Wanderstudent – studentisches Filmprojekt auf Spuren des vorchristlichen Norwegens

Heute soll hier auf ein studentisches Projekt ganz besonderer Art aufmerksam gemacht werden. Unter der Überschrift Wanderstudent hat sich eine Gruppe junger Skandinavistik-Studierender aus Berlin gefunden, um der Frage nachzugehen, welche Spuren der vorchristlichen, “heidnischen” Zeit heute noch in Norwegen zu finden sind. Die Studierenden haben sich das Thema eigenständig gesucht und ein privates Tutorium aufgezogen, um sich den Stoff zu erarbeiten. Seit Mitte Juli sind sie nun in Norwegen unterwegs und wandern den alten Pilgerweg nach Nidaros (heute: Trondheim), um ihrem faszinierenden Thema auf eigenen Füßen nachzuspüren.  Einen Eindruck von der Idee hinter dem Projekt liefert der selbstproduzierte Imagefilm (etwas lang für einen Trailer vielleicht, aber schön gemacht!) auf dem YouTube-Kanal des Vorhabens:

Es geht neben der wissenschaftlichen Thematik bei dem Filmprojekt auch um die Selbsterfahrung, und ich muss zugeben, über diesen Aspekt bin ich mindestens genauso gespannt wie über den rein inhaltlichen. Nach einem Jahr Vorbereitung und intensiven Wandertraining in den letzten Monaten ist die Truppe jetzt irgendwo in der norwegischen Natur und haben auf dem Projektblog bisher auch einen Zwischenstandsbericht hinterlassen. Häufigere Statusmeldungen gibt es auf der projekteigenen Facebook-Präsenz. Dank der großzügigen Hilfe durch den Computer- und Medienservice der Humboldt-Universität ist die Truppe mit guten Kameras ausgestattet und wird auch in der Postproduktionsphase die Schnittplätze und weiteres Gerät nutzen können. Die verschiedenen Dozenten unseres Instituts stehen den Studierenden mit Rat und Tat zur Seite und es gibt jede Menge logistischer Unterstützung.

Ich finde, sich seit dem 2. Semester im B.A.-Studium einem solch ambitionierten und komplexen Gebiet zu widmen und dann auch noch das Wagnis einzugehen, ohne viel vorherige Erfahrung einen Dokumentarfilm über diese Forschungsreise zu drehen, nötigt einem Respekt ab! Wer das auch findet und den ein oder anderen Euro übrig hat, kann das Projekt auf einer eigenen Crowdfunding-Seite finanziell unterstützen. Ich bin schon mal gespannt auf die Erlebnisse der Gruppe und wie der Film am Ende sein wird! Als einer der Mentoren der Gruppe werde ich auch hier gelegentlich über Fortschritte dieses Projekts berichten.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1668

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NordicHistoryBlog ist “Blog des Jahres” auf de.hypotheses.org – Anlass für ein Zwischenfazit

 

Bei der Abstimmung über die Top-Five-Blogs zum 1. Geburtstag von de.hypotheses.org ist NordicHistoryBlog auf Platz 1 gelandet! Ehrlich gesagt sind wir alle etwas baff und zugleich sehr erfreut, dass es für uns – wenn auch nur ganz knapp, das muss man sagen – zum ersten Platz auf dem Treppchen gereicht hat (bei den Zahlen hatte jede Stimme großes Gewicht!). Das überraschende Ergebnis haben wir erstmal etwas sacken lassen und nun nehme ich als derjenige, der den Blog angestoßen hat und redaktionell leitet, dieses Ereignis zum Anlass, um mal ein Zwischenfazit zu ziehen (ein wenig auch nach dem Vorbild von Netz & Werk).

