Projektbeschreibung: Übergangsgesellschaften. Zur Politik und Politisierung ländlicher Gesellschaften in Mitteleuropa, ca. 1850-1950

Das neue Jahr hat längst begonnen, und damit auch ein neues Blog-Jahr. Ich beginne es mit guten Vorsätzen (die ich jedoch für mich behalte), und mit einer aktualisierten Beschreibung meines Forschungsprojekts. Seit einigen Wochen ist dieser Text auch auf meiner dienstlichen Homepage zu lesen; hier hoffe ich vor allem auf neue, andere Leser – und auf Kommentare, Hinweise, Diskussionen. Ich freue mich auf ein reges 2014!

Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit regionalen und nationalen Eigenzeiten, wandelten sich mitteleuropäische Gesellschaften von Agrar- zu Industriegesellschaften, wobei regional und national große Unterschiede zu beobachten sind. Diese Transformationen betrafen längst nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern wirkten sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Wie Gunther Mai gezeigt hat, verlief die „agrarische Transition“ etwa im politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, was zu Ungleichzeitigkeiten, Spannungen und Konflikten führte. Ausgehend von diesen Überlegungen zur Makroebene europäischer Gesellschaften setzt mein Projekt auf der Mikroebene an und fragt danach, ob, und wenn ja, in welchen Formen, diese agrarische Transition in lokalen Kontexten stattfand und sich niederschlug. Ich frage danach, wie ländliche Mikrogesellschaften, genauer gesagt agrarisch geprägte Dorfgemeinden, den gesamtgesellschaftlichen Wandel wahrnahmen, wie sie ihn verarbeiteten und für sich gestalteten. Dabei gehe ich zunächst davon aus, dass die Makroprozesse sich nicht eins zu eins auf der Mikroebene niederschlugen, dass andererseits aber die lokalen Mikrogesellschaften spätestens im untersuchten Zeitraum eng in größere Kontexte eingebunden waren. Das Projekt basiert nicht auf der Gegenüberstellung von Land und Stadt oder lokalen Gemeinschaften und nationaler Gesellschaft, sondern fasst ländliche Mikrogesellschaften als Kontaktzonen auf, in denen unterschiedliche Interessen und Machtverhältnisse, Praktiken und diskursive Ordnungen miteinander interferierten.

Zur Beobachtung des gesamteuropäisch feststellbaren sozialen Wandels wird in der diachron angelegten Studie der Bereich der Politik als Untersuchungsgegenstand gewählt. Zum einen dient er pars pro toto als Indikator für gesellschaftlichen Wandel in einer funktional differenzierten Gesellschaft; zum anderen kann der Bereich des Politischen als besonders dominante Sphäre im Untersuchungszeitraum ausgemacht werden: Viele soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen wurden politisiert, der politischen Bearbeitung unterworfen. Für diese Anlage des Projekts ist ein breiter Politikbegriff notwendig, der Handlungs- und Kommunikationspraktiken ebenso umfasst wie diskursive und symbolische Systeme.

Um die Komplexität politischer Prozesse im Lokalen adäquat untersuchen zu können, werden ländliche Mikrogesellschaften sowohl als politische Akteure wie auch als politische Räume begriffen:

  •  Als politische Akteure treten Dorfgemeinden vor allem als Gemeinderat oder Gemeindeverwaltung in Erscheinung. Gegenüber anderen Gemeinden, den übergeordneten Verwaltungsebenen, externen Akteuren und der eigenen Bevölkerung agieren Dorfgemeinden politisch, indem sie (vermeintliche) Kollektivinteressen artikulieren und durchzusetzen versuchen.
  • Gleichzeitig waren die Gemeinden Räume, die durch politische Prozesse und Konflikte geprägt wurden. Wer wurde durch die Dorfgemeinde überhaupt repräsentiert? Welche Machtverhältnisse strukturierten die Gemeinde? Wer handelte politisch – etwa jenseits der „großen Männer“ innerhalb des Dorfes auch Vereine und Verbände, unterprivilegierte Gruppen, die Kirchen, Unternehmen oder Touristen?

Die Studie kombiniert dabei diachrone und synchrone Ansätze. So sollen zum einen langfristige Konjunkturen sichtbar gemacht werden (etwa in der Arbeit des Gemeinderates, der Wahlbeteiligung oder auch der Partizipationspraxis), zum anderen werden „lokale Momente“ ausfindig gemacht, die als zeitliche Verdichtungen von Wandlungsprozessen und Dynamiken analysiert werden können. Umbruchphasen und Krisen, die nicht immer mit den bekannten Ereignissen der „großen“ Geschichte zusammenfallen, veränderten Handlungsoptionen und Deutungsmuster ebenso wie Gestaltungsperspektiven der lokalen Akteure.

Die Studie setzt sich mehrere Ziele:

  1. Es sollen verschiedene Formen der Politisierung in ländlichen Gemeinden identifiziert werden. Ausgehend von einem bestimmten Gemeindetypus, nämlich einem postkommunalistischen zentraleuropäischen Typ (anhand von bayerischen, elsässischen und schweizerischen Beispielen), soll der Einfluss von Selbstverwaltungstraditionen und –formen auf Politisierungsprozesse untersucht werden. Ziel ist es, sowohl diachron als auch synchron zu einer Typenbildung beizutragen.
  2. Zweitens sollen dadurch ländliche Gemeinden als wichtiger Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Mobilisierungsprozesse sichtbar gemacht werden. Gerade für den Zeitraum ab 1850 interessierte sich die Geschichtswissenschaft bislang vor allem für städtische Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse, während ländliche Mikrogesellschaften kaum beachtet wurden.
  3. Drittens dient die Studie der Erprobung globalgeschichtlicher Methodensets für die problemorientierte Bearbeitung lokaler Gesellschaften in Zentraleuropa. Welche Methoden der global studies können hier gewinnbringend eingesetzt werden? Wie können diese Methoden für die peripheren Regionen in Europa angepasst und weiterentwickelt werden?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/248

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„Creating Rurality from Below“

 

Ich hatte es vor einiger Zeit schon mal erwähnt: Am vergangenen Wochenende fand in Bamberg eine interdisziplinäre und internationale Tagung statt, organisiert von Marc Redepenning, Julia Rössel und Christoph Baumann, alle drei Sozial- und KulturgeographInnen.

Tagungsposter; http://www.blogs.uni-mainz.de/fb09cultural-geography/events-and-conferences/rurality-new-perspectives-and-themes/; alle Rechte dort.http://www.blogs.uni-mainz.de/fb09cultural-geography/events-and-conferences/rurality-new-perspectives-and-themes/

Diskutiert wurde, wie man mit einem relationalen Verständnis von Ländlichkeit diese diskutieren und analysieren kann. Ich war eingeladen und durfte netterweise erste Überlegungen zu einem Kapitel meiner Habilitation zu den „Übergangsgesellschaften“ vorstellen.

Die Tagung war für mich sehr interessant und in vielerlei Hinsicht anregend. Nicht nur, dass ich sehr nette Menschen kennengelernt und interessante Gespräche geführt habe, ich habe auch einen ganzen Haufen methodischer und theoretischer Anregungen bekommen und war ganz überrascht von dem Werkzeugkoffer, mit dem manche Geograph/innen so unterwegs sind – sehr beeindruckend! Dass darüber hinaus mein Vortrag gut angekommen ist, ist natürlich ganz besonders toll und gibt mir einen kräftigen Motivationsschub!

Im Folgenden gebe ich nun eine Kurzfassung meines Vortrages wieder; wer an einer ausführlicheren Fassung interessiert ist: Ich bin dabei, einen Aufsatz daraus zu machen und werde selbstverständlich Bescheid geben, wenn er irgendwo erscheint.

