Wissen in der ländlichen Gesellschaft, Essen 14.-16. Juni 2013

Das Thema der diesjährigen Sommertagung – „Wissen in der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft“ – stellt keinen zentralen Bereich meines Projektes dar, und das ist auch der Grund, weshalb ich von vorneherein nur als Zuhörerin und Diskutantin nach Essen fahren wollte.

Zunächst vorneweg: Die Tagung war toll. Der Tagungsort, das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen, ist ideal für solch eine Veranstaltung, die auch viel auf Gespräche setzt, außerdem ist die Lage natürlich unschlagbar – gute zehn Fußminuten vom Essener Hauptbahnhof entfernt. Außerdem habe ich schon lange keine Tagung mehr erlebt, die so bunt gemischt war, was die methodischen Richtungen, die untersuchten Epochen und auch das Alter der Beteiligten anging. Gleichzeitig war die Gesprächsatmosphäre sehr angenehm. Vielleicht denke ich noch mal genauer darüber nach, warum die Kommunikation in kleinen historischen „Nischen“ häufig so angenehm ist, wenig hierarchisch und durch ehrliches Interesse an den Forschungen anderer geprägt.

Berlin, Landwirtschaftliche Schulung

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-23203-0003 / CC-BY-SA; Berlin, Landwirtschaftliche Schulung

Es ist kaum möglich, einen wirklichen Bericht über diese Tagung zu schreiben, der jedem einzelnen Beitrag gerecht wird – dafür waren die Vorträge einfach zu divers. Sie erstreckten sich von einer Studie über einen landwirtschaftlichen Ratgeber (oder eine Grundlegung der Agrarwissenschaft) im Kastilien des frühen 16. Jahrhunderts (Stefan Schlelein, Berlin) bis hin zur landwirtschaftlichen Erziehung in Südafrika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Julia Tischler, Berlin), von der Hühnerzucht in Ostwestfalen (Ulrike Heitholt, Bielefeld) bis zum Medien- und Akteurswandel am Ende der Epoche der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (Beat Bächi, Bern). Literaturwissenschaftliche, transfergeschichtliche, ethnologische und epistemologische Ansätze waren vertreten, die Spanne reichte von sehr mikrogeschichtlichen Untersuchungen bis hin zu allgemeineren konzeptionellen Überlegungen zur Konturierung bestimmter historischer Epochen.

Einige der Vorträge möchte ich gerne noch einmal genauer diskutieren.

Das wäre zuerst einmal der Vortrag von Alexander van Wickeren (Köln): „Zirkulation des Wissens über den Tabakanbau im Elsass um 1800“. Ich habe mich sehr gefreut, Alexander wiederzutreffen, den ich letzten Herbst am DHI in Paris kennengelernt habe. Er beschäftigt sich in seiner Dissertation mit dem Wissen über den Tabakanbau in Baden und im Elsass um 1800. Dabei interessiert ihn vor allem die Zirkulation von Wissen in Grenzräumen; wie bilden sich grenzübergreifende Wissensnetzwerke heraus? Interessant war der Vortrag vor allem deshalb, weil Alexander deutlich machen konnte, dass der „Grenzraum“ Elsass-Baden zumindest in Bezug auf den Tabakanbau um 1812 zunächst nicht als eigener Raum in Erscheinung tritt. Vielmehr funktioniert die Vernetzung der Tabakexperten über Organisationen, und deren Kommunikation ist nicht durch regionale Nähe determiniert, sondern es bildet sich eine spezifische Geographie des Tabakwissens heraus – mit Verbindungen etwa in die Niederlande und bis nach Amerika.

