Zwischen Sammelband und Wikipedia? Die ‘Netzbiographie’ als innovatives Wissenschaftsformat

Reichsunmittelbarer Altgraf und Landesherr, sodann französischer Citoyen, Comte d’Empire Napoleons, Fürst von Preußens Gnaden, verhinderter Standesherr, Wissenschaftspionier, liberaler Regionalpolitiker, virtuoser Gesellschaftsnetzwerker, Freimaurer, Major der Landwehr, Gatte einer zelebrierten französischen Salonière und Schriftstellerin, Maire, passionierter Jäger, kunstsinniger Mäzen, Großgrundbesitzer, lokaler Patron, hochkommunikatives ‘Wunderkind’ und noch vieles mehr… . Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck entzieht sich ob des enormen Facettenreichtums seiner Person, der Vielzahl ganz unterschiedlicher Handlungsräume und Arenen, die er bespielte, letztlich jedem Versuch einer monographischen Biographie. Eine solche ist notgedrungen immer auch subjektive Interpretation und Wertung, retrospektive Schwerpunktsetzung, Ausfluss des ganz persönlichen ‘Sehepunkts’ des jeweiligen Biographen. Die klassischen historischen Biographien (man denke nur etwa an die große Bismarckbiographie Lothar Galls, Golo Manns Wallenstein, oder, oder, oder…), in all ihrer Würde, sie zeugen hiervon, ja ließen das Genre in der wissenschaftlichen Community zuletzt etwas ‘alt aussehen’.

Das ist nicht ganz unbedenklich. Denn Geschichtswissenschaft, und insbesondere die Adelsforschung, braucht den biographischen Zugriff durchaus, braucht Lebensbilder weitbekannter wie auch unscheinbarer historischer Persönlichkeiten als ‘Messlatten’, detaillierte Vergleichsfolien im breiteren sozialen Kontext, und sicher auch ein Stück weit als ‘Magnete’ der außeruniversitären Aufmerksamkeit. Angesichts eines immer breiter gestreuten Fachwissens, nicht nur zu solch schillernden, multiaktiven Figuren wie Salm-Dyck, sind heute allerdings neue, integrative und über den Rahmen der universitären Forschung hinausreichende Formate der Wissensakquise und -vermittlung vonnöten, um diesen Anspruch einlösen zu können. Es braucht mehr Interdisziplinarität und einen barrierefreien Zugang zu jenem nicht mehr wegzuleugnenden wisdom of the crowd. Korporativ verfasste, breit rezipierte und ‘lebendige’ Online-Enzyklopädien geben dabei die Richtung vor. Neben der genannten interdisziplinären Expertise bieten jene webbasierten Formate die große Chance zu einer multiplen Perspektive, zu mehr Ergebnisoffenheit, zu einem differenzierteren Blick – zum Beispiel auf adlige ‘Gewinner und Verlierer’ der Sattelzeit.

Eine Netz-Biographie (wobei das Wort ‘Netz’ hier gleich eine ganze Reihe von Implikationen aufweist) erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als mögliche Reaktion, denn vielmehr als vielleicht  wegweisende Innovation. Als dezidiert multiperspektivisch reüssiert dieses neuartige Format über vergleichsweise zahlreiche, thematisch stark konzentrierte, den einzelnen ‘Spezialgebieten’ im Wirken Salm-Dycks gewidmete, eng miteinander verlinkte Kurzbeiträge (small narrative units), erarbeitet von einem interdisziplinären Autorenkollektiv, das koordiniert von der Redaktion in stetem Kontakt zueinander steht und die Beiträge nicht ‘nebeneinander her’, sondern ‘aufeinander zu’ schreibt. Dies vermeidet nicht allein Redundanzen, sondern blendet verschiedene Forschungsansätze und Überlieferungsstränge (etwa private Adels- und Staatsarchive) fruchtbringend ineinander. Die Netzbiographie versteht sich ferner als modular, denn sie ermöglicht unterschiedlichste Zugriffe auf Beiträge, Verzeichnisse und ergänzende Materialien und visualisiert dieserart Synergien und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Handlungsräumen (vgl. Blogbeitrag vom 7.5.2013). Dass die Netzbiographie online publiziert wird, versteht sich dabei im Grunde von selbst. Ubiquitäre Sicht- und Verfügbarkeit, rasches Erscheinen und die Verpflichtung gegenüber dem Open-Access-Prinzip sind hierzu nur die wichtigsten Triebfedern. Die gewählte Online-Publikationsplattform (historicum.net – E-Studies) deutet dem Namen nach bereits ein weiteres Anliegen an – die Einbindung der präsentierten Forschungsergebnisse und Quellenmaterialien ins universitäre E-Learning.

