Ausstellung: „Krieg und Propaganda 14/18“

„Es geht um alles“ – so lockt derzeit das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg neue Besuche in seine Hallen. Im Jubiläenjahr 2014 schließt sich auch das MKG dem Gedenken an den hundert Jahre zurückliegenden Beginn des Ersten Weltkriegs an. Seit dem 20. Juni 2014 ist dort die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ zu sehen. Mit über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eröffnet die Ausstellung Einblicke in eine damals neue mediale Manipulation der Massen. – Von Patricia Wiesemann

Die aufwendig gestaltete Ausstellung bietet ihren Besuchern eine reiche Vielfalt unterschiedlicher Propagandamittel. Neben Plakaten, Grafiken und Bildpostkarten sind auch ein breites Spektrum an Fotografien und Zeitungen sowie Alltagsgegenstände wie Kinderspielzeuge zu sehen. Auch historisches Filmmaterial, Tonaufnahmen und zeitgenössische Musik kann im ersten Stock des Museums begutachtet werden. Die über drei Jahre zusammengetragenen Exponate stammen aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, USA, Russland, Italien und Österreich-Ungarn.

Zu Beginn der Ausstellung wird der Besucher direkt in die Propagandaschlacht hineingezogen. Das im Eingang hängende Bild „Over the top“ des australischen Fotografen Frank Hurley zeigt ein Schlachtfeld zuzeiten des Ersten Weltkriegs. Flugzeuge am Himmel, von Explosionen aufgewirbelte Erdmassen, Soldaten in Schützengräben. Eine Momentaufnahme des Krieges. So scheint es – doch das Bild ist nicht echt, eine Fälschung. In Wahrheit handelt es sich um eine Komposition aus zwölf übereinander gelegten Negativen. Der Betrachter sieht sich einer konstruierten Realität gegenüber. Unbewusst wird er dadurch kurzzeitig Teil der manipulierten Masse im Sog der Propagandamaschinerie.

Den Gegner schlecht aussehen lassen

Der Besucher durchläuft zunächst einen Gang, in dem sich deutsche und britische Propaganda gegenüberstehen. Ihr Ziel: die Mobilisierung der Massen. „Helft uns siegen“, „It’s your duty!“ Krieg sei eine feine Sache. So die Botschaft, die im kollektiven Gedächtnis hängen bleiben sollte. Demonstrationen gegen den Krieg gab es offiziell nicht, dafür sorgte die Zensur. Einen positiv geführten Krieg vermarkten und den Gegner schlecht aussehen lassen, so die Vorstellung der Meinungsmacher im Deutschen Reichen, „Das ist der Weg zum Frieden – die Feinde wollen es so! Darum zeichne Kriegsanleihe!“ Dessen Gegner setzten derweil vor allem auf die Dämonisierung des barbarischen „Hunnen“ mit Pickelhaube: „Remember Belgium“, „Beat the Hun with Liberty Bonds“.

 Eine Auswahl von Exponaten aus dem Katalog der Ausstellung. (Für ein Großbildansicht bitte in die Bildmitte klicken)
 