Der Blog begann Ende 2011 als Ergebnis einer Weiterbildung in Sachen Web 2.0 in Lehre und Forschung, eigentlich als Spielwiese und Experiment, und als Einzelprojekt meinerseits. Drei Punkte standen am Anfang meiner Überlegungen:

  1. Es gibt wenige Seiten im World Wide Web, auf denen man sich über das eher kleine Fachgebiet der nordeuropäischen Geschichte in deutscher Sprache und in seriöser Form informieren kann.
  2. Die Studierenden wissen oftmals nicht, wo sie geeignete Rechercheeinstiege und -ressourcen im Internet finden. Ein Anliegen war es daher, Online-Ressourcen zu dem Fachgebiet vorzustellen.
  3. Geschichte und Internet, dabei dachte ich nicht nur daran, althergebrachte historische Inhalte ins Netz zu bringen, sondern auch ein Augenmerk darauf zu legen, wie wir im Internet mit Geschichte umgehen. Dadurch hat sich für mich nach und nach im Laufe des Schreibens über entsprechende Phänomene ein neues Forschungsfeld eröffnet.nohoblold
    Danke, Wayback Machine!

Ich wusste nicht, wie lange ich den Blog betreiben würde, ob ich genügend Ideen bekommen würde, ob sich das Ganze eigentlich lohnt. Es gab eine Phase, in der ich bereits daran dachte, das Ganze einzustellen. Letztlich ist es mit dem März 2012 bisher aber nur bei einem beitragslosen Monat geblieben. In diesem Monat wurde de.hypotheses.org eröffnet, und  bei mir setzte das Nachdenken ein. Der Schritt, von einem einfach bei wordpress.com gehosteten Blog zur Plattform hypotheses zu wechseln, brauchte dann noch einige Zeit des Reifens, aber zum Ende Mai 2012 war er dann vollzogen. Der Umstand, dass ich das Archiv der bis dahin erschienenen Beiträge mit umziehen konnte, war dabei ein entscheidender Aspekt. Ein zweiter wichtiger Punkt schien mir die bessere Sichtbarkeit zu sein. Das mit dem umstrittenen Gedächtnis ein weiterer Blog mit Nordeuropabezug bereits auf de.hypotheses vorhanden war, bestärkte mich weiter (Grüße an Robert Zimmermann an dieser Stelle! Er hat mich seinen Hinweisen mit zu dem Umzug gebracht.).

Mit dem Umzug begann dann der Umbau zu einem Gruppenblog, eine Entscheidung, die ebenfalls im Vorfeld des Umzugs gereift war. Hauptanliegen war und ist es dabei, durch die Form des Gruppenblogs nicht nur einen kontinuierlicheren Veröffentlichungstakt, sondern auch eine größere inhaltliche Bandbreite zu erreichen. Dieser Umbau ist keinesfalls abgeschlossen, die Gruppe wächst weiter, momentan sogar sehr stark. Ich muss gestehen, das Einwerben neuer Redakteurinnen und Redakteure ist keine einfache Sache und zu einem Gutteil Überzeugungsarbeit. Unser Milieu ist verhältnismäßig klein, das wissenschaftliche Bloggen ist auch unter Vertretern der jüngeren Forschergenerationen nicht selbstverständlich. Da ist es aufgrund der Fachtraditionen und des akademischen Habitus wichtiger (und das ist auch verständlich), erstmal ein paar Aufsätze zu publizieren, möglichst natürlich in den renommierten Fachzeitschriften. Soziales und akademisches Kapital mithilfe eines Wissenschaftsblogs aufzubauen, ist in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften nur zu einem geringen Grade etabliert, es herrscht, so erlebe ich es zumindest, nach wie vor flächendeckende Skepsis.

Viele Kolleginnen und Kollegen, die ich gewinnen möchte, sind bereits mit einer großen Menge an Aufgaben belastet (die in Zeiten stagnierender Personalentwicklung an den Hochschulen nur noch größer wird) und scheuen daher oft, weitere Schreibaufgaben zu übernehmen. Aber es kommen nach und nach weitere Autorinnen und Autoren dazu, die verschiedene Aspekte abdecken werden. Die Hoffnung ist es, somit der Fachcommunity (in einem breiten Sinne, für mich gehören auch Studierende dazu) einen Ort im Internet zu geben, wo sie sich über neue Entwicklungen im Bereich der nordeuropäischen Geschichte, insbesondere was Ressourcen im WWW betrifft, informieren können. Und damit meine ich nicht nur die wenigen, die ohnehin wissenschaftlich zu der Region arbeiten, sondern gerade im Sinne der Vermittlungsaufgabe, der wir uns hier widmen, und die ich andernorts bereits umrissen habe.