Den Auftakt am zweiten Tagungstag machte Dana Brüller aus München, ebenfalls mit einer sehr wissensgeschichtlichen Ausrichtung: „Auf der Suche nach dem Urweizen: Botanisches und agrarwissenschaftliches Wissen zwischen Ideologie und Anwendung in Palästina (1900-1930)“, einem Thema an der Schnittstelle von Wissenschafts- und jüdischer Geschichte. Überzeugend konnte sie deutlich machen, wie eng die Bereiche Botanik, Landwirtschaft und Siedlung in Palästina miteinander verbunden waren und welche überragende Bedeutung der Botanik als „Science of Settlement“ zukommt. Interessant fand ich auch in ihrem Vortrag die „Territorialisierung“ des Wissens – während das Wissen um den Urweizen als zentral für die zionistische Siedlung galt, war es gleichzeitig in ein internationales Netzwerk botanischer und landwirtschaftlicher Experten eingepasst.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte Beat Bächi aus Bern, der das Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft, das am Archiv für Agrargeschichte in Bern entwickelt worden ist, von seinem historischen Ende her betrachtete. Mit einer medien- und akteursanalytischen Perspektive diskutierte er die Faktoren, die dazu beitrugen, dass spätestens in den 1980er Jahren die enge Verkopplung von Landwirtschaft und Wissenschaft aufbrach. Die Kommunikationsgemeinschaft von Praktikern und Wissenschaftlern kam an ihr Ende, die Wissensformen wurden zunehmend inkommensurabel, und auch die Habitus der Beteiligten veränderten sich. Mit diesen Überlegungen zum Ende der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft machte Bächi deutlich, dass die Wissensgesellschaft nicht teleologisch gedacht werden sollte. Statt von einem stetigen Ausweitungsprozess der Verwissenschaftlichung auszugehen, muss Wissensgeschichte auch die diskontinuierlichen Veränderungen sozialer Welten im Auge behalten.

Schlussendlich scheint mir die Bemerkung von Verena Lehmbrock (Jena) bei der Podiumsdiskussion zu den Chancen der Wissensgeschichte für die Agrargeschichte ein gutes Fazit unter die Veranstaltung zu setzen: Die Frage ist nicht so sehr, was die Wissensgeschichte der Agrargeschichte gibt (viel!), sondern vor allem auch, wie die Wissensgeschichte von der Agrargeschichte profitieren kann. Die Beschäftigung mit Wissen in ländlichen Gesellschaften lenkt den Blick auf viele Schwierigkeiten der Vermittlung und Produktion, auf die Hierarchie verschiedener Wissensformen und das Scheitern von Wissenskommunikation, während eine „allgemeine“ Wissensgeschichte über diese Punkte manchmal zu schnell hinweggeht. Die Geschichte ländlicher Gesellschaften (wie ich ja die „Agrargeschichte“ lieber nennen würde) tut also gut daran, sich stärker als allgemeine Geschichte zu präsentieren und zu kommunizieren.

Das Internet gibt die Möglichkeit zum zeitnahen Publizieren – ja, okay. Leider muss man aber auch die Zeit finden, ganz zeitnah etwas zu schreiben – das klappt offenbar bei mir weniger gut. Deshalb kommt erst jetzt der Bericht zur Tagung der Gesellschaft für Agrargeschichte, die schon vor rund einem Monat stattgefunden hat.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/71

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Jahrestagung “Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft”

Am kommenden Wochenende, vom 14. bis 15. Juni 2013, findet im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen die diesjährige Jahrestagung der Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA) und des Arbeitskreises für Agrargeschichte (AkA) statt. Nachdem im letzten Sommer der Beitritt des AkA zur GfA beschlossen worden war, um die Ressourcen der Agrargeschichte in Deutschland zu bündeln, ist das nun die erste große gemeinsame Veranstaltung der beiden Gruppierungen. Unter dem Titel „Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft“ finden von Freitagmittag bis Samstagnachmittag 12 Vorträge und eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion statt. Außerdem gibt‘s die Mitgliederversammlung der GfA. Das Programm kann man hier einsehen.