  • Titelblatt der Leipziger „Illustrierten Zeitung“. Ausgabe von 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Titelseite der britischen Illustrierten „The illustrated London News“ Ausgabe vom 23. Januar 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Le plan d’Hindenburg", aus: La Baïonnette, Nr. 101, 7. Juni 1917, von Maurice Neumont / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Daddy, what did you do in the Great War?", Farblithographie von Savile Lumley / Druck: Johnson, Riddle & Co. Ltd., London Victoria and Albert Museum, London / © V & A Images, London
  • "Pour le suprême Effort. Emprunt National" Farblithographie von Marcel Falter 1918 / Druck: Chaix, Paris / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Wir spielen Weltkrieg. Ein zeitgemaßes Buch fur unsere Kleinen" von Ernst Kreutzer um 1915 / Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
  • "I Want You for U.S. Army" 1917 , Aufruf der USA zur Rekrutierung von Soldaten / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Kriegsspielzeug aus dem Jahre 1914. Ein uniformierte Puppe der Firma Steiff GmbH / Spielzeugmuseum Nürnberg / Foto: Christiane Richter
  • Geschicklichkeitsspiel „Die Böse 7“ um 1914 / Altonaer Museum, Hamburg © Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Murmelspiel „Trench Football“ eines unbekannten britischen Herstellers / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Selbstgebauter Holzpanzer aus Holz / Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Eine improvisierte Musikkapelle 1915 / Foto: Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
  • "Go! It`s your duty lad. Join to-day". Eine klare Aufforderung an die Männer in den USA von 1915. / Druck: David Allen & Sons Ltd., Harrow/Middlesex Library of Congress, Washington D.C. Courtesy of Library of Congress, Washington D.C.
  • Charlie Chaplin auf einer Kriegskundgebung in New York 1918 / Otto Bettmann Archive / FPF, Pennsylvania/ © Bettmann / Corbis
  • "Boys Come over here you`re wanted". Das englische Plakat aus London von 1915 buhlt um die Gunst junger Männer / Druck: David Allen & Sons, London / Foto: Maria Thrun
  • "The Hun - his Mark. Blot it Out with Liberty Bonds" fordert die Lithografie aus New York von 1917 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • O, bleibe mein!, - ein deutsche Bildpostkarte aus Berlin vom Juli 1917 / Verlag: Albert Fink, Berlin / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Die Ausstellung zeigt auch Fotografien, Zeitschriften und Bildpostkarten / Foto: Michaela Hille
  • Ausstellungsansicht: Über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt die Ausstellung / Foto: Michaela Hille

 

Diese Gräuelpropaganda, die auch die Versenkung des britischen Schiffes Lusitania und die Erschießung der britischen Krankenschwester Edith Cavell aufgreift, wurde vor allem durch den niederländischen Zeichner und Karikaturisten Louis Raemaekers stark beeinflusst. Dessen Kriegszeichnungen waren derweil so erfolgreich, dass sie während des Krieges in zahlreichen internationalen Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden – sehr zum Ärger der deutschen Reichsführung. Diese übte sich indes in Partizipation der Bevölkerung. Was heute wohl unter den neudeutschen Begriff „Crowdfunding“ fallen würde, fand damals in Massenveranstaltungen als sogenannte „Nagelungen“ von hölzernen Heldenfiguren statt.

Je nach finanziellen Möglichkeiten konnten Nägel unterschiedlichen Materials erworben und in die Holzfigur geschlagen werden. Auch diejenigen, die nicht mit der Waffe kämpften, konnten auf diese Weise etwas zum Krieg beizutragen. So entstand beispielsweise auch der „Isern Hinnerk“ aus Hannover. Darüber hinaus bediente sich die Kriegspropaganda schon im Alltag einfachster Methoden. Spielzeug und Geschichten wie „Max und Moritz – eine Soldatengeschichte“ verdeutlichen, dass der Werbefeldzug bereits im Kinderzimmer begann.

Atmosphärisch und grotesk

Die Ausstellung lässt den Besucher zunächst verschiedene Propagandastationen durchlaufen. Dabei folgt sie dem Narrativ der damaligen Zeit und stellt dadurch eine gewisse Distanz zwischen Objekt und Betrachter her. Sie transportiert allerdings auch eine emotional aufgeladene Atmosphäre, die der Besucher unweigerlich aufgreift. So sollte der Beginn der Ausstellung zu denken geben. Viele Ausstellungsstücke mögen heute grotesk und brachial erscheinen. Im zeitlichen Abstand wird Propaganda häufig mit ihrer für den „modernen“ Betrachter empfundenen Absurdität gleichgesetzt. Das Verbreiten weltanschaulicher Ideen zur Beeinflussung des allgemeinen Bewusstseins oder das Ausnutzen von Vertrauen und Anleiten einer nicht-hinterfragenden Öffentlichkeit erscheint befremdlich.