Uns allen ist bewusst, dass die Region Nordeuropa in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und generell in der Öffentlichkeit nicht unbedingt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Das wissenschaftliche Bloggen über unser – kurioserweise ja eigentlich ziemlich weit gespanntes – Arbeitsgebiet ist für uns ein wichtiges neues Medium geworden, um unsere Beschäftigung mit nordeuropäischer Geschichte einem neuen und hoffentlich auch breiteren Publikum zu vermitteln. Zugleich ist es so, dass sich historische Sachverhalte durch exemplarische Untersuchungen an konkreten Gegenständen besser illustrieren lassen, für uns ist es nun mal die Region Nordeuropa und Ostseeraum als Arbeitsgegenstand. Wir hoffen aber, es wird deutlich, dass diese Region auf vielen Bereichen der Geschichte durchaus lohnenswerte Untersuchungsobjekte liefert. Der Fokus liegt in der Geschichtsschreibung häufig auf den großen Nationen, was seine Berechtigung hat. Die heutigen Kleinstaaten in Nordeuropa haben aber mannigfaltige Beziehungen zu den Großmächten und nicht zuletzt zum deutschsprachigen Raum unterhalten (und tun dies heute noch), die einer näheren Betrachtung wert sind. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema “Geschichte im Internet”, das auf unserem Blog eine nicht unerhebliche Rolle spielt, liefern die neuen Technologien aufgeschlossenen nordischen Länder ebenfalls gute Beispiele, von denen man sich vielleicht auch einiges abgucken könnte. Zudem hoffen wir, einen der deutschsprachigen Nordeuropaforschung von jeher selbstverständlichen Blick auf die Region als Ganzes und auf komparative Ansätze in die derzeit im Trend liegende Diskussion über “transnationale Geschichte” hineingeben zu können. Transnational zu arbeiten – das ist bei einer so relativ kleinen, aber in weiten Teilen viele Gemeinsamkeiten aufweisenden Region, gegeben.

Eine Sache, über die ich immer wieder nachgedacht hatte, ist der Name, auch dieser ein Produkt aus der Spielwiesen- / Experimentierphase. Warum eigentlich ein englischer Name für einen Blog, der primär auf Deutsch erscheint (wobei wir auch Englisch als Arbeitssprache zulassen)? Letztlich hat er sich als griffiger Name erwiesen, der in kürzester Form den Gegenstand und die Veröffentlichungsform zusammenfasst. Ich kann hier nochmals auf einen der Einstiegsbeiträge zurückverweisen, da ich mich mit der Frage, was man in Deutschland denkt, wenn man den Begriff “Nordisch” hört oder liest, häufiger auseinandersetzen musste. Allerdings werden wir uns bemühen, in Zukunft auch den Ostseeraum, gerade auch dessen östlichen Teil, stärker in den Blick zu nehmen. Mit dem mittlerweile auf 12 Personen angewachsenen und immer internationaler werdenden Team von Redakteurinnen und Redakteuren wollen wir auch Fragen der Informations- und Literaturrecherche verstärkt aufgreifen, bisher weniger stark vertretene Epochen wie Mittelalter und Frühe Neuzeit etwas stärken sowie methodische Aspekte stärker berücksichtigen.

Auf Anregung des Beitrags auf Netz & Werk habe ich mir auch mal die Zahlen angesehen. Die Autorenvorstellungen rausgerechnet, sind vom Online-Gang auf hypotheses (31.5.12) bis heute, diesen Beitrag eingerechnet, 39 Beiträge erschienen, wovon man sieben Vorstellungen neuer Autorinnen und Autoren abziehen kann, dann kommt man immer noch auf 32. Vom 31.5.12 bis zum 14.3.13 haben 7900 unterschiedliche Besuchern bei 26433Besuchen 106492 Seiten aufgerufen. Mich beschäftigt und beeindruckt vor allem die Zahl der unterschiedlichen Besucher, die wohl weit über dem liegen dürfte, was man bei gedruckten Publikationen erwarten könnte.

Vielen Dank an alle, die unseren Blog verfolgen und die bei der Abstimmung ihre Stimme für NordicHistoryBlog abgegeben haben! Der erste Platz ist für uns Ansporn und Ermutigung, weiterzumachen – bleiben Sie uns treu!