Ich werde keinen Vortrag halten, sondern freue mich auf eine interessante Tagung zum Zuhören und Mitdiskutieren. Vielleicht sehe ich wieder mehr Querverbindungen zwischen meinem aktuellen Thema (ländliche Gesellschaft) und meinem abgeschlossenen Dissertationsprojekt (Social Engineering von Verkehrsexperten – also ein wissensgeschichtliches Thema). Ich werde auf jeden Fall hier über die Tagung berichten.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/56

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Die wortkargen Spuren ländlicher Politik


„Bernried am 6. Dezember 1891. Gegenstand der Beschlußfassung: Aenderung der bestehenden Fleischaufschlaggebühren. Die bisher bestehenden Fleisch-Aufschlaggebühren abzuändern und folgende Sätze zu normiren:

Von einem Ochsen M. 3

Von einem Stiere oder Kuh M. 1,30

Von einem Jungrinde M 1,30 […]“ (Gemeindearchiv Bernried am Starnberger See [GAB], Best. B2-3, S. 206)

„Bernried am 20. Sept. 1896. Gegenstand der Beschlußfassung: Dachreparatur an der Lehrerwohnung. Die Firstziegel auf der Westseite des Daches des Lehrerwohnhauses, welche bei Wind immer locker werden u. herunterfallen, sollen durch Firstbleche ersetzt werden. Die diesbezügl. Arbeiten sollen durch Spänglermeister Hr. Wiedemann in Weilheim, welcher 2 M. für den lfd. Meter verlangt, ausgeführt werden.“ (GAB, B2-4, S. 25)

Zwei (fast) zufällig ausgewählte Gemeinderatsprotokolle aus einer kleinen oberbayerischen Landgemeinde. Nicht nur, dass sie alle unsere Vorurteile gegenüber Kommunalpolitik zu bestätigen scheinen, nein, sie sind darüber hinaus auch ziemlich wortkarg. Warum werden die Gebühren geändert? Welche Interessen treffen in dieser Frage aufeinander? Gibt es Diskussionen im Gemeinderat, und wer setzt sich schlussendlich durch? Das Gleiche in der zweiten Episode: Wir erfahren weder etwas über den Kontext des Problems, noch darüber, wie es zu einem des Gemeinderats wird, noch gibt es Hinweise auf das Zustandekommen der Entscheidung.

Das ist einer der Gründe, weshalb Gemeinderatsprotokolle so selten als Quellen verwendet werden – sie verraten einfach nicht besonders viel. In der Regel findet man lediglich Ergebnisprotokolle, die wenig Hinweise auf den Gang der Verhandlungen geben. Strittige Punkte werden nicht verdeutlicht, Konflikte unsichtbar gemacht.

Ich habe sie dennoch zum zentralen Korpus meiner Mikrostudien gemacht. Denn sie haben für mich einen unschlagbaren Vorteil: Ich kann sie ziemlich gut diachron auswerten. Ich versuche ja, über einen langen Zeitraum, zwischen 1850 und 1950 (Ja, Mediävist*innen und Co., lacht über meinen „langen“ Zeitraum!), möglichst nah an die politischen Akteure vor Ort herankommen. Da bietet es sich an, zunächst einmal einen Quellentyp auszuwerten, der über fast den gesamten Zeitraum vorliegt (so die Überlieferung will, aber das ist ein anderes Thema).

Die Protokolle bieten mir also die Möglichkeit, Gemeinden in ihrem „Normalzustand“ über einen langen Zeitraum sichtbar zu machen. Gerade die vermeintlich langweiligen Themen, die dort verhandelt werden, werden dann interessant, denn ich kann sehen, womit sich die Akteure vor Ort überhaupt befassten. Ginge ich anders vor, etwa über Konflikte wie Beschwerden, Gerichtsverfahren usw., könnte ich diese Normalität gar nicht sichtbar machen.