 

„Ländlichkeit“ ist ein Konzept, das in der Geschichtswissenschaft in der Regel nur vermittelt eine Rolle spielt. Untersucht die Geschichtswissenschaft agrarische Gesellschaften, wird in der Regel das Charakteristikum „Ländlichkeit“ als Kennzeichen der untersuchten Gesellschaft vorausgesetzt, nicht aber selbst zu einem Gegenstand der Untersuchung gemacht. Untersucht man jedoch – und das ist in der Vergangenheit bereits ausgiebig unternommen worden – die Konstruktion von Ländlichkeit, so rücken vor allem bürgerliche, städtische Akteure in den Blick, etwa die „Agrarromantiker“, von denen Bergmann 1971 schrieb. Ländlichen Gesellschaften selbst schienen von diesen Ländlichkeitskonstruktionen weitestgehend unberührt zu sein; sie existierten quasi in einer anderen Sphäre.

Ich habe im Rahmen des Vortrags diese Forschungen insofern erweitert, als dass ich ländliche Gesellschaften als „Kontaktzonen“ in bestimmten Prozessen sichtbar mache. Kontaktzone – das ist ein Konzept, das vor allem in der post-kolonialen Forschung zu Globalisierungsprozessen eine Rolle spielt und erst langsam, vor allem vermittelt über Emily Rosenberg, seinen Weg in die Geschichtswissenschaft findet. Kontaktzonen sind in diesem Zusammenhang soziale Räume, die durch die Konfrontation und den Kontakt heterogener Interessen bestimmt sind, vor allem aber durch Hierarchien, Machtverhältnisse und die unterschiedliche Verteilung von Handlungsspielräumen gekennzeichnet sind. So kann man auch ländliche Gesellschaften als Kontaktzonen der Konstruktion von Ländlichkeit sichtbar machen.

In zwei Schritten bin ich anschließend diesem Konstruktionsprozess vor Ort, am Beispiel von Bernried, nachgegangen: am Beispiel von Heimatschutz-Gesetzgebung und der Förderung des Tourismus. Bernried eignet sich hervorragend für die Analyse dieser Beispiele – oder andersrum: Die Beispiele sind abgeleitet vom Bernrieder Fall, sicherlich wären auch andere Situationen denkbar, in denen Ländlichkeitskonstruktionen sichtbar gemacht werden könnten. Aber Bernried als früher Sommerfrische-Ort und Sinnbild eines (vermeintlich) unberührten oberbayerischen Dorfes im Voralpenland zeigt genau an diesen Stellen, wo Kontakte über die Dorfgrenzen hinaus bestehen, die exemplarisch analysiert werden können.

1. Zu diesem ersten Abschnitt habe ich bereits einen kurzen Text geschrieben. Wenn man den Maßnahmen zur Pflege heimischer Bauweise genauer nachgeht, stellt man schnell fest, dass diese zunächst (mindestens im Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg) vor Ort keine Relevanz hatten – oder anders gesagt: Es gab keine Baugenehmigungen, die ausgehend von der Heimatschutzgesetzgebung zum Schutz heimischer Bauweise nicht genehmigt oder nur unter Auflagen genehmigt worden wären. Aber sichtbar wird auch: Gebaut haben in Bernried in dieser Periode fast nur Städter – vor allem Angehörige des Bürgertums (vermute ich; fast alle von ihnen trugen Doktortitel), und zwar vor allem repräsentative Sommervillen, die sich ziemlich stark von der örtlichen Bauweise unterschieden. Und in der Regel waren das Entwürfe, die von einem orthodoxen Heimatschützer sofort kassiert worden wären – historizistischer Stilmix aus Folklore und Türmchen und Erkerchen. Es passierte aber nichts. Was kann man daraus schließen?

Entweder geht man davon aus: Okay, Heimatschutzgesetzgebung hat keinen Effekt, sie versandet irgendwo auf dem Weg von oben nach unten. Oder aber man fragt sich: Warum hat denn die Gemeindeverwaltung, die zuständig gewesen wäre für die Einhaltung der ortspolizeilichen Vorschriften, nicht interveniert? Dann wird das Nicht-Intervenieren zu einer aktiven Handlung, die mit bestimmten Motivlagen verknüpft sein könnte: etwa der Abwägung von monetären Interessen der Gemeinde (neue Grundsteuer-Zahler) mit ideellen (Heimatschutz); oder aber auch das bewusste Ignorieren von Heimatschutzvorstellungen, die den eigenen widersprechen (auch hierfür gibt es Hinweise). Wichtig ist also: Anhand der Heimatschutz-Gesetzgebung und ihrer (Nicht-)Umsetzung kann analysiert werden, dass die Möglichkeiten, das architektonische Bild des Dorfes zu beeinflussen, sehr ungleich verteilt waren. Die Heimatschutz-Propheten waren nicht besonders erfolgreich. Wie „erfolgreich“ oder nicht hingegen die örtlichen Akteure waren, findet man nur heraus, wenn man ihre Zielsetzungen kennt. Und es scheint zumindest möglich, dass sie – gemessen etwa an der Zielsetzung, möglichst viele Steuerzahler nach Bernried zu holen und diese nicht etwa mit irgendwelchen Bauordnungen zu verschrecken – durchaus erfolgreich waren.

2. Beinahe gleichzeitig mit der Implementierung der Heimatschutzgesetzgebung begann man in Bernried damit, den Ort für Touristen attraktiver zu machen. Zwar war Bernried auch schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert ein Ort gewesen, an dem der eine oder andere prominente Münchner seine Sommerfrische verbracht hatte, schien es doch den örtlichen Verantwortlichen sinnvoll zu sein, einen Verein zu gründen, um Bernried attraktiver zu machen. Der „Dorfverschönerungsverein“ hatte es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, Fußwege im Ortsbereich anzulegen, Baumalleen und schattige Wälder zu pflanzen sowie Parkbänke aufzustellen. Ganz offensichtlich war es also das zentrale Anliegen des Vereins, Bernried zu einem attraktiven Ort für eine zutiefst bürgerliche und touristische Aktivität zu machen: für den Spaziergang. Der erste Ansatz war, eine Promenade am Seeufer anzulegen. Dass dies letztlich am Widerstand des örtlichen Gutsbesitzers scheiterte, ist eine komplizierte Geschichte – offenbar befürchtete dieser, sein ländliches Gut werde an Wert verlieren, wenn ein öffentlicher Spazierweg darüber führte. Auch hier also waren die Chancen zur Gestaltung des Dorfes unterschiedlich verteilt; interessant erscheint darüber hinaus, dass der örtliche Verschönerungsverein nicht das architektonische (oder Kultur-)Bild des Ortes zu konservieren versuchte, sondern vor allem die „natürlichen“ Voraussetzungen des Ortes – die Naturnähe, den Ausblick etc. – durch Baumaßnahmen besonders hervortreten lassen wollte. Ländlichkeit wurde hier also vor allem über Natürlichkeit zu konstruieren versucht.

Es wird klar, dass man auch auf der Mikroebene die Herausbildung von Ländlichkeit beobachten kann – und sollte. Die Herausbildung war aber weder einfach durch städtische Akteure determiniert noch von den ländlichen Akteuren komplett steuerbar. Die Möglichkeiten, Ländlichkeit aktiv zu konstruieren und dauerhaft im Ortsbild zu verankern, waren sehr ungleich verteilt. Eine Analyse der „Kontaktzone Dorf“ nimmt also diese unterschiedlichen Vorstellungen und Verwirklichungschancen in den Blick, ohne bereits davon auszugehen, dass am Ende die „städtischen“, weil mit mehr Machtmitteln ausgestatteten Akteure als „Sieger“ aus der Schlacht hervorgingen. Zudem wurde sichtbar, dass nicht alle Formen der Ländlichkeits-Konstruktion schlichte Romantisierungen des Landlebens waren, sondern dass darüber hinaus auch eine instrumentelle Variante bedacht werden muss. Ein Beispiel ist die „ländliche Natürlichkeit“, die der Dorfverschönerungsverein forcierte, und die zumindest zu einem Gutteil dazu dienen sollte, Touristen nach Bernried zu holen.