 

 

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1476

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Digitalisierungsstrategien für das kulturelle Erbe in Norwegen | Teil 1: “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden” – Grundsätzliches

Digitalisierung hier, Digitalisierung dort – allerorten hört und liest man von den vielfältigen Bestrebungen, historische Literatur, Quellen, Dokumente aller Art, aber auch dreidimensionale Artefakte durch verschiedenste digitale Prozesse zu bewahren und zugänglich zu machen. Scannen, Fotografieren, virtuell Rekonstruieren, Transkribieren/-literieren, Parsen, etc. etc. – man überblickt gar nicht mal alle Methoden, welche die Digital Humanities bereit halten und die fortlaufend weiter und neu entwickelt werden. Das ist die eine Seite – doch wie sieht es hinter den Kulissen aus, wo diese Vorhaben geplant und verhandelt werden? Wie funktioniert eigentlich das Agenda-Setting für die Digitalisierung des kulturellen Erbes? In einer kleinen Artikel-Serie soll dieser Frage am Beispiel Norwegens nachgegangen werden. Nach diesem grundsätzlichen Einleitungsteil sollen in weiteren Teilen des Artikels die Überlegungen, Prioritätensetzungen und Vorgangsweisen der zentralen Akteure/Institutionen aufgegriffen werden.

Warum eigentlich Norwegen als Untersuchungsobjekt – abgesehen davon, dass dieser Blog sich der Beschäftigung mit der Region Nordeuropa verschrieben hat? Norwegen eignet sich auch im Allgemeinen gut zur Untersuchung von Digitalisierungsstrategien, was mit der Verwaltungsstruktur des Landes zusammenhängt. Die Verantwortung für kulturelle, bildungsbezogene und wissenschaftliche Belange liegt hier auf der nationalstaatlichen zentralen Ebene, so dass man rasch einen Überblick über die zentralen Akteure bekommt, die zudem mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet sind. Anders als beim kulturpolitischen Flickenteppich namens Deutschland handelt es sich auf diesem Feld in Norwegen (wie in allen nordischen Ländern) eher um wenige “big player”. Zudem wird gerade in Norwegen seit Jahren über eine stärkere öffentliche Teilhabe an kulturellen Inhalten und eine weitreichende Digitalisierung des “kulturellen Erbes” diskutiert und entsprechende Zielvorgaben werden verabschiedet. Ein weiterer Grund ist in dem über den kulturellen Bereich hinausgehenden Bestrebungen zur ‘Digitalisierung des öffentlichen Lebens’ zu sehen, so dass man die Frage danach stellen kann, ob man das Phänomen von der kulturpolitischen Seite her deuten sollte oder eher von der allgemeingesellschaftlichen und netzpolitischen Warte. Die Antwort liegt wohl wie so oft in der Mitte: Das Beispiel Norwegens zeigt, dass man beide Perspektiven zusammen denken sollte.


Verfassung für das Königreich Norwegen, 17.5.1814
erste Textseite, digitalisierte Version
Quelle: Archiv des norwegischen Parlaments

In Norwegen haben sich die zentralen Akteure in der Tat ehrgeizige Ziele für eine umfassende Digitalisierung des kulturellen Erbes gesetzt. Bis 2030 will die norwegische Nationalbibliothek sämtliche Publikationen, die bis dahin in Norwegen erschienen sind und die im Rahmen des Pflichtexemplarsrechts an sie gelangten, in digitaler Form vorlegen. Bis zum selben Jahr, so die Schätzungen, wird das norwegische Reichsarchiv 10 % seines Archivguts digitalisiert haben. Die Zahlen klingen schon mal beeindruckend, und die Planung dieser Vorhaben reicht bereits einige Jahre zurück. Bemerkenswert in netz- wie in kulturpolitischer Hinsicht ist die 2009 verabschiedete “nationale Strategie für die digitale Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes”. Hier wurde nach einer parlamentarischen Debatte eine landesweite einheitliche Vorgehensweise und anzustrebende Ziele vereinbart.