Selbstredend verbleibt das Format – weniger trotz als gerade wegen seiner Platzierung im Web vollends wissenschaftlich. Hierfür garantieren die den Beiträgen immanenten Anmerkungsapparate, Zitierhinweise und Metadatenkerne, die Registrierung/Auffindbarkeit der Netzbiographie in den Web-OPACS der akademischen Bibliotheken, ihre Langzeitarchivierung. Dass Digitalisate und Transkriptionen zitierter Quellenstücke die Netzbiographie ergänzen, ist auch in diesem Zusammenhang als Demonstration der Stärken des Publikationsmediums Internet zu verstehen. Darüber hinaus ist auch dieses Feature Teil des integrativen Konzepts. Denn Adressaten der Netzbiographie sind nicht allein die Wissenschaftskreise. Ein bewusst dokumentarisch gehaltener Schreibstil, eine (verlinkte) Zeitleiste, ein Glossar zur kurzen Erläuterung speziellerer Phänomene und Institutionen sollen die volle Wertschöpfung aus der Publikation auch für historisch interessierte ‘Laien’, Studierende, Lehrer, Heimatforscher etc. ermöglichen. Schöpfen, anzapfen, aufgreifen und integrieren möchte die Netzbiographie ja gerade auch deren Fachwissen, Ideen und Anregungen. Sie ist dialogisch, gerade insofern, als sämtliche Beiträge von vornherein als aktualisierbar (Time Stamps) und kommentierbar (Front End) konzipiert sind – von universitär angebundenen wissenschaftlichen Redakteuren kontrolliert und koordiniert. Dies schließt das Einstellen komplett neuer Artikel zu weiteren Themenfeldern genauso mit ein wie die Diskussion der jeweiligen Ansätze und Befunde ‘en Blog’. Von der fortdauernden ‘Lebendigkeit’ der Online-Biographie kann also in gleich mehrfacher Hinsicht ausgegangen werden. ‘Ins Netz’ geht hier weit mehr als nur ein Fürst!

 Florian Schönfuß

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/155

Weiterlesen

Die Generalstaaten im Dreißigjährigen Krieg: eine vergessene Geschichte

Die Geschichtsschreibung ist an der Stelle sehr entschieden: Krieg führten der Kaiser und seine Verbündeten gegen die Pfälzer, Dänen, Schweden, Franzosen. Nur mit den Generalstaaten (in den Quellen meist „Staaten“ oder wie heut noch einfach und fälschlich „Holländer“ genannt) gab es so gut wie keine Berührungspunkte. So weit, so falsch. Denn es gibt immer wieder Hinweise darauf, daß niederländische Soldaten in großer Anzahl und keineswegs ‘zufällig’ im Reich agierten.

Gerade am Niederrhein gab es zahlreiche Basen für niederländische Einheiten, und diese Region war ohnehin der Bereich, in dem sich der Achtzigjährige und der Dreißigjährige Krieg überlappten. Die Operationen „staatischer“ Einheiten richteten sich aber nicht nur gegen spanische Stützpunkte, sondern griffen weit ins Reichsgebiet aus – ein Umstand, den die Forschung bislang vernachlässigt hat. Dabei ist durchaus bekannt, daß viele Reichsfürsten, zumal die katholischen, sich sehr davor scheuten, in das „niederländische Wesen“ verstrickt zu werden: Der Krieg im Reich sollte sich auf keinen Fall mit dem Kampf der Generalstaaten gegen die Spanier vermischen. Diese politische Doktrin ist in der Forschung weithin bekannt und mag ein wichtiger Grund dafür sein, daß dieses Thema bislang nicht in entsprechender Weise gewürdigt worden ist.