 

 

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/227

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Wolxheim – (m)eine Gemeinde im Unterelsass

Nach einem Archivaufenthalt während der Semesterferien kann ich vermelden: Ich habe eine zweite Untersuchungsgemeinde. An die Seite von Bernried am Starnberger See gesellt sich nun Wolxheim, eine kleine Gemeinde, heute im Arrondissement Molsheim, Département Bas-Rhin, etwa 20 Kilometer westlich von Strasbourg in der Nähe der Route des Vins d’Alsace gelegen.

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin)

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin); Foto: A. Schlimm

Die Auswahl einer Gemeinde für den Untersuchungsraum Elsass hat sich länger hingezogen, als ich erwartet hatte – unter anderem lag das daran, dass die Informationen über die archivalische Überlieferungslage nicht gut zugänglich waren. Wolxheim aber hat eine gute Überlieferung (im Vergleich zu anderen Gemeinden dieser Größe), wie ich jetzt weiß. Und das ist für mein Projekt ein gewichtiges Argument. Vor allem die Gemeinderatsprotokolle sind für meinen Untersuchungszeitraum lückenlos zugänglich. Warum das so wichtig ist? Hier habe ich darüber schon einmal geschrieben.

Wolxheim ist – abseits der guten Überlieferungslage – ein „ganz normales“ Dorf, nichts ist besonders herausragend oder speziell. Um 1850 hatte es rund 1000 Einwohner, meist Weinbauern, aber auch Kanalschiffer, denn es liegt am Canal de la Bruche (Breuschkanal), der bis zum Zweiten Weltkrieg als Wasserweg benutzt wurde. Dadurch und durch die geographische Lage – ca. 4,5 Kilometer vom Gerichts- und Kantonsort Molsheim entfernt – war Wolxheim nicht vollkommen isoliert. Vielmehr war es ein typisches Dorf, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend in überlokale Zusammenhänge integriert wurde und dadurch an vielen Entwicklungen partizipierte, ohne seinen dörflichen Charakter vollkommen zu verlieren.

Foto: A. Schlimm

Im Sitzungsraum in der Mairie Wolxheim; Foto: A. Schlimm

Wolxheim war darüber hinaus ein Dorf, das über eine ganze Reihe gemeindlicher Institutionen verfügte – über eine Feuerwehr zum Beispiel, auch über einen Armenrat. Um 1900 wurde eine Poststelle gegründet, und auch einen Fernsprecher und Telegraphen gab es ungefähr ab diesem Zeitpunkt. Alles in allem zeugt das von einer guten Einbindung in überlokale Kommunikationszusammenhänge bei gleichzeitiger Stärke der gemeindlichen Selbstverwaltung. Und damit ist Wolxheim – in seiner ganzen Normalität – ein guter Untersuchungsgegenstand für meine Arbeit.

Wie geht es nun weiter? Ich werde in den kommenden Monaten versuchen, die Gemeinderatsprotokolle auszuwerten und die sonstigen Archivalien, die ich als Fotografien aus Strasbourg und Wolxheim mitgebracht habe, zu sichten. Im Frühjahr geht es wohl wieder nach Wolxheim, dort wartet ein Schrank voller grob sortierter Unterlagen aus dem 20. Jahrhundert darauf, von mir durchforstet zu werden. Und dann ist da ja auch noch eine dritte Region, die ich untersuchen will … Dazu aber zu einem anderen Zeitpunkt mehr.

Auch wenn ich keine Dörfer, sondern nur in Dörfern untersuche, freue ich mich doch über mein neues Untersuchungsfeld. Willkommen, Wolxheim, auf meinem Schreibtisch, in meinem Kopf, und natürlich auch auf diesem Blog!

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/206

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Obstbäume – ein Politikum?

In meinem Bericht über den Ausflug in die Obstbaukolonie Eden hatte ich erwähnt, dass es auch in Oberbayern Vereine gab, die den Obstanbau intensivieren wollten. Ich hatte mich gefragt, ob es eventuell Ähnlichkeiten, sogar direkte Einflüsse zwischen den lebensreformerischen Obstromantikern und solchen lokalen Initiativen wie dem Bernrieder Obst- und Gartenbauverein geben könnte.

Apfelausstellung

Eine Apfelausstellung im Freilichtmuseum Skansen in Stockholm – auch gegenwärtig ziehen solche Veranstaltungen Besucher an. Foto: A. Schlimm, CC-BY-SA

Nun habe ich zumindest schon einmal angefangen, dieser Frage nachzugehen – etwas nebenher, denn ganz zentral ist die Frage für meine Untersuchung nicht. Die Unterlagen im Bernrieder Gemeindearchiv geben nicht besonders viel her; der Akt im Staatsarchiv München zur Obst- und Gemüseanbauförderung im Bezirk Weilheim ist hingegen ganz schön umfangreich.

Dort werden aber ganz andere Grundlagen und Motivationen der Obstbau-Förderung als in Eden sichtbar. Wie in anderen Territorien auch (und schon deutlich früher) war es im Königreich Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Anliegen von allerhöchster Stelle, den Obstbau zu intensivieren, beispielsweise Alleen mit Obstbäumen zu bepflanzen, um so ganz nebenbei zusätzliche Lebensmittel anzubauen. Aber warum eigentlich?

Der „Obstbaum-Freund“, ein Informationsblatt zum Obstbau, herausgegeben von der allgemeinen praktischen Gartenbau-Gesellschaft zu Frauendorf in Bayern, ist in der Hinsicht nicht allzu redselig. Dort wird lediglich betont, der Obstbau sei – direkt nach dem Getreideanbau – das „edelste, schönste und nützlichste Geschäft“, das nicht nur der Bauer, sondern eigentlich jeder Landbesitzer – und wenn er nur einen Garten sein Eigen nenne – betreiben könne. Hier taucht wieder eine Argumentation auf, die uns bereits aus den lebensreformerischen Kontexten bekannt ist: Der Obstbau mache keine große Arbeit: „Alle Zweige der ländlichen Oekonomie werden sorgfältig betrieben, und gerade derjenige, der bei der wenigsten Mühe den meisten Nutzen brächte, wird so unverantwortlich vernachläßiget.“ (Plan und Zwek [sic] des Obstbaumfreundes [1828], S. 2)

Offenbar waren aber die Bemühungen der Königlichen Kammer des Innern, die gemeinsam mit der Gartenbau-Gesellschaft eifrig für den Obstbau warb, nicht von besonderem Erfolg gekrönt. Immer wieder schrieb sie an die Gerichte (vor der Aufteilung von Verwaltung und Justiz in Bayern gab es keine Bezirksämter!), dass doch bitte die Hilfe, die der Gartenbauverein anbot – mit schriftlichem Informationsmaterial, der Zusendung von Bäumen und Saatgut, sogar der praktischen Unterweisung – angenommen werden solle. Aus dem Wust an Schreiben ist wohl für mich die Schlussfolgerung zu ziehen: Gebracht hat das alles nicht besonders viel.

Nun gibt es leider für die Zeit um 1912, als in Bernried der Gartenbauverein gegründet wurde, keine Aktenüberlieferung aus dem Bezirksamt. Erst aus den 1920ern fand ich wieder Material, das darauf hindeutet, dass der Obstanbau zu einem dringlichen politischen Thema geworden war, und zwar aus volks- wie aus betriebswirtschaftlichen Gründen:

„Alljährlich fliessen ungeheuere Summen deutschen, sauer erworbenen Geldes für Obst und Südfrüchte ins Ausland. Alle ländlichen Kreise leiden unsagbar schwer unter den heutigen wirtschaftlichen Nöten! Immer lauter und eindringlicher wird der Ruf nach Erhöhung der Einnahmen! Die Einnahmen des einzelnen Landwirtes lassen sich erhöhen, die Abwanderung deutschen Geldes eindämmen durch stärkere Beachtung und namentlich besserer Pflege eines landwirtschaftlichen Erwerbszweiges, der bis jetzt gerade in Oberbayern noch zu wenig Beachtung gefunden hat: des OBSTBAUES.”