In hundert Jahren hat sich das Verhältnis zu Staat, Heimat und Vaterland wie auch das Verständnis von Menschlichkeit und Menschenwürde verändert. Mit dem Wandel in Denken und Moral geht auch ein technischer Fortschritt einher, der – oft wenig hinterfragt – unser mediales Zeitalter entscheidend prägt. Alles lässt sich heute minutiös medial-visuell in Form von Bildern begreiflich machen: royales Baby im Blazer, Wrackteile eines abgestürzten Flugzeugs, Kinder im Bombenschutt. Die Macht der Bilder leitet die Emotionen der Öffentlichkeit. Wie bei dem Bild im Eingang der Ausstellung stellt der Betrachter seine Echtheit kaum in Frage, bis er eines Besseren belehrt wird. Was wir sehen, ist real. Wie wirklich aber ist die abgebildete Realität, wie konstruiert ihr Rahmen und was sehen wir alles nicht? Ich denke, also bin ich. Ich seh’s, also stimmt’s?

 Informationen zur Ausstellung:

  • Die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ läuft noch bis zum 2. November im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Steintorplatz, direkt am Hauptbahnhof, Öffnungszeiten: Di-Do 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr).
  • Der Eintritt beträgt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro, donnerstags ab 17 Uhr erhalten alle Besucher ermäßigten Eintritt. Für bis unter 18-Jährige ist der Eintritt frei.
  • Der Katalog zur Ausstellung (224 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe, in deutscher Sprache) ist im Museum für den Kaufpreis von 25 Euro erhältlich.
  • Weitere Informationen zur Ausstellung gibte es auf der Hompage des MKG oder im Medien-Portal der Ausstellung und telefonisch unter 040 / 428 134 – 880.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1675

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Schlachtjubel am Tor zur Welt

Autoren: Falk Wackerow, Johannes Valentin Korff.

Eine Stille nach dem Sturm, denn nur sechs Wochen sollten es nicht werden. Eine Stille, erbracht vor gar hundert Jahren an der Marne. Doch bevor sich der Sturm, ein Gewitter des Jubels, in Hamburg legte, sollte der August des Jahres 1914 verstreichen. Zuvor, in den letzten Wochen des krisenreichen Juli besagten Jahres, während die Bedrohung eines modernen Massenkrieges zunehmend spürbar wurde, stellten Mittel- und Außenmächte, Staaten wie Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich auf der einen, Serbien und das Russländische Reich auf der anderen Seite, einander Ultimaten. Mobilmachungen wurden ausgerufen, worauf zum Trotz Gegenmobilmachungen folgten. Kriegserklärungen mündeten final in den bis dato größten Konflikt der Menschheitsgeschichte. Die Rede ist vom Ersten Weltkrieg.

In vielen Städten Europas wurde frenetisch gefeiert, bevor die Schlacht an der Marne am 12. September 1914 diese Euphorie beendete. Zumindest war es bis vor zwanzig Jahren so in den populärwissenschaftlichen und fachlichen Publikationen zu lesen. Mittlerweile hat sich die Sicht der Dinge deutlich geändert: anstelle des Bildes einer allumfassenden Kriegsbegeisterung, die sämtliche Bevölkerungsschichten in chauvinistische Verzückung und bisweilen Raserei versetzte, ist eine neue Betrachtungsweise getreten. Die jüngsten Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass dieser Kriegsjubel, das sogenannte „Augusterlebnis“, in der Tat nicht alle Schichten betraf, sondern, im Gegenteil, der Krieg sehr unterschiedliche Reaktionen im Gefolge hatte. Besonders die Arbeiterklasse in den großen Städten war anfänglich eher kritisch eingestellt.

Hier wird sich nicht damit beschäftigt, ob es ein Augusterlebnis in Hamburg gab, denn die Vielzahl unterschiedlicher Quellen bestätigt diese Annahme recht eindeutig. Vielmehr soll erläutert werden, wie diese Augusttage tatsächlich in den verschiedenen Hamburger Schichten wahrgenommen wurden, denn das Bild der jubelnden Mengen an sich, wie in der älteren Forschung angenommen, ist lückenhaft. Die größten Volksmassen versammelten sich stets, um an Informationen in Form von Extrablättern zu gelangen, nicht um zu protestieren oder chauvinistische Parolen von sich zu geben. Es gilt zwischen der traditionellen Forschung bis etwa Anfang der 1990er Jahre, welche die These einer allumfassenden Kriegsbegeisterung vertreten hat, und jüngeren Ergebnissen, die sehr stark nach Schichtzugehörigkeit differenzieren, zu unterscheiden. Doch sei gesagt: Die Stimmung in der Bevölkerung Ende Juli/Anfang August 1914 zu erfassen, ist angesichts der Komplexität menschlicher Regungen eine Sisyphosarbeit, weswegen es schwerfällt, den Begriff des Augusterlebnisses hinreichend aufzuklären.