Ich selbst habe vor einigen Jahren dieses Thema von kurkölnischer Warte aus berührt (Der Krieg in der „Wetterecke der europäischen Politik“: Kurköln und die Kriegführung der Liga unter dem Feldherrn Tilly (1621-1630), in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 98 (1997/98), S. 29-66). Mittlerweile aber sehe ich die Dimension generalstaatischer Aktivitäten differenzierter und auch deutlich vielfältiger als zunächst angenommen. Nun strebe ich gar nicht an, die Generalstaaten gleichsam als offizielle Kriegspartei in diesen Konflikt einzuführen. Aber es gab deutliche Verstrickungen. Nur hat man deswegen kein großes Aufheben darum gemacht; gerade die betroffenen Landesobrigkeiten hielten es offenbar für nicht opportun, dieses Thema oben auf die Agenda zu setzen. Dasselbe gilt auch für die Generalstaaten selbst.

Und so wurde diese Problematik auch in der Aktenüberlieferung zwar nicht verschwiegen, doch deutlich zurückgedrängt. Nun ist es, wie ich finde, an der Zeit, diese vergessene Geschichte prononcierter, als bislang geschehen, zu bearbeiten. Im September findet in Bonn eine Tagung zum Thema „Krieg und Kriegserfahrung am Rhein. Der Westen des Reiches im langen 17. Jahrhundert (1568-1714)“ statt, auf der ich mich zum Thema Generalstaaten äußern werde. Erschöpft ist dieser Themenkomplex damit jedoch noch lange nicht. Weiteren Aspekten werde ich mich auch künftig verstärkt zuwenden.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/229

Weiterlesen

Ostdeutschland: Blockierter Umbruch? – Von Benjamin Köhler

Nach unseren ersten Beiträgen zu Kriminalität und Migration werde ich im Folgenden ein eher regionalsoziologisches Thema in den Vordergrund rücken, das sich mit den Umbrüchen in Ostdeutschland beschäftigt. Dazu möchte ich einführend auf die Filme Nicht mehr – noch nicht und … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5266

Weiterlesen

Der Augustiner-Chorherr Augustin Frick, Beichtvater in Inzigkofen, und die Passionspredigten über den geistlichen Lebkuchen

Werner Fechter hat in seinen beeindruckenden Studien zu den deutschen Handschriften aus dem Augustinerchorfrauenstift Inzigkofen als Nr. 46.47 die Handschrift der Erzabtei Beuron 8° MS 13 vorgestellt. [1]  Die nach dem 29. August 1512 niedergeschriebene Handschrift im Umfang von etwa 290 Blättern überliefert 42 Passionspredigten, den zweiten Teil eines 91 Nummern umfassenden Predigtwerks ‘Geistlicher Lebzelten’. Es sind “Predigten über Christi Leiden unter dem Bild eines in 89 Partikel  geteilten Lebkuchens” (Fechter S. 147). Die Predigten hielt der Indersdorfer Chorherr Augustin Frick, Beichtvater der Chorfrauen [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/5027

Weiterlesen

Archivale des Monats – Juli 2013

Stimmenmaterial zur Landemesse von Franz Xaver Gruber

Stimmenmaterial zur Landemesse von Franz Xaver Gruber

Franz Xaver Gruber (1787–1863), Deutsche Landmesse, C-Dur (GWV deest) Erste Singstimme und Orgel; AES, Provenienz: Wagrain, o. Sign.