So heißt es in einem Aufruf, den der Oberbayerische Kreisverband für Obst- und Gartenbau im November 1927 an „die ländliche Bevölkerung, Landwirtschaftsstellen, Geistlichkeit, Lehrerschaft, Bezirksverwaltungsbehörden und Gemeinden Oberbayerns“ richtete, und der ebenfalls im oben angesprochenen Akt enthalten ist. Von der Romantik einer naturgemäßen Lebensweise ist hier wenig zu spüren. Es geht nicht um den Aufruf zur Umkehr in ein irdisches Paradies, sondern darum, das ungenutzte Potential im Obstbau zu nutzen und das große Geschäft mit dem Obst nicht der ausländlichen Landwirtschaft zu überlassen.

Dass aber verschiedene Akteure wie Vereine und Verbände, die Bezirksverwaltung, die Regierung von Oberbayern und schließlich (schon weniger überraschend) der Reichsnährstand sich so viel mit dem Obst- und Gemüseanbau beschäftigte, finde ich sehr interessant. Dabei wurde der Anbau von Obst zu einem politischen Thema, indem er mit den verschiedensten gesellschaftspolitischen Zielsetzungen verbunden wurde. Zwischen herrschaftlicher Landesverbesserung, lebensreformerischer Obstromantik, wirtschaftspolitischer Krisenbekämpfung und der Forcierung von Autarkie und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bis in die Spitzen der Obstbäume spannte sich ein Feld politischer Praktiken und auch Auseinandersetzungen auf. Hier kann man auch beobachten, wie sich die unterschiedlichsten Diskurse und Praktiken in verschiedenen räumlichen Kontexten – von weltwirtschaftlichen Verflechtungen bis hin zur Organisation auf dörflicher Ebene – etablierten. Und das ist es, was mich in meinem Projekt interessiert – wenn auch nicht nur am Beispiel von Obstbäumen.

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Quellen:

„Plan und Zwek [sic] des Obstbaumfreundes: Sämmtlichen hohen Regierungen ans Herz gelegt“, in: Probeblatt: Der Obstbaum-Freund, Nr. 1, 1. Jahrgang, 1. Jäner 1828, Herausgegeben von der allgemeinen praktischen Gartenbau-Gesellschaft zu Frauendorf in Bayern, S. 1-2.

Ein Sonderdruck der ersten Ausgabe liegt – offenbar als Werbemaßnahme dorthin gelangt – im angesprochenen Akt im Staatsarchiv München, Best. LRA 7067: Akt des königlichen Bezirksamtes Weilheim: Förderung des Obst- und Gemüsebaues.

Die Zeitschrift erschien 1828 bis 1843 und ist in verschiedenen Bibliotheken einsehbar [s. ZDB].

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An der TU Berlin gibt es ein Forschungsprojekt „Amtshausgärten“, das unter anderem am Beispiel der Plantage der Herrenhauser Gärten im Kurfürstentum Hannover den Zusammenhang von Verwaltungsstrukturen und Landesverbesserung zwischen 1750 und 1850 erforscht. Dabei geht es viel um die Verbreitung von Obstbau-Wissen. Der spannende Vortrag der Projektbearbeiterinnen Sylvia Butenschön und Heike Palm auf der GfA-Tagung 2013 hat mich unter anderem auf das Thema Obstbau aufmerksam gemacht.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/185

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Bayernwahl spezial: Die Starnberger Landtagswahl 1875

Ein Spezialartikel zur Landtagswahl in Bayern, das hatte ich mir vorgenommen. Und es wurde ein anekdotischer Rückblick ins Jahr 1875. Denn in der vergangenen Woche bin ich – eher zufällig – über ein paar Zeitungsmeldungen gestolpert, die einen ganz guten Eindruck davon vermitteln, welche Rolle die Landtagswahlen in einem bayerischen Fischerdorf wie Starnberg spielten. Gefunden habe ich die Meldungen im Starnberger See-Boten, einer Wochenzeitung, die ab 1875 in Starnberg erschien, zunächst eben nur einmal in der Woche (immer samstags), und über allerlei Amtliches und Vermischtes, vornehmlich aus Starnberg und Umgebung, berichtete.

Die erste Meldung mit Bezug zur Landtagswahl findet sich in der Ausgabe Nr. 10 (vom 3. Juli 1875, Seite 1). Dort wird in der Rubrik „Amtliches“ bekanntgegeben, dass es vor der Landtagswahl noch die Möglichkeit gibt, den notwendigen Eid auf die Verfassung abzulegen, und zwar nicht nur im Bezirksamt links der Isar in München, sondern auch in Starnberg selbst – an einem Sondertermin am folgenden Dienstag, im Landgerichtslokal. Gleichzeitig informiert der See-Bote darüber, wer eigentlich wahlberechtigt war: „Wahlfähig ist jeder volljährige Staatsangehörige, welcher dem Staate eine directe Steuer entrichtet, soferne er nicht wegen Verurtheilung der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist.“

Diese Information war dringend notwendig, denn bereits zehn Tage später, am 15. Juli, fand die Wahl der Wahlmänner statt, die Vorstufe der Landtagswahl sozusagen. Auch dieser Termin wurde wenige Tage vorher im See-Boten (Nr. 11 vom 10.07.1875, S.1) angekündigt. Punkt 8 Uhr morgens sollte es losgehen, und zwar im „Tutzingerhof“ (da bekommt das Wort „Wahllokal“ zumindest mal den richtigen Beigeschmack). Erinnert wurde daran, dass jeder, der wählen wollte, selbst anwesend sein musste: „Stellvertretung [findet] nicht statt“.

Zudem macht der See-Bote klar, welche Auswirkungen der wirtschaftliche Stand auf das Wahlrecht hat: „Jene Personen, welche bloße Einkommensteuer bezahlen, können als Wahlmann nicht gewählt werden, da nach einer hohen Ministerial-Entschließung vom 29. April 1869 die bloße Bezahlung von Einkommensteuer die passive Wahlfähigkeit zum Wahlmann bei den Landtagswahlen nicht begründet.“ (Ebd.) Man musste also auch andere Steuern als nur Einkommenssteuer bezahlen. Der Grundbesitz (und damit die Grundsteuerpflichtigkeit) dürfte es gewesen sein, die einen Bayern zum politisch voll Berechtigten machte. Wer keinen eigenen Grund und Boden besaß, konnte zwar abstimmen, aber nicht selbst Wahlmann sein. Darüber hinaus vermute ich mal: Wirtschaftliche Selbständigkeit dürfte es erst ermöglicht haben, überhaupt an der Wahlversammlung teilzunehmen. Donnerstags morgens um acht waren unselbständig Beschäftigte, auch wenn sie ein ausreichendes Einkommensteueraufkommen hatten, in der Regel wohl nicht so frei, in den Tutzingerhof zu gehen, um ihre Stimme abzugeben.

Nichtsdestotrotz, der See-Bote rief zur Wahl auf – und zu Vernunft und Besonnenheit:

„[A]n die Urwähler Starnberg’s! Mit Riesenschritten rückt jener ernste Tag immer näher an uns heran, wo wir uns zur Wahlurne zu begeben haben um aus unserer Mitte jene Männer zu wählen, welche das Vertrauen besitzen und Einsicht haben, für das Wohl und Gedeihen unseres lieben Vaterlandes entschieden mitzuwirken. Wir sollen deshalb als Staatsbürger die wenigen noch vor uns liegenden Tage nicht gleichgiltig [sic] vorübergehen lassen, ohne nicht auch den großen Wert dieser Wahl in’s Auge zu fassen; es muß deshalb jedem Bürger von uns sehr daran gelegen sein, Männer zu wählen, bei denen man sich überzeugte, daß dieselben nicht nur geistige Befähigung besitzen, sondern nebst dieser Eigenschaft auch einen festen Charakter behaupten und ihre Gesinnungen standhaft vertheidigen um nicht bei jeder Anfechtung ihre Farbe zu wechseln. – Möge diese Wahl eine unbeschränkte sein und nur auf oben Angeführtes Bedacht genommen werden.“ (Ebd.)