In diesem Dokument wird die Digitalisierung des kulturellen Erbes mit politischer Bedeutung aufgeladen, wodurch man diese zu legitimieren sucht. So wird auf den Begriff einer “digitalen Allmende” [digital allmenning] zurückgegriffen, der bereits in einer 2006 verabschiedeten Strategie für eine “Informationsgesellschaft für alle” (d.h. alle Norwegerinnen und Norweger, JHS) auftauchte. In diesem Dokument wird die für Norwegen und alle nordischen Länder spezifische Tradition des Jedermannsrechts beschworen, die man auf die digitale Welt übertragen hat. In der nationalen Digitalisierungsstrategie wird diese Vorstellung in dem Sinne weitergedacht, dass die Zugänglichkeit historischer Dokumente und Artefakte das grundsätzliche Versprechen auf politisch-gesellschaftliche Inklusion und Partizipation aller Mitbürger mit erfülle. Zudem wird die Digitalisierung kulturellen Erbes als Teil der Einlösung des “Kulturversprechens” [kulturløfte] der norwegischen Regierung gedeutet. Dieses Kulturversprechen wurde 2005 nach der Ablösung der bürgerlichen Regierung Bondevik von der neuen rot-grünen Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Jens Stoltenberg abgegeben. An zentraler Stelle steht die Zielvorgabe, bis 2014 die Ausgaben zur Förderung von Kunst und Kultur auf einen Anteil von einem Prozent am nationalen Budget zu steigern. Auch in diesem Zusammenhang beruft man sich bereits auf das Ideal der allgemeinen Zugänglichkeit und Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Ob also freier Eintritt in staatliche Museen oder das Anklicken der digitalisierten Quelle auf der Archiv-Homepage – im Grunde steckt dieselbe Idee dahinter. Diese Vorstellungen greifen zentrale Elemente der norwegischen politischen Kultur (die in vielen wesentlichen Belangen eine gemeinsame politische Kultur aller nordischen Länder ist) auf, die Norwegen und den Norden als (von jeher) demokratisch, rechtsstaatlich, pluralistisch und als nah am Menschen darstellen. Die Vorstellung von einer spezifisch ‘nordischen Demokratie’ wurde seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts nach und nach konstruiert und zu einem Grundpfeiler des politischen Selbstverständnisses und der engen Kooperation zwischen den nordischen Ländern. Moderne politische Errungenschaften wie Demokratie, Parlamentarisierung und allgemeines (auch: Frauen-!) Wahlrecht wurden zur Grundlage für (a)historische Rückprojektionen, wonach der Norden selbst in vordemokratischen Zeiten bereits zur starken politischen Partizipation der unteren Stände und einer vernunftgeleiteten Staatsführung tendiert habe. Die Digitalisierungsstrategien fügen sich in ihren grundsätzlichen Überlegungen sehr gut in ein bereits existierendes Selbstbild ein.

Die Bestrebungen auf dem kulturellen Sektor sind Teil einer weit darüber hinausreichenden Strategie: Seit einigen Jahren wird eine umfassende “digitale Agenda” verfolgt, die darauf abzielt, Norwegen zum weltweit führenden Land in Sachen eGovernance und Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen zu machen. Eine norwegische Zeitung titelte – wohl etwas weitgehend – “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden”. Diese im Frühjahr 2012 erstmals verkündete Strategie ist in Blogs und in der Presse begrüßt worden – es scheint keine größere Kritik an dem Vorhaben zu geben. Auch die Opposition steht hinter den Vorschlägen, einige Stimmen haben indes auf das Problem des Datenschutzes aufmerksam gemacht und in Frage gestellt, ob in Norwegen genügend kompetente Fachkräfte zur Umsetzung vorhanden seien. Die Digitalisierung wird unter den Oppositionsparteien als geeignetes Mittel angesehen, um die aufgeblähte öffentliche Verwaltung endlich zu verschlanken und die stetig wachsende Zahl sich selbst legitimierender interner Prozesse zu senken.