Derzeit bin ich damit beschäftigt, diese Normalität in ihrer ganzen Langatmigkeit zu erheben. Ich sichte die abfotografierten Protokolle und erfasse Daten und Betreffzeilen in einer Tabelle, die ich im Folgenden verschlagworte. So kann ich die Häufung und Konjunkturen bestimmter Problematiken verfolgen, aber auch sehen, wie sich Zuständigkeiten verändern. Problemfälle werden genauso sichtbar, nämlich dann, wenn in kurzen Zeitabständen immer wieder die gleichen Themen verhandelt werden.

So sieht ein Teil meiner Auswertungstabelle derzeit aus.

So sieht ein Teil meiner Auswertungstabelle derzeit aus.

Diese erste Auswertung auf der Oberfläche ermöglicht es mir dann, bestimmte Themenfelder zu identifizieren, die für die ländlichen Gemeinden von besonderer Bedeutung waren. Diese kann ich dann mittels weiterer Quellen genauer aufrollen, denn dann sind tatsächlich die wenigen Worte, die ein Gemeinderatsprotokoll macht, nicht mehr ausreichend für meine Analysen.

Beim genaueren Sichten fällt aber schon auf, dass die Protokolle möglicherweise doch etwas gesprächiger sind, als es auf den ersten Blick scheint. So wird beispielsweise über Ausstreichungen oder Hinzufügungen manchmal deutlich, wie sich im Laufe einer Gemeinderatssitzung die Kompromisse oder Mehrheitsmeinungen erst herausgebildet haben. Auch wenn keineswegs im Protokoll zu lesen ist, dass man sich nach ausführlicher Beratung und der Abwägung von Alternativen auf einen bestimmten Modus geeinigt habe, so kann man das doch an der Form der Protokollierung ablesen.

Ausstreichungen und Hinzufügungen in einem Gemeinderatsprotokoll

Ausstreichungen und Hinzufügungen in einem Gemeinderatsprotokoll

Auch andere Informationen über die Praxis gemeindlicher Politik kann man aus der seriellen Auswertung dieser Gemeinderatsprotokolle ziehen. So fällt etwa auf, dass sich in der Gemeinde Bernried am Starnberger See (meine bayerische Untersuchungsgemeinde), erst langsam aber sicher ein fester Sitzungstermin des Gemeinderates herausbildeten, an dem mehrere Themen verhandelt wurden. Vorher wurden, zum Teil im Abstand von nur wenigen Tagen, offenbar ad hoc Sitzungen abgehalten, um jeweils nur eine, gerade akute Frage zu verhandeln.

Vermutlich haben sich im Zuge dieser Bündelung auch andere Formen der gemeindlichen Politik verändert. Vielleicht hatte das Gründe in den Gemeindesatzungen, vielleicht waren das aber auch Effekte einer anderen Zusammensetzung des Gemeinderats. Wenn etwa neue Mitglieder gewählt wurden, die nicht zu einer Gruppe gehörten, die ohnehin ständig zusammensaß, könnte das Effekte auf die Sitzungspraxis gehabt haben. Über die Form der Gemeinderatssitzungen gibt es leider keine Aufzeichnungen, aber die wenigen Hinweise, die die Protokolle (gerade in ihrer Masse) geben, können als Indizien weitere Recherchen anstoßen – und das müssen sie auch. Und zwar nicht nur, um herauszufinden, was es mit den Fleisch-Aufschlaggebühren auf sich hat.

Nun zu Euch, meinen unbekannten Leser*innen: Kennt Ihr Arbeiten, die ähnlich verfahren? Habt Ihr vielleicht Ratschläge und Erfahrungen, wie man eine solche Auswertung möglicherweise optimieren kann?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/33

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„Übergangsgesellschaften“ – ein Werkzeug

Sind nicht alle Gesellschaften Übergangsgesellschaften? Kann ich mir eine Gesellschaft vorstellen, die vollständig statisch ist, die sich also nicht in einem Übergang von einem in einen anderen Zustand befindet? Gibt es überhaupt gesellschaftliche Zustände, die durch Übergänge miteinander verknüpft werden? Bereits diese erste Irritation verdeutlicht, dass „Übergangsgesellschaften“ weniger eine Klassifikation ist (nach dem Muster: es gibt Übergangsgesellschaften und es gibt Zustandsgesellschaften), sondern eher als heuristisches Werkzeug dienen kann.