Verteidiger von Krieg und Frieden

Am 3. August drang eine aufgebrachte Menge in den beliebten Alsterpavillon. Ursprünglich als ein Hort des Hurrapatriotismus, wurde er vollkommen verwüstet. Der Direktor des Pavillons musste fast mit dem Leben bezahlen. Hätte er nicht das erneute Verlesen eines schon bekannten Extrablattes unterbinden wollen, es wäre vielleicht nicht so gekommen. Dieser und andere Zwischenfälle verdeutlichen die aufgeheizte Atmosphäre, in der häufig ein falsches Wort genügte, um sich dem Schimpf und oft genug den Prügeln der Umstehenden auszusetzen. Auch wenn die Kriegsbegeisterung, ihre gewalttätigen Züge inklusive, längst nicht jeden erfasste, so liegen doch erstaunlich viele Zeugnisse vor, in denen die Verfasser eine allgemeine öffentlich gelebte Freude über den Kriegsausbruch konstatierten, obgleich sie die Lage offensichtlich selbst nüchterner betrachteten als die von ihnen beobachteten Massen. Immer wieder fielen in diesem Zusammenhang Sätze, wie „das Ende der Katharsis des Friedens“, welche scheinbar einigen nationalistischen Kreisen eine Qual war. Möglicherweise liegt dem Phänomen Kriegsbegeisterung also eine Art von Masseneuphorisierung zugrunde, von einer sich immer weiter aufschaukelnden chauvinistischen Stimmung, welche zumindest in den ersten Tagen überwog. Erst allmählich sollte diese Euphorie einer Ernüchterung weichen.

Auch die Medien trugen als Repräsentationsorgane der, vor allem, bürgerlichen Schichten großen Anteil an der aufgeheizten Atmosphäre. In der Woche des 25. Juli, dem Tag der partiellen Ablehnung des österreich-ungarischen Ultimatums durch die serbische Regierung, bis zum deutschen Kriegseintritt am 1. August kam es zu vielen gewaltsamen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen hurrapatriotischen und pazifistischen Gruppierungen. Tendenziell lassen sich deren Mitglieder nach ihrer Schichtzugehörigkeit klassifizieren. Studenten und ältere Höhergebildete aus dem bürgerlichen Milieu gehörten eher ersterer Gruppe an, während zu letzterer vor allem Arbeiter und Sozialdemokraten zu zählen sind. Besonders in den ersten Tagen fanden nationalistische Randalierer viel Zuspruch in der Presse, während Gegendemonstranten häufig als Vaterlandsverräter verunglimpft wurden. Es gab allerdings auch schon früh kritische Stimmen, beispielsweise vom Hamburger Echo. Wenig überraschend standen auch die sozialdemokratischen Blätter, allen voran der Vorwärts, aufseiten der Antikriegsdemonstranten. In einer Ausgabe wurden die Ausschreitungen auf die Trunkenheit und den jugendlichen Leichtsinn der Beteiligten zurückgeführt.Ein Ende der zusehends gewaltbereiten Demonstrationszüge gab es erst am 31. Juli, als die Polizei sämtliche öffentlichen Versammlungen untersagte. Zu diesem Zeitpunkt fanden solche allerdings ohnehin kaum noch statt, da an die Stelle des aufgeregten Hurrapatriotismus eine ernste, angespannte Stimmung getreten war, wie aus vielen Zeitungsberichten zu entnehmen ist. So hatten die Menschen eher mit Erregung auf die neusten Nachrichten gewartet, da der Krieg immer näher rückte.