Jedenfalls ist die Digitalisierungsstrategie in Bezug auf das kulturelle Erbe einerseits Pilotprojekt, andererseits Teil einer allgemeinen landesweiten Entwicklung in Norwegen. Sie ist eine Facette der vielfältigen Bemühungen, Verwaltungsvorgänge und gesellschaftliche Teilhabe zu größeren Teilen über das Internet zu ermöglichen. Ein Blick auf die Besiedlungsstruktur des langgestreckten Landes macht die Sinnhaftigkeit solcher Vorhaben einsichtig. Hape Kerkelings berühmtes Diktum, Norwegen sei groß und unwahrscheinlich lang und weilig, ironisiert das Faktum, dass Norwegen sehr dünn besiedelt ist und die Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gebiete durch eine Unzahl von Fjorden und Bergzügen voneinander abgeschnitten sind. Nun spielen solche geographisch-topographischen Hindernisse im modernen Kommunikationszeitalter nicht mehr dieselbe Rolle wie früher, doch müssen auch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, um das Digitalisierungsprojekt erfolgreich zu realisieren. In Norwegen sind dabei mehrere Umstände gegeben: eine hohe Akzeptanz neuer Technologien, eine flächendeckende Internet-Anbindung und der vor Jahren bereits konsequent angegangene Ausbau von Breitband-Verbindungen. Digitalisierung, auch die des kulturellen Lebens, ist Teil des in den letzten Jahren zielstrebig aufgebauten norwegischen Selbstverständnisses als technologisch und netzpolitisch führende Nation.

Dieses Selbstbild versucht die norwegische Regierung derzeit durch entsprechende Vorgaben und politisches Agenda-Setting zu manifestieren. Darin dürfte auch der Versuch zu sehen sein, dem Land Zukunftsoptionen zu eröffnen, um die Abhängigkeit von den einträglichen, aber irgendwann versiegenden Erdölvorkommen zu mindern. Damit sollen Digitalisierung und Erdölförderung keineswegs volkswirtschaftlich gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr um die Implementierung technologisch basierter politischer und gesellschaftlicher Praktiken, die das Leben der Bürger vereinfachen sollen, die auf Dauer Kosten sparen sollen, und über die außerdem die Konstruktion eines neuen bzw. Erweiterung des bestehenden nationalen Images Norwegens betrieben wird. Norwegen, das demokratisch vorbildliche Musterland, in dem der Bürger alles über das Netz erledigen kann – sei es die Beantragung eines neuen Reisepasses oder die Erforschung von historischen Quellen. Norwegen ist offensichtlich auf bestem Wege, zu einem “D-Land” zu werden.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1169

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Digitalisierung als Schutz vor Archiv-Diebstählen? Erörterungen im Nachgang zum dänischen Aktenklau-Skandal

Kollege Zimmermann drüben auf dem Umstrittenen Gedächtnis hat kürzlich die im letzten Herbst aufgeflogene Diebstahlserie im dänischen Reichsarchiv pointiert zusammengefasst. Die Lektüre hat mich nochmal selbst zum Nachlesen und -denken gebracht und ich bin auf einige Aspekte gestoßen, die von dem konkreten Fall auf die größere Thematik “Digitalisierung von Archivmaterial” verweisen. Eine interessante Facette der in Dänemark geführten und durch den Archivklau ausgelösten Debatte verweist auf die Digitalisierung der Akten als einen möglichen Schutz vor solchen Diebstählen. Tatsächlich haben mehrere Politiker die Frage aufgeworfen, ob nicht eine weitgehende Digitalisierung der Bestände eine Lösung sein könnte. In die gleiche Richtung argumentiert ein dänischer IBM-Vertreter in einem YouTube-Video, der fordert, die “wichtigen Teile” des Archivs als Reaktion auf den Diebstahl zu digitalisieren (das Video ist nur für des Dänischen Kundige zu verstehen…):

Ausgehend von der Idee der Digitalisierung als Diebstahlschutz lässt sich der IT-Experte auch über die allgemein zu konstatierenden Vorteile der elektronischen Verfügbarkeit im Netz aus – die Argumente sind sattsam bekannt (Nutzung am heimischen Bildschirm durch den Otto-Normal-User, Aktivieren der Schwarmintelligenz mittel social tagging etc.). Allerdings scheint dem guten Mann nicht bewusst zu sein, dass die Digitalisierung der Bestände schon längst im Gang ist und seit gut 20 Jahren schon läuft. Nun gut – die Frage wäre aber auch, was denn “wichtige Teile” eines Archivs sein sollen. Selbstverständlich werden Prioritäten verschiedener Art festgelegt, wobei eine nicht zu unterschätzende materieller Art ist: Abnutzung durch Gebrauch und sonstiger Verschleiss sind Argumente, die neben inhaltliche treten. Generell lässt sich natürlich sagen: Was viel genutzt wird, ist am frühesten angegriffen, und sollte geschützt werden. Die Vorstellung, dass die Originale in Zukunft nie wieder oder nur in seltenen Ausnahmefällen die Magazine verlassen, ist indes abwegig.