Es wäre jedoch banal, als einzigen heuristischen Mehrwert den Fokus auf die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Strukturen und Mechanismen anzunehmen – etwa genauso banal wäre es auch, das Ganze als These zu formulieren, etwa: Ich gehe davon aus, dass ländliche Gemeinden zwischen 1850 und 1950 Übergangsgesellschaften waren. Nur als Werkzeug, nicht aber als Ergebnis, funktioniert der Begriff.

Verstreute Funde innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft bieten jedoch die Möglichkeit, etwas genauer zusammenzupuzzlen, was mit dem Begriff „Übergangsgesellschaften“ als Werkzeug zu erreichen ist.

Zunächst jedoch: „Übergangsgesellschaft“ ist im Grunde gar kein Begriff. Er taucht nicht besonders häufig auf, und er ist in keiner Form als Begriff fixiert. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft gibt es eigentlich nur eine Verwendungsweise des Begriffs, die klar zuzuordnen ist. Im Jahr 1996 erschien in der „Zeitschrift für Historische Forschung“ ein Aufsatz von Christof Dipper mit diesem Titel; darin plädierte er dafür, Europa um 1800 als „Übergangsgesellschaft“ zu begreifen. Er verfolgte damit eine doppelte Strategie: Zum einen betonte er europaweite Ähnlichkeiten und Parallelen, zum anderen forderte er eine Neubewertung des späten 18. Jahrhunderts, indem er die „Epochenschwelle“ von 1789 durch einen längeren Transformationszeitraum ersetzte. Dafür zog er zum Beispiel demographische oder ökonomische Strukturveränderungen als Argumente heran. Einige wenige Autoren verwenden den Begriff ausgehend von Dippers Überlegungen, ohne ihn dabei weiter zu bestimmen (Bauerkämper, Grewe und Raphael); in der Festschrift zu Dippers Emeritierung erschien außerdem 2008 eine Auseinandersetzung von Jürgen Osterhammel mit dem Begriff aus globalhistorischer Sicht.

Bibliographiert man auch jenseits der disziplinären Grenzen, trifft man auf den Terminus in der Entwicklungssoziologie. Stichwortgeber war hier der Soziologe Alvin Boskoff, der in den 1950er Jahren den Begriff der „transitional society“ (der mit „Übergangsgesellschaft“ übersetzt wird) benutzte, um Gesellschaften der südlichen Hemisphäre zu beschreiben. Ihm war daran gelegen, die starken Dichotomien, die die Soziologie beherrschten, aufzulösen. Mit dem Begriff „transitional society“ führte er einen weiteren, hybriden Idealtypus ein: „By ‚transitional society‘ is meant a society which offers substantial evidence of modification away from some distinguishable ideal type with which it had been previously identified.“. Er dynamisierte also – ebenso wie Dipper übrigens – die Beobachtung von gesellschaftlichen Transformationen.

Dabei charakterisierte Boskoff allerdings diese „transitional societies“ durch besondere Konfliktlagen, die dadurch zustande kämen, so Boskoff, dass externe Wandlungen nicht vollständig und nicht adäquat in die gesellschaftliche Struktur eingebaut würden. So entstünden Spannungen struktureller und psychologischer Art.

Was bei Boskoff – schon allein aufgrund der Wortwahl – problematisch und beinahe pathologisch klang, fasste Pierre Bourdieu rund 20 Jahre später etwas gelassener. In seiner Untersuchung zu Wirtschafts- und Zeitstrukturen in Algerien in den 1960er Jahren (dieses Buch trägt im deutschen Untertitel den Begriff der Übergangsgesellschaft, Bourdieu selbst verwendet ihn allerdings nicht) entwickelte er eine Betrachtungsweise von gesellschaftlichem Wandel, der durch externe Veränderungen angestoßen wird und sich in einem von hierarchischen Machtbeziehungen durchzogenen Raum abspielt.