Es lässt sich also sagen, dass keinesfalls nur hurrapatriotische Umzüge stattfanden. Ebenso marschierten Kriegsgegner durch die Straßen. Dabei ist die auf beiden Seiten zahlenmäßig nicht besonders starke Vertretung von Interesse. Die meisten Demonstrationen umfassten ein- bis zweitausend Teilnehmer, die größten einige zehntausend. Diese Zahlen sind weit entfernt von dem, was spätere Massendemonstrationen erreichen sollten und relativieren für sich allein stehend schon sämtliche Aussagen von umfassender Kriegsbegeisterung. Die meisten Hamburger blieben, schichtenübergreifend, während der Proteste zu Hause.

Dort standen die Sozialdemokraten

Anders als die liberalen und konservativen Kräfte des Reichstags wie der Hamburger Bürgerschaft, hatten die Sozialdemokraten seit ihren Gründungstagen immer ihren strikt pazifistischen Standpunkt bewahrt. Ambivalent ist jedoch das Verhalten vieler Sozialdemokraten und ihrer Sympathisanten in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1914. Auch an ihnen war die Radikalisierung eines deutschen Nationalstolzes – insbesondere nach der Reichsgründung 1871 – nicht spurlos vorübergegangen.

Die große Mehrheit führender SPD-Politiker, wie beispielsweise Karl Liebknecht und selbst vehemente Verfechter des Pazifismus, wie Rosa Luxemburg, sahen, wie auch konservative Kreise, in den militärischen Auseinandersetzungen einen Verteidigungskrieg der Mittelmächte und hielten daher zu ihrem Heimatland. Diese Perspektive liegt der kaiserlichen Propaganda zugrunde.

Dieser Umschwenk hin zur „patriotischen Vaterlandsverteidigung“, der sich in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit entspann, kann nur durch eine Mischung verschiedener Motivationen erklärt werden. Zum einen darf der Einfluss des Nationalismus nicht unterschätzt werden. Zum anderen sahen wohl viele Sozialdemokraten die Möglichkeit, sich in einem „gerechten Krieg“ endlich vom Makel des „Vaterlandsverrats“ reinzuwaschen und ihren Teil dazu beizutragen, die Heimat gegen ausländische Aggressoren zu verteidigen. Zudem hegten auch die Anhänger der Klassenkampftheorie Ressentiments gegen das zaristische Russland, welches den ersten Gegner des Deutschen Reiches darstellte. Überlegungen, das unterdrückerische Zarenregime durch den Krieg zu stürzen, mögen also auch eine Rolle gespielt haben.

Auszug in Uniform

Die Entwicklungen wurden in der Bevölkerung höchst unterschiedlich aufgenommen und die Meinungen der Bürger blieben keinesfalls über den gesamten Betrachtungszeitraum unverändert. Als am 31. Juli tatsächlich der Ernstfall eintrat und die Bevölkerung per kaiserlicher Proklamation vom Kriegszustand in Kenntnis gesetzt wurde, waren die Reaktionen noch einmal überschwänglich. Dieses Mal schlossen sich auch zunehmend Sozialdemokraten dem Jubel an, seit der Patriotismus offiziell in die Parteilinie aufgenommen worden war. Allerdings endete der Rauschzustand, mit welchem sich die Erleichterung, dass es nun endlich losging, Bahn brach, ebenso abrupt, wie er aufgetreten war. An seine Stelle trat eine sorgenvolle Anspannung. Solange der Krieg ein vages, entferntes Konstrukt gewesen war, das sehr wenige direkt betroffen hatte, war das Säbelrasseln von großen Teilen der Gesellschaft gefeiert worden. Mit der Gewissheit, dass nun aber jeder einzelne persönlich betroffen war und viele Männer womöglich nicht zurückkehren würden, wich in Hamburg die Freude einer eher bedrückten Stimmung. Besonders die englische Kriegserklärung am 3. August wirkte sich negativ auf den Gefühlszustand aus, da man sich nunmehr drei Großmächten, gegenüber sah. Trotz der weit verbreiteten Ansicht, der Krieg sei in sechs Wochen zu beenden, schlichen sich Zweifel ein. Hier unterschied sich Hamburg von vielen anderen Großstädten des Reiches, in denen die Proklamationen enthusiastisch gefeiert wurden. Die Hamburger blieben, wie es ihrem Stereotyp entsprach, erstaunlich ruhig. Ein Stimmungsbild der Situation wirkt seltsam schizophren, da gleichzeitig Ausrufe der Erleichterung und schweigende Ernsthaftigkeit festgestellt werden können. „Die meisten Menschen waren niedergeschlagen, als wenn sie am nächsten Tag geköpft werden sollten“, schrieb beispielsweise der Bürgerliche Wilhelm Heberlein in sein Tagebuch.