Reichsarchivar Asbjørn Hellum hat die Forderungen nach einer Totaldigitalisierung als unrealisierbar zurückgewiesen, zumindest wenn es bei den bisherigen Mittelzuweisungen und Personalkapazitäten bliebe. Nachdem die von Robert Zimmermann bereits beschriebenen neuen Sicherheits- und Überwachungsregularien nicht auf Vorliebe stießen, kam dennoch die als naiv zu bezeichnende Idee, den Diebstahlschutz mithilfe des Dokumenten- und Buchscanners zu lösen, auf. Das Reichsarchiv sah hat nach dem Diebstahlskandal immer wieder die Frage “warum digitalisiert man nicht einfach die Sammlungen?” erhalten. Daher sah man sich zur Produktion eines kleinen Videos auf seinem YouTube-Kanal veranlasst, in dem man die Forderungen als Ausgangspunkt nahm, um die Digitalisierungsstrategien und -möglichkeiten des wichtigsten dänischen Archivs zu erläutern (leider wiederum nur auf Dänisch, aber es ist ganz hübsch anzusehen, wie der PR-Chef da durch das Magazin fährt!):

Der Chef für die Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit Jeppe Bjørn geht hier auf die seit 20 Jahren währenden Bemühungen zur Bewahrung der Archivbestände durch Digitalisierung ein und meint, in der besten aller Welten würde man den Inhalt aller Aktenkartons mit dem Scanner einlesen, doch bei einer Zahl von drei Millionen solcher Kartons (die ja zudem ständig weiterwächst) stellt sich die Frage nicht. Dennoch setzt man seit längerem darauf, die auf Dänisch als “e-arkivalier” bezeichneten Quellen dem Publikum im Netz leicht zugänglich zu machen. Es gibt eine eigene Seiten für das digitale Material, unter arkivalieronline.dk finden sich über 18,85 Millionen Einzelbilder von den verschiedensten Akten. Stolz wird auf der Nachrichtenseite des Archivs über die Fortschritte bei der Arbeit an dieser Online-Quellenpräsenz berichtet.

Indes kann man nicht übersehen, dass eine so einfach klingende Forderung wie “digitalisiert die Archive!” (wie oben im ersten YouTube-Video) nicht nur die inhaltlichen, materiellen und monetären Probleme gewärtigen muss. Bei aller Offenheit für Neuerungen sind Archivarinnen und Archivare durch die umfassenden Änderungen ihres Arbeitsumfeldes stark gefordert. Viele Fragen, die sich der forschenden Benutzerseite stellen, stellen sich ihnen aus anderer Perspektive. Das Anforderungsprofil an den Archivarberuf ändert sich rasant und bringt bei allen Chancen auch Unsicherheiten mit sich. Auf einem dänischen Archivar-Gruppenblog werden diese Fragen aufgegriffen und offen auf Fragezeichen, die in Zusammenhang mit der Digitalisierungsdebatte auftauchen, eingegangen.

So viele Möglichkeiten die neuen Technologien also bieten – sie arbeiten nicht von selbst und der Umgang mit ihnen erfordert einiges an Umdenken und an Planung. Bei der Setzung der Prioritäten folgt man sicherlich gewissen Prämissen (nicht immer ist klar, welchen), doch werden diese aus der Sicht  vieler unbefriedigend sein oder unpassend gewählt sein. Angesichts der Masse an Quellenmaterial und der Menge an Fragestellungen wird man, etwas binsenweise gesprochen, nie allen gerecht werden. Aber die Frage ist: Wer oder was gibt letztendlich den Ausschlag bei der Benennung solcher Prioritäten?