Schlussendlich wurde in der nächsten Ausgabe (Nr. 12 vom 17. Juli 1875, S. 1) über den Ausgang der Wahl in Starnberg berichtet. Ganz ruhig, entschlossen und gesittet sei die Wahl verlaufen. Von acht bis elf wurde gewählt, dann war alles vorbei. Offenbar kamen aber auch später noch Wähler, um ihre Stimme abzugeben – ohne Erfolg. Insgesamt wurden 248 Wahlzettel abgegeben, von denen nur 2 ungültig waren. Gewählt wurden Sigmund v. Schab, königlicher Landrichter (der übrigens auch Leiter der Versammlung gewesen war), Xaver Friedl, Ökonom und Bürgermeister der Gemeinde Percha, Joseph Halmburger, Gastgeber, Adalbert Kinzinger, Silberarbeiter, und Simon Popp, Tapezierer. Alle – abgesehen vom Richter – waren, so ist zu vermuten, Selbständige. Und alle waren, wie der Seebote berichtete, Liberale. Auf den ersten Blick stimmte Starnberg also sehr geschlossen ab. Die Meldung im Seeboten verrät aber, dass die Wahl keineswegs so eindeutig war. Denn v. Schab, der die meisten Stimmen erhielt, konnte nur 131 davon auf sich vereinen – bei 246 gültigen Wahlzetteln liegt das nur knapp über der 50%-Marke. Offenbar waren sich also die Starnberger gar nicht so einig, wer sie am besten vertreten könnte, und es scheint doch eine Konkurrenz zwischen Kandidaten gegeben zu haben.

Nun haben wir einiges über die Wahlmänner-Wahlen in Starnberg erfahren. Angesichts der geringen Informationsdichte des See-Boten war die Wahl über immerhin drei Wochen hinweg das Top-Thema im Blatt. Doch mit der Wahl der Wahlmänner war die Berichterstattung erschöpft. Über die eigentliche Landtagswahl am 24. Juli 1875, die durch die Wahlmänner ausgeführt wurde, und ihre Ergebnisse berichtete der See-Bote nicht mehr. Offenbar befand der Herausgeber dieses Thema nicht für ausreichend relevant, um darüber zu berichten und die Ergebnisse zu kommentieren. Die „große“ Politik – Landtagswahl – blieb doch zumindest in der massenmedialen Berichterstattung sehr stark auf das eigene Umfeld bezogen. Es waren die Landtagswahlen in Starnberg, über die berichtet wurde, nicht die im Königreich Bayern. Wann sich das wohl änderte?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/168

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Rural History 2013

Leider konnte ich selbst nicht dabei sein, aber ich wäre es gerne gewesen. Lediglich die Vernunft hat mich davon abgehalten, im August meinen pickepacke-vollen Schreibtisch in München zurückzulassen und in den Zug nach Bern zu steigen. Dort tagte zum ersten Mal die nun fertig konstituierte European Rural History Organisation (EURHO). Vier Tage lang gab es Panels über Panels, drei Keynote-Sessions (erstens zum Englischen als lingua franca der Agrargeschichte und den Problemen, die damit einhergehen; zweitens zur europäischen Agrargeschichte und der Publikationsreihe Rural History in Europe, erscheint bei Brepols; und drittens zu Filmen in der Agrargeschichte), Exkursionen und Treffen (das ganze Programm hier). Und na klar, sicher hätte sich der Besuch der Tagung schon allein für die vielen interessanten Gespräche, Eindrücke und persönlichen Kontakte am Rande gelohnt. Gut (oder eher: nicht gut), das habe ich verpasst.

Aber: Auch wenn die EURHO offenbar nicht von besonders vielen digital historians geprägt ist – sucht nur mal nach dem Hashtag #eurho, viel passierte da nicht –, die OrganisatorInnen haben ganze Arbeit geleistet. Auf der schweizerischen Geschichtswissenschafts-Plattform infoclio.ch sind Videos von den Keynote Sessions abrufbar (bereitgestellt von vimeo), und immer mehr Panel-Berichte werden dort online gestellt.

Ich habe mir erst ein paar Dinge angesehen. Besonders gut finde ich die Videos der dritten Session, aber vielleicht auch deshalb, weil sie durch die Filmbeispiele aufgelockert sind und eben nicht einfach einen vortragenden Historiker/eine Historikerin ablichten. Ich bin sofort ein großer Fan des Films „Glück im Stall“ geworden, der in phantastischer Mélange aus Agrarromantik und Agrar-Technizismus die schweizerischen Fleckviehbauern zu einer rationaleren Zuchtpraxis anleiten sollte. Das ganze Glanzstück der Filmkunst (von 1964) gibt’s hier, Min. 01:09 bis 08:55.

So, und nun gehe ich wieder lesen (und Filme schauen) und informiere mich über all das, was ich in Bern verpasst habe. Beim nächsten Mal will ich unbedingt dabei sein. In zwei Jahren ist es wieder so weit, dann in Girona/Spanien!

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/138

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Bayern, Deine Heimat

Den Anfang meines aktuellen Arbeitsfeldes machte ein Quellenschnipsel aus dem Protokollbuch der Gemeindeverwaltung:

Gemeindeverwaltung, Bernried am 21. Februar 1904. Gegenstand der Beschlußfassung auf Grund Art. 101 des Pol.-Str.-Ges.-B.
Auf Vortrag des Bürgermeisters und nach eingehender Beratung wurde mit allen Stimmen beschlossen, was folgt:
Die Gemeindeverwaltung Bernried erläßt auf Grund Art. 1,3 Ziffer 1 u. Art. 101 des Polizei-Straf-Gesetzbuches nachstehende ortspolizeiliche Vorschriften:
§1
Veränderungen im Innern oder am Äußeren von Gebäuden u. sonstigen baulichen Anlagen, wie Feldkapellen u. Denkmalen, von künstlerischer oder geschichtlicher Bedeutung, namentlich auch Änderungen an Fassaden mit alter Bemalung unterliegen der baupolizeilichen Genehmigung, auch wenn sie sonst nach der allgemeinen Bauordnung nicht genehmigungspflichtig werden.
§2
Bei allen Neubauten u. Umbauten ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die Gebäude den heimischen Bauformen bzw. dem Charakter der Bauweise des Ortes angepaßt werden u. auf das Gesamtbild des Ortes und der nächsten Umgebung nicht störend wirken.
§3 Die Ortspolizeibehörde behält sich vor, gegebenen Falls nach Einvernehmen von Sachverständigen Änderungen an den Plänen anzuordnen, soweit dies möglich ist, ohne durch bedeutende Erhöhung der Kosten die Bauausführung unmöglich zu machen oder zu sehr zu erschweren.
[...] (Gemeindearchiv Bernried, B2/5, S. 1f.)