Bei der Mobilmachung und vor allem bei der Verabschiedung der Soldaten, beim Auszug in den Krieg, kam noch einmal Festtagsstimmung auf. Dass diese allerdings von einer anderen Qualität als in den Tage zuvor und mit Resignation gemischt war, dürfte wenig überraschen. Der Auszug der eigenen Ehemänner, Söhne, Verwandten und Bekannten geschah unter Tränen, Solidaritätsbekundungen und Glückwünschen der Zurückbleibenden. Die Furcht aber blieb.

Weitere Jubelstürme gab es unter dem Eindruck der ersten Siege in Flandern, an denen das Hamburger 76. Infanterieregiment beteiligt war, auch wenn diese nicht mehr mit den ersten gleichgesetzt werden können.

Die ersten Verlustlisten waren noch kurz, der Vormarsch verlief nach Plan, und so warteten die Hamburger hoffnungsvoll auf ein schnelles Ende des Krieges. Der siegreiche Ausgang der Schlacht von Tannenberg belebte die Hochstimmung erneut. Das definitive Ende aller Augusterlebnisse brachte die Schlacht an der Marne Anfang September. Mit dem Stillstand der Westfront wurde ersichtlich, dass der Schlieffenplan nicht aufging und der Krieg nicht in den angesetzten sechs Wochen zu gewinnen war. Es kam in Hamburg zu einer Stille nach dem Sturm.

Dies geschah also

Aufgrund der schier unendlichen Vielzahl an persönlichen Augusterlebnissen ist es schwierig, ein zutreffendes Gesamtbild wiederzugeben. Auffällig ist, dass die Jubelstürme immer mit bestimmten Ereignissen zusammenhingen und danach relativ schnell wieder abebbten. Ein einzelnes, kontinuierliches Augusterlebnis hat es nie gegeben. In Bezug auf die Schichtzugehörigkeit muss die Aussage der neueren Forschung dahingehend relativiert werden, dass die Zuordnung einer bestimmten Reaktion zu einer Schicht als zu pauschal abzulehnen ist. Vielmehr gab es auch unter Bürgerlichen kritische Stimmen, und die Arbeiterschaft, anfangs kritisch und pazifistisch, stellte sich schnell auf den neuen Kurs der SPD-Parteiführung um und nahm die Fahnen der Vaterlandsverteidigung auf.

Weiterführende Literatur

Bendikowski, Tillmann: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, München 2014.

Kruse, Wolfgang: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 73- 88.

Meinssen, Heiko: Zwischen Kriegsbegeisterung, Kriegsfurcht und Massenhysterie. Hamburg im Juli/August 1914, Hamburg 2005.

Molthagen, Dieter: Das Ende der Bürgerlichkeit. Bürgerfamilien aus Liverpool und Hamburg im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2004 (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 42).

Münch, Phillip: Bürger in Uniform. Kriegserfahrungen von Hamburger Turnern 1914 bis 1918, Freiburg 2009.

Rojahn, Jürgen: Arbeiterbewegung und Kriegsbegeisterung. Die deutsche Sozialdemokratie 1870 – 1914, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 57-72.

Ullrich, Volker: Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1982.

Ullrich, Volker: Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Beiträge zur Sozialgeschichte Hamburgs und Norddeutschlands im Ersten Weltkrieg, Bremen 1999.

Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1526

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