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1316

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Deutsch als Wissenschaftssprache in Nordeuropa

Wörterbuch Schwedisch-Deutsch / Deutsch-Schwedisch von Carl Auerbach Wikimedia Commons CC-BY-SA 3.0 LA2 Ich war Montag und Dienstag dieser Woche Referent auf einer Schulung der iDA, der Internationalen DAAD-Akademie. Dort wurden unter dem Titel “Regionalkompetenz: Skandinavien” VertreterInnen aus Auslandsämtern und WissenschaftlerInnen, die im Wissenschaftsaustausch mit Nordeuropa aktiv sind, über das Hochschulwesen, Trends in der Internationalisierung und die neuesten hochschulpolitischen Entwicklungen ins Bild gesetzt. Mir oblag die historische Einführung, einmal ein grober Überblick über die Geschichte Nordeuropas (in 45 Min!), und dann über die Geschichte der höheren Bildung. Ein Aspekt in beiden Vorträgen, der sich dann sehr stark in der Diskussion über die heutige Arbeit deutscher International Offices widerspiegelte, war die Rolle bzw. nicht mehr vorhandene Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache in Nordeuropa. Die Tradition der deutschen Sprache in Nordeuropa reicht weit zurück – im Prinzip bis ins Mittelalter. Durch die starke Präsenz der Hanse im Ostseeraum war Mittelniederdeutsch lingua francain dieser Region. Der Kontakt mit der deutsch(sprachig)en Kultur setzte sich durch Reformation, Aufklärung, Romantik weiter fort. Wichtige Impulse wurden oft über deutschsprachige Veröffentlichungen rezipiert, am dänischen Hof war Deutsch bis Ende des 18. Jahrhunderts eine Normalität. Im 19. Jahrhundert begannen die Landessprachen – und Deutsch – Latein als Wissenschaftssprache abzulösen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war es für viele Wissenschaftler ein “Muss”, Deutsch zu beherrschen und einen Aufenthalt oder eine Karrierephase in Deutschland verbracht zu haben. Das heute gängige Karrieremerkmal “btA” [been to America] war damals ein “iDg” [in Deutschland gewesen]. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Dissertationen in der nordeuropäischen Wissenschaftslandschaft auf Deutsch verfasst. Natürlich war die Orientierung auf Deutschland nicht die einzige, das wäre übertrieben. Sie war jedoch fächerübergreifend lange sehr wichtig. Mit dem Ersten Weltkrieg setzte dann eine Abwendung von Deutschland ein, die vor allem durch den Zweiten Weltkrieg nur noch verstärkt wurde. Kulturelle und wissenschaftliche Orientierungen änderten sich, der Blick Richtung anglo-amerikanischer Welt wurde immer stärker. Die popkulturelle und mediale Präsenz der englischsprachigen Länder in den nordeuropäischen Öffentlichkeiten ist sehr stark. Deutsch hat als Schulsprache enorm verloren. Mehr Jugendliche lernen jedoch Spanisch als Deutsch, für viele bleibt es aber ohnehin “nur” beim Englischen. Um den Bogen zum Anfang zurück zu schlagen: Fehlende Sprachkenntnisse sind ein Problem bei dem Unterfangen, in diesem Fall nordeuropäische Studierende nach Deutschland zu locken. Das betrifft andere Länder aber sicherlich genauso. In dem Zusammenhang könnte man ja auch nochmal die Frage aufgreifen, die Pascal Föhr hier auf hypotheses.org gestellt hat: Sollen wir jetzt alle lieber auf Englisch schreiben? Weitergeführt: Sollen wir jetzt lauter englischsprachige Studienprogramme aus dem Boden stampfen? Es können ja auch nicht alle, die Wissenschaftskontakte mit Nordeuropa wünschen, gleich noch mal Dänisch oder Finnisch lernen… Dem nicht nur in Nordeuropa zu verzeichnenden Niedergang des Deutschen hier mit national(istisch)en Tränen nachzuweinen, ist nicht mein Anliegen. Aber wie sollen wir uns zu diesem Phänomen  verhalten? Wie können wir im wissenschaftlichen Austausch pragmatisch, aber auch produktiv damit umgehen?    

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/326

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