die Großregion und Europa verstreut sind, steht die Erschließung dieser Quellen aus historischer und juristischer Sicht sowie auf der sprachlichen Ebene im Vordergrund. Diese Analyse führt zu einer vergleichenden Reflektion über die Fürstentümer, die Lehnsherrschaften und deren Praktiken, und zwar auch im Hinblick auf den Sprachwechsel und den Wortschatz. So begegnet etwa in französischen Urkunden das deutsche Lehnwort Burgfried, während in deutschsprachigen Urkunden etwa der französische Terminus denumerment (‘Aufzählung’) steht.


http://www.cartularium.msh-lorraine.eu/

Auf dieser Hintergrundfolie wurde beschlossen, sowohl eine systematische Datenbank der fürstlichen Urkunden als auch thematische Dossiers zu erstellen. Ein erstes Projektergebnis ist die digitale, zweisprachige Forschungsplattform Cartul@rium. Das Portal ist als Brückenschlag in der Forschung der Grande Région zu verstehen, und zwar nicht nur zwischen den Geisteswissenschaften und den neuen Technologien, sondern auch zwischen den Forschern und der Öffentlichkeit.

Das Portal enthält unter anderem eine detaillierte Bibliographie, die die Geschichte der Fürstentümer in der Grande Région und die entsprechenden Arbeitsinstrumente erschließt. Es stellt ferner zwei didaktische Anleitungen zur mittelalterlichen Handschriftenkunde zur Verfügung (romanisch und germanisch), die Studierende und Laien bei der Entzifferung der Urkunden behilflich sein soll. Und drittens will es in Zukunft die Siegel dieser Urkunden stärker berücksichtigen. Diese stellen eine vielfältige, oft unterschätzte Quelle u.a. für die Kunstgeschichte, die Sozialgeschichte und die politische Geschichte der Großregion dar. Siegel haben einen intensiven emblematischen Wert, neben dem die heutigen Geschäftslogos geradezu verblassen. Dieses Kulturgut ist unersetzlich, aber in großer Gefahr. Die digitale Erfassung stellt somit auch einen bewussten Akt der Kulturpflege dar.

Das Projekt wurde am 18. Oktober 2012 mit dem zweiten Interregionalen Wissenschaftspreis 2012 ausgezeichnet.

Weiterführende Literatur:

Claudine Moulin, Zeichen und ihre Deutung. Zum handschriftennahen Edieren schriftlicher Quellen in interdisziplinärem Kontext, in: Claudine Moulin – Michel Pauly, Die Rechnungsbücher der Stadt Luxemburg. Unter Mitarbeit von Andreas Gniffke, Danièle Kass, Fausto Ravida und Nikolaus Ruge, VI, Luxembourg 2012, S. 9-17

Hélène Say – Hélène Schneider (Hg.), Le duc de Lorraine René II et la construction d’un état princier. Actes de la journée d’étude organisée à l’occasion du 500e anniversaire de la mort de René II, à Nancy (archives départementales de Meurthe-et-Moselle), le 12 décembre 2008, Lotharingia XVI, 2010

Heinz Wismann, Penser entre les langues, Paris 2012

Quelle: http://annotatio.hypotheses.org/39

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