Schon auf den ersten Blick ist dieser Quellenschnipsel interessant, handelt es sich doch um ein Paradebeispiel für konservativ-konservierende Dorfpolitik. Dabei ist aber mindestens genauso interessant, dass offenbar der Anstoß für diese politische Regulierung des Bauens in Bernried nicht aus dem Dorf selbst kommt, denn die Grundlage ist ein bayerisches Gesetz, das nun Auswirkungen auf die Politik vor Ort hat.
Noch interessanter wird das Ganze aber auf den zweiten Blick, denn es handelt sich bei dieser Quelle um den lokalen Niederschlag einer größeren Bewegung, der Heimatschutzbewegung, die in ganz Deutschland aktiv war und Parallelen in anderen europäischen Ländern hat. Als Teil der bürgerlichen Reformbewegungen gehörte die Heimatschutzbewegung eher dem rechts-konservativen Lager an und hatte erhebliche Überschneidungen mit der Agrarromantik; sie vereinte Denk- und Naturschutz mit Volks- und Brauchtumspflege. Ihr Zentrum hatte die Heimatschutzbewegung im städtischen Raum unter akademisch geprägten Männern des Bürgertums. Hier aber wird sie auch Teil der politischen Wirklichkeit im Dorf.
Im Moment arbeite ich mich an diese Thema in zwei Richtungen ab:

  • Erstens rekonstruiere ich, welche Vorstellungen von Ländlichkeit und Moderne in der Heimatschutzbewegung verbreitet waren und in welcher Form diese Vorstellungen sich in administrativen Formen niederschlugen – nicht nur in Gesetzen, sondern auch in Vorschriften, Maßgaben für Bauämter etc.
  • Zweitens bin ich auf der Suche nach den Wirkungen der Vorschrift. Wurde sie – in Bernried und Umgebung vor allem – zur Anwendung gebracht? Welche Bauten wurden verhindert oder modifiziert? Gab es möglicherweise Konflikte, Auseinandersetzungen? Hier führt mich eine Spur besonders in die Richtung der Bauberatungen, die der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde e.V. seit 1904 anbot – mit wachsendem Erfolg.

Während die erste Perspektive also den Horizont erweitert, nach bayerischen, deutschen, möglicherweise sogar europäischen synchronen Prozessen und Entwicklungen fragt, ist die zweite Perspektive vor allem lokal, konzentriert auf Bernried und Umgebung, und durchaus nicht nur auf 1904. Vielmehr wird hier die Wirkungsgeschichte der Regelung verfolgt – und damit auch die Frage, welche Wirkungen die Makrogeschichte von Agrarromantik und nationalkonservativer Heimatideologie auf den ländlichen Mikrokosmos hatte. Das scheint mir ein vielversprechender doppelter Ansatz der mikrohistorischen Erforschung ländlicher Gesellschaften zu sein. Über exemplarische Ansatzpunkte versuche ich, die Verbindungen in die weitere Geschichte zu rekonstruieren – Verbindungen synchroner Art in die Makro-Geschichte, gleichzeitig auch diachrone Entwicklungslinien, die über die Wirkung dieser „Makro-Geschichte“ (wie der Heimatschutzbewegung) im Konkreten Aufschluss geben können.
Ich werde vermelden, wenn ich mit den Nachforschungen weiter gekommen bin – im Moment bin ich eingegraben in Akten, alte Zeitschriften und (mehr oder weniger) aktuelle Fachliteratur zum Thema.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/114

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Die Romantik des Obstbaums

Die Vorbereitung auf das Seminar zur Lebensreform geht weiter. Am Wochenende dann auch mal ganz praktisch: Ein Ausflug zur Obstbaukolonie Eden in Oranienburg stand auf dem Programm. Da ich gerade von Berlin aus arbeite, bot sich das ja an.

Eden ist eine Siedlungskolonie, die im Jahr 1893 in Berlin (übrigens in Moabit – mein Stadtteil!) gegründet wurde, als vegetarische Obstbaukolonie. Hier verbanden sich Lebensreform, Ernährungsreform und Bodenreform zu einem einzigartigen Projekt. Das Logo der Kolonie, das man dort an jeder Ecke findet, symbolisiert mit seinen drei Bäumen diese drei Reformstränge.

Logo von Eden

Das “Logo” von Eden mit den drei Bäumen – Lebensreform, Ernährungsreform, Bodenreform Foto: A. Schlimm, CC-BY-SA

Eden war nicht die einzige Siedlungskolonie, das bei weitem nicht. Aber doch die erfolgreichste. Die Genossenschaft besteht noch (bzw. wieder – nach der Wende neu gegründet), und ein bisschen „Reform“ ist auch noch zu spüren, wenn man den selbstgebackenen Vollkorn-Obstkuchen im Vereinscafé genießt, danach einen Spaziergang durch die Kolonie macht, vorbei an KiTa und Reformschule, und dabei ein Storch über dem Kopf (also sehr weit über dem Kopf) kreist.
Eden war auch lange Zeit wirtschaftlich ziemlich erfolgreich – wer öfter im Reformhaus einkauft, kennt vielleicht die Marke „Eden“, die um die Jahrhundertwende hier entwickelt wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg dann ihren Sitz im Taunus hatte und schließlich 1991 in die Schweiz verkauft wurde. Vor allem Obstprodukte und vegetarische Fleischalternativen wurden hier hergestellt und vermarktet.
Auch bei Bilz (Ihr erinnert Euch?) spielte das Obst eine wichtige Rolle. Er forderte viel mehr Möglichkeiten für Obstanbau, weil das (angeblich) so wenig Arbeit bei extrem hohen Erträgen mache und natürlich außerdem gesund sei; außerdem sollte man viele Südfrüchte, zum Beispiel auch Datteln, essen.
Überhaupt spielte Obst in der Lebensreform und in der Ernährungsreform eine große Rolle. Woran mag das wohl liegen? Möglicherweise hat es etwas mit der Vorstellung zu tun, naturbelassene Nahrung – nicht erhitzt, nicht stark bearbeitet – sei die beste, natürlichste Ernährungsform. Ich glaube aber auch, dass der Obstbaum als Symbol für die nährende Natur eine Rolle spielte. Die bildlichen Darstellungen zeigen das, wie etwa hier im Terrakotta-Relief am Genossenschaftshaus. Auch sprachlich wird die Verknüpfung natürlich deutlich gemacht – Eden hieß ja nicht umsonst Eden, sondern war der Versuch, ein Paradies (wieder)herzustellen, das Leben (und Nahrung) zu spenden versprach.

Mensch und Obstbaum, Terrakotta

Teil des Terrakotta-Mosaiks am Genossenschaftshaus in Eden, ursprünglich vom Edener Bildhauer Wilhelm Groß, in den 1990er Jahren erweitert vom Keramiker Christian Richter; Foto: A. Schlimm, CC-BY-SA

Ich frage mich nun: Lassen sich Verbindungen aufspüren zwischen dieser reformorientierten Wertschätzung für Obst und den Versuchen, in Bernried am Starnberger See die Obstkultivierung voranzutreiben, um die Ernährungslage der ortsansässigen Bevölkerung zu verbessern? Dort wurde 1912, also noch mitten in der Zeit der Reformbewegungen, ein Obst- und Gartenbauverein gegründet. Mit diesem Verein sollte ich mich noch einmal eingehender beschäftigen. Direkte Verbindungen werden es wohl kaum sein, aber es wäre doch interessant, den verschlungenen Wegen nachzugehen, die eine solche Obst-Wertschätzung von lebensreformerischen Bestrebungen bis in die dörflichen Obstgärten durchmacht – oder eben auch nicht. Vielleicht waren ja diese dörflichen Vereinsbestrebungen aus ganz anderen Quellen gespeist. Aber vielleicht habe ich hier eine „Kontaktzone“ gefunden – zwischen der lebensreformerischen, medial präsenten Obstromantik und dem Bernrieder Vereinsleben. Ganz unwahrscheinlich ist das nicht.