Dieser gesellschaftliche Wandel, so Bourdieu, sei notwendigerweise spannungsgeladen – nicht etwa nur deshalb, weil die Übergangsgesellschaften die externen Einflüsse nicht adäquat verarbeiteten. Strukturveränderungen, so Bourdieu, könnten sich gar nicht unmittelbar in veränderten Lebensweisen, Dispositionen und Habitus niederschlagen, denn sie müssten über einen langwierigen Lernprozess, über Erfahrung und Praxis von Individuen (die unterschiedlich gute Voraussetzungen dafür mitbrächten) eingepasst werden. Ein solcher Adaptionsprozess an neue strukturelle Veränderungen aber brauche Zeit.

Bourdieus Vorschlag – Spannungen und Lernprozesse als nicht-deviante Verhaltensweisen zu verstehen und damit erst der Analyse zugänglich zu machen – muss meiner Meinung nach durch eine weitere Perspektive ergänzt werden: Befindet sich eine Gesellschaft im Übergang, ist keineswegs klar und eindeutig, was ihr Ziel sein wird. Weder gibt es eine notwendige (und wiederum statische) Endstation, noch gibt es ausschließlich eine adäquate und damit letztlich zu erreichende Umgangsweise mit strukturellen Veränderungen. Der Übergang ist vielmehr eine vergleichsweise offene Situation, in der verschiedene Adaptionsprozesse beobachtet werden können.

„Übergangsgesellschaften“ bezeichnet also soziale Gebilde, deren Kontexte und innere Strukturen, Machtverhältnisse und Praxisformen in Bewegung geraten sind. Während einer längeren Phase der Adaption kann man auf der Mikroebene beobachten, wie sich neue Konstellationen herausbilden, die sich nach und nach stabilisieren, ohne dass sie dabei determiniert sind. Der Begriff lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine besondere gesellschaftliche Dynamik, die Anpassungsprozesse erzwingt und mit recht hoher Wahrscheinlichkeit Konflikte hervorbringt.

Ich beobachte ländliche Gemeinden zwischen 1850 und 1950 als Übergangsgesellschaften, und zwar mit dem Ziel, die Adaptionsprozesse sichtbar zu machen und daraus wiederum Einsichten in den gesellschaftlichen Wandel auf der Mikro- ebenso wie der Makroebene zu gewinnen.

 

Literatur:

Bauerkämper, Arnd: Traditionalität in der Moderne. Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Mecklenburg nach 1945, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003), S. 9-33.

Boskoff, Alvin: Postponement of Social Decision in Transitional Society, in: Social Forces 31 (1953), S. 229-234.

Bourdieu, Pierre: Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaften. Aus dem Franz. Übers. u. m. einem Nachwort v. Franz Schultheis, Konstanz 2000 (frz. Orig. u.d.T.: Algérie 60. Structures économiques et structures temporelles, Paris 1977).

Dipper, Christof: Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für Historische Forschung 23 (1996), S. 57-87.

Grewe, Bernd-Stefan: Die Übergangsgesellschaft und ihre Umwelt, Schneider, Ute u. Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 687-705.

Osterhammel, Jürgen: Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang, in: Schneider, Ute u. Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 707-723.

Raphael, Lutz: Staat im Dorf. Transformation lokaler Herrschaft zwischen 1750 und 1850: Französische und westdeutsche Erfahrungen in vergleichender Perspektive, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003), S. 43-61.

Zunächst ausgespart habe ich aus diesen Überlegungen das Stück des Dramatikers Volker Braun von 1982. Braun, Volker: Die Übergangsgesellschaft (1982), in: Stücke 2, Berlin 1989, S. 119-146.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/23

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