 

Eden ist einen Besuch wert: Entweder mit der Bahn bis Oranienburg, von dort aus nach Westen, erst über die Havel, dann über den Oranienburger Kanal – dann ist man schon mittendrin; den gleichen Weg kann man auch mit dem Rad machen. Oder man fährt mit dem Auto, über die B96 bis zur B273, dann ist man praktisch da. Sonntags von 14 bis 17 Uhr ist im Presshaus (Struveweg 505) nicht nur das Café geöffnet, sondern auch eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Siedlung; außerdem kann man Apfelsaft an einem einmaligen Automaten ziehen – in 5-Liter-Säcken. Bei gutem Wetter kann man sehr schön durch die Siedlung stromern, auch wenn wahrlich nicht mehr alle Häuser das Flair der Jahrhundertwende versprühen. Mehr Informationen unter http://www.eden-eg.de/
Baumgartner, Judith: Die Obstbaukolonie Eden, in: Buchholz, Kai u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 511-515.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/102

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Der Zukunftsstaat und seine Landwirtschaft

Ich lese gerade – zur Vorbereitung auf das kommende Semester – einen Klassiker der Lebensreform: Friedrich Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat, aus dem Jahr 1904. Bekannt ist vor allem die Farblithographie, die dem Buch beilag (aber offenbar nur in bestimmten Ausgaben, die von mir benutzte Version nicht illustriert). Dort stellt er das „Volk im heutigen Staat“ dem „Volk im Zukunftsstaat“ gegenüber.

Das Volk im Zukunftsstaat

Farblithographie aus Bilz: Der Zukunftsstaat. By Friedrich Eduard Bilz [Public domain], via Wikimedia Commons.

Das Buch ist ein ganz schöner Schinken, auf 800 Seiten in rund 477 (aber zum Teil doch sehr kurzen) Kapiteln legt Bilz sehr eklektisch und etwas naiv seine Vorstellungen davon dar, wie die Welt verändert werden müsse, um den Menschen wieder in Einklang mit der Natur zu bringen. Das Spektrum der Maßnahmen ist breit – es reicht von der Naturheilkunde (Bilz war ein bekannter Heilpraktiker) über die Abschaffung der Vivisektion bei Tieren und das Verbot von Korsetts bis hin zu Ratschlägen für die Kindererziehung, den Weltfrieden und die Religion. Er setzt dabei vor allem auf ein Umdenken („müssen wir der Menschheit erst eine naturgemäßere Denkweise wieder beibringen“, S. 5), die er allerdings mit einem bunten Strauß staatlicher Interventionen inkl. Verbote kombinieren möchte.

Heute schaue ich mir mal genauer an, was Bilz so über die Landwirtschaft schreibt. Sie spielt keine besonders hervorgehobene Rolle in seinem Text, aber ist durchaus zentral für seine Idee vom „Zukunftsstaat“, also der bis zum Jahr 2000 zu verwirklichenden Gesellschaftsform, die auf das „Naturgesetzes“ gegründet werden soll.

In der utopischen Gesellschaft, die Bilz beschreibt, wird dem „Boden“ wieder seine ursprüngliche Bedeutung zugewiesen: „Der Grund und Boden ist gewissermaßen der Urquell menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit.“ (S. 92) Sein Ruf „Zurück zur Natur“ bedeutet also – ganz typisch für die Lebensreformer – eine Abwendung von der städtischen Lebensweise. Das will er mit unterschiedlichen Maßnahmen erreichen.
Zum einen soll diejenige Arbeit privilegiert werden, die in seinen Augen nützlich ist – also diejenige, die Naturprodukte gewinnt, vor allem Landwirtschaft und die Herstellung einfacher Gebrauchsgegenstände sowie geistige Arbeit. Alle Mitglieder der Gesellschaft, so Bilz‘ Vorstellung, sollen in der Landwirtschaft tätig sein, zumindest im Sommer. Das habe positive Wirkungen auf die Gesundheit jedes Einzelnen. Mit guten Augen kann man diesen landwirtschaftlichen Pflichtdienst übrigens auf der Lithographie erkennen: ganz rechts, ein kleines Bild mit vergnügten Männern (!) auf dem Feld. Der Untertitel ist beim besten Willen hier nicht lesbar; es soll heißen “3stündige Arbeitszeit”.

Diese Idee eines landwirtschaftlichen Pflichtdienstes koppelt er an zu erwartende Effekte: Zum einen sei die Landbevölkerung gesünder und heiterer als die Stadtbevölkerung. Das ist eine ganz typische Sichtweise dieser Zeit, man findet das in vielen Texten zum Bevölkerungsproblem um 1900. Bilz führt auch die weitverbreitete Vorstellung aus, die Stadtbevölkerung könne sich nicht selbst reproduzieren, sei also ständig auf den Zuzug vom Lande angewiesen (S. 98). Die neue Hinwendung zur Landwirtschaft würde also sicherlich positive biologische Auswirkungen auf die Bevölkerung als Ganze haben.
Zum anderen aber geht Bilz auch davon aus, dass die öffentliche Wertschätzung, die mit dieser Reform einhergehe, eine Image-Kur für die landwirtschaftlichen Berufe sein werde: Die Landwirtschaft werde sich früher oder später vor Bewerbern nicht mehr retten können, und wenn jeder junge Mensch (gemeint: Mann) bereits in jungen Jahren in der Landwirtschaft tätig gewesen sei, dann sei das Arbeiten selbst überhaupt kein Problem: „Unendlich einfacher, ja spielend leicht gestaltet sich dieser ländliche Beruf, wenn die Menschen in der Jugend ihm zugewiesen werden.“ (99) Woher er diese naive Vorstellung von landwirtschaftlicher Arbeit hat, wüsste ich gerne – vor allem, da er selbst in einem landwirtschaftlichen Betrieb (wenn auch einer Gärtnerei) aufgewachsen ist.

Jenseits dieser interessanten Verquickung unterschiedlichster Vorstellungen vom landwirtschaftlichen Arbeiten (absolut einfache Tätigkeit, erhoffte höhere Wertschätzung, biopolitische Effekte) finde ich aber auch spannend, wie sich Bilz konkret (oder: annähernd konkret) die betriebliche Seite der Landwirtschaft vorstellt. Er ist nämlich keineswegs ein Befürworter von einfacher Handarbeit, kleinbäuerlicher Arbeitsweise usw.
Bilz war Anhänger der Bodenbesitzreform und forderte die Verstaatlichung allen Besitzes. Der landwirtschaftliche Boden sollte in seiner Vorstellung von den Gemeinden bewirtschaftet werden. Das sollte nicht nur gemeinschaftlicher und grundsätzlich antikapitalistisch sein, sondern auch dazu dienen, die Landwirtschaft insgesamt effizienter zu gestalten.

„Auch wird man größere Parzellen schaffen, überflüssige Wege, Raine, Hügel und Hecken urbar oder doch nützlicher machen; einmal, um mehr ertragsfähiges Land zu gewinnen, und dann auch, um landwirtschaftliche Maschinen besser anwenden zu können […]. Ferner könnte man auch viele Löcher und Gräben ausfüllen, viele Wege, Flüsse und Bäche gerade legen, schlechte Bodenarten durch Zutat von gutem Boden ergiebiger gestalten usw.“ (S. 83)

Möglichst große Parzellen, rationell-wissenschaftliche Anbaumethoden (138f.) und vor allem der Einsatz von großen Maschinen und effizienten Transporttechnologien schwebte Bilz vor, um die gesamte Menschheit gesund ernähren zu können. Das, was wir heute als Bioland- oder Demeterbetriebe mit lebensreformerischer Tradition kennen, sieht anders aus, oder?

Bilz, Friedrich Eduard: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000. Neue Weltanschauung. Jedermann wird ein glückliches und sorgenfreies Dasein gesichert, Leipzig o. J. [1904].
Kerbs, Diethart: Die Welt im Jahre 2000. Der Prophet von Oberlößnitz und die Gesellschafts-Utopien der Lebensreform, in: Buchholz, Kai u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 61-66.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/86

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Wie global ist eigentlich global? Oder: Weltbeziehungen, Region, Peripherie

 

Ich betreibe ja Mikrogeschichte. Vergleichend, immerhin (darüber gibt’s demnächst auch mal was). Aber der Fokus liegt auf sehr kleinen Räumen/sozialen Gruppen, eben auf ländlichen Gemeinden, Dörfern. In meinem Fall: so um 1000 Einwohner. Das ist möglicherweise unmodisch. Denn besonders attraktiv wirken ja die großen Ansätze, am besten direkt Globalgeschichte. Das verkauft sich gut, hat was Exotisches und muss sich garantiert nicht fragen lassen, „wie repräsentativ“ das Ganze denn nun sei.

Nun kann man allerdings fragen, wie weit eigentlich die Ansätze von Globalgeschichte und Mikrogeschichte auseinanderliegen – im Zweifel sehr weit. Aber muss das so sein? Nicht erst seit meiner Rezension zum Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2012: Im Kleinen das Große suchen (erscheint hoffentlich bald in der ZfG) denke ich über das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichte nach. Und da ich das ja nicht komplett alleine machen muss, es ganz im Gegenteil viele andere Menschen gibt, die sich auch so ihre Gedanken dazu machen, werde ich in den nächsten Wochen immer wieder Texte diskutieren, die sich dieses Problems annehmen.

Den Auftakt mache ich heute mit einem aktuellen Aufsatz von Johannes Paulmann, erschienen in der letzten HZ und direkt von mir markiert als „muss ich lesen“ (passiert inzwischen häufiger – wer hat sich verändert, die HZ oder ich?).

Worum geht’s? Paulmann versucht, Ansätze der Regionalgeschichte aufzubrechen und in globale Kontexte zu stellen. Er diskutiert unterschiedliche methodische Ansätze und Diskussionen, vor allem solche, die den Konstruktionscharakter von Regionen herausstellen. Statt also von einem gegebenen Territorium auszugehen, wie es die Landesgeschichte lange gemacht hat, soll der Blick darauf gelenkt werden, wie die verschiedensten Akteure an der Konstruktion und Veränderung von Regionen (Regionsvorstellungen und –bezügen) beteiligt sind.

Bei diesem konstruktivistischen Charakter bleibt er aber nicht stehen, sondern betont abseits der Stabilisierung von Regionen deren Verflechtungen und Grenzüberschreitungen. Er greift das Konzept von Translokalität auf und erweitert es zu einem Werkzeug für die Regionalgeschichte: „Transregionalität“ greift also den grenzüberschreitenden Charakter globaler Bezüge auf, ohne die „Region“ als Ausgangspunkt der Interaktion vorauszusetzen. Region entsteht vielmehr auch in dieser Grenzüberschreitung globaler Art.

Dieses Konzept von Transregionalität erprobt Paulmann nun am Beispiel des Südwestens Deutschlands, also letztlich des heutigen Baden-Württembergs bis ins 19. Jahrhundert zurückprojiziert. Anhand von „Welt-Läufern“ (Reisenden und (Re-)Migrierenden) und Institutionen der globalen Wissenserzeugung und Zirkulation (von Völkerkundemuseen bis hin zu alternativen Informationszentren zur „Dritten Welt“) untersucht er, welche Vorstellungen von Region sich in solchen (hierarchischen!) Beziehungen zur „Welt“ niederschlugen und verfestigten, aber auch aufgebrochen wurden.

Über den Aufsatz kann man insgesamt sicher viel diskutieren – etwa, inwieweit gerade der „Südwesten“ ein geeigneter Untersuchungsraum ist, da die Schwierigkeit doch darin besteht, dass er kaum als „Geschichtsregion“ wahrgenommen wird, als Identitätsraum mit historischer Tiefenwirkung also. Oder warum die Weltbeziehungen in erster Linie solche in die südliche Hemisphäre sind, ob die „Welt“ nicht noch mehr ist.

Da aber Paulmann den Aufsatz vor allem als Forschungsaufriss nutzt, um zu zeigen, in welcher Form regionale Ansätze global eingebettet werden können, sind diese Fragen zwar natürlich wichtig, sollten aber nicht als Fundamentalkritik verstanden werden.

Im Gegenteil, ich glaube, dass diese Form der „Beziehungsforschung“ eine interessante Facette regionalhistorischen Arbeitens (und auch globalhistorischen Arbeitens) umreißt, die meiner Meinung nach noch zu wenig beachtet wird, nämlich die Verknüpfung von lokalen Praktiken und „Welt“. Oder, um mit Bruno Latour zu sprechen: „Auch ein großes Netz bleibt in allen Punkten lokal“ (Latour S. 155). Global ist eine Perspektive, keine Seins-Beschreibung. Bleibt man im Konkreten, sind globale Beziehungen lokale Vernetzungspraktiken.

Diese Perspektive ermöglicht es, sehr unterschiedliche Akteure in ihren Praktiken sichtbar zu machen – nicht nur „die“ Politik, „den“ Imperialismus oder „den“ Kapitalismus. Dabei bleibt es aber meiner Meinung nach eine wichtige Aufgabe, die Verkettung dieser Praktiken ebenso sichtbar zu machen – nicht nur einfach alles in einer Menge von Kleinstpraktiken aufzulösen, sondern die Netze dahinter zu rekonstruieren (Latour lässt grüßen), die Zusammenhänge und Machtgeflechte,

So interessant ich den Aufsatz finde, so bleiben trotzdem Fragen. Vielleicht ist das aber auch gerade ein Zeichen dafür, wie weiterführend ich die Idee der Weltbeziehungen finde, als Art und Weise, Fragen zu stellen.

Das ist erstens das Problem der Konstituierung von Regionen. Im Aufsatz von Paulmann geht mir das manchmal zu schnell, die Institutionen und Personen werden in einem Raum situiert, als Beispiel für Weltbeziehungen des Südwestens. Nicht in allen Fällen ist nachweisbar, wie sie an der Regionsbildung selbst teilhaben (etwa: beim Freiburger Informationsdienst Dritte Welt). Wie kann man diese Region wirklich in ihrem Konstruktionscharakter verdeutlichen, und wann ist eine Region etwas „relativ“ Verfestigtes?

Zweitens, davon ausgehend: Warum handelt es sich, so Paulmann, um Transregionalität und nicht um Translokalität? In vielen Fällen sind es sehr punktuelle Praktiken der Raumbeziehung, eine wichtige Rolle spielen konkrete Orte, etwa Stuttgart oder auch die Gemeinde Korntal. Kann man diese Punkte wirklich in einer Fläche aufheben? Wenn ja, wie?

Und schließlich ist die Region hier sehr stark von Punkten, im Zweifel sogar von Zentren her gedacht, noch dazu (häufig, bei den Weltläufern nicht immer) von sozialen Eliten. Das liegt natürlich auf der Hand, weil die Städte und die bürgerlichen Akteure wichtige Ausgangspunkte der offensiven Herstellung von Weltbeziehungen waren. Was aber machen wir eigentlich mit den Orten jenseits der (regionalen) Zentren? Gibt es dort Weltbeziehungen? Rechnen wir einfach die Weltbeziehungen der Städte auf die Regionen hoch? Oder müssen wir von einer punktuellen Globalität des 19. und 20. Jahrhunderts ausgehen, aus denen beispielsweise ländliche Gesellschaften ausgeklammert waren?

Die Perspektive für mich ist natürlich: Welche Formen von Weltbeziehungen bildeten eigentlich ländliche Akteure aus? Welche „Welt“ meinten sie, und wie veränderte sich das? Und: Wie kann ich diese Weltbeziehungen jenseits eigener Migration oder dominanter Institutionen wie Völkerkundemuseen sichtbar machen? Oder muss ich dann bereits die Segel streichen und sagen: Provinz blieb Provinz und der eigene Kirchturm das Zentrum der eng begrenzten dörflichen Welt?

Ich glaube ja, dass die Vernetzung und die Herstellung von Weltbeziehungen analysierbar ist. Die Frage ist nur: Was war die Welt? Möglicherweise endete sie in München. Oder in Rom. Oder in St. Louis (dazu auch bald mehr). Auszuschließen ist das nicht. Ich werde berichten.

Paulmann, Johannes: Regionen und Welten. Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 660-699.

Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Franfurt/Main 2008 [frz. Original 1991].

 

 

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/79

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