Im Frühjahr 2012 konnte in einem Salzburger Antiquariat ein Stoß von Kirchenmusik aus der Pfarre Wagrain für das Archiv der Erzdiözese erworben werden. Bei näherer Durchsicht stellte sich heraus, dass sich in diesem Stoß neben zahlreichen Kirchenmusikalien aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts drei Autographen von Franz Xaver Gruber (1787–1863), die dem Vernehmen nach aus dem Besitz von Joseph Mohr stammen sollen, und weitere Abschriften seiner Werke befanden, und demnach höchst interessantes Notenmaterial erworben worden war. Während zwei der autograph überlieferten Werke im Gruber-Werkverzeichnis bereits nachgewiesen sind, stellt die vorliegende Deutsche Landmesse einen Neufund dar.

Bei den Autographen Franz Xaver Grubers handelt es sich durchwegs um Stimmen. Es findet sich das Deutsche Requiem in F-Dur „Um unsre Freunde weinen wir“ (GWV[1] 49) von dem 2 Singstimmen und Orgel erhalten sind, die Deutsche Vesper in D-Dur „Kommt, ihr Christen! Gott zu preisen” (GWV 80), bei der zwei Singstimmen, Orgel und erstes Horn  überliefert sind und eine Deutsche Landmesse in C-Dur “Vor deiner höchsten Majestät” für zwei Singstimmen, Orgel, von der sich eine Sopran- und die Orgelstimme erhalten haben und die im Werkverzeichnis bisher nicht verzeichnet ist. Alle diese Stimmen sind auf dem gleichen Papier geschrieben, was eine zeitlich nahe Entstehung wahrscheinlich macht.

Die Entstehungsdaten der Musikstücke sprechen nicht gegen die mündliche Überlieferung, Joseph Mohr sei der erste Besitzer dieser Abschriften Franz Xaver Grubers gewesen. Zumindest zwei der Stücke – das Deutsche Requiem ist vor 1835 entstanden, während das bisher bekannte Partiturautograph der  deutschen Vesper (GWV 80) mit Februar 1843 datiert ist – sind nachweislich noch in der Lebenszeit Joseph Mohrs (1792–1848) komponiert worden und zeugen so von der Freundschaft der beiden.

(Eva Neumayr, RISM Arbeitsgruppe Salzburg)

[1] Thomas Hochradner, Franz Xaver Gruber (1787–1863). Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke, Bad Reichenhall: Comes-Verlag, 1989. Alle Angaben beziehen sich auf dieses Verzeichnis, für das in der Folge das Kürzel „GWV“ verwendet wird.

Quelle: http://aes.hypotheses.org/204

Weiterlesen

Der Gelbe Fluss

Die Bedeutung des Huanghe 黃河 (i. e. Gelber Fluss) für Kultur und Geschichte Chinas ist offensichtlich. Mit dem niedrigen Wasserstand dieses und anderer Flüsse wurde in der Tradition auch das Schicksal von Dynastien verbunden: “Als der Yi und der Luo austrockneten, gingen die Xia unter, als der He [i.e. der Huanghe, siehe dazu auch unten] austrocknete, gingen die Shang unter.”[1]

Im Gegensatz dazu wurde es äußerst positiv bewertet, wenn der Gelbe Fluss klar wurde [2]. Dies war nach der traditionellen Auffassung jedoch nur einmal in tausend Jahren der Fall (Huanghe qiannian yi qing 黃河千年一清). Der Ausdruck “wenn der Gelbe Fluss klar ist” (he qing 河清) bezeichnet daher eine überaus seltene Gelegenheit und wird auch in der Bedeutung “für eine unbestimmt lange Zeit” verwendet.

Der Name des Flusses leitet sich von den großen Mengen an Schwemmpartikeln her, die der Fluss vor allem während des Sommerhochwassers aus dem Lößplateau mit sich führt. Ein geflügeltes Wort spielt auf die großen Mengen Schlamm an: “Wer einmal in den Gelben Fluss gefallen ist [...] wird nie wieder sauber.”[3]

Ursprünglich nur als “(der) Fluss” (he 河) bezeichnet, erhielt er zur Zeit des Ersten Kaisers (221-210 v. Chr.) den Namen Deshui 德水 (d. i. “Tugendstrom”). Seit der Han-Dynastie wird er als Gelber Fluss (Huang He 黃河), aber auch als Großer Fluss (Da He 大河) bezeichnet.

Die Angaben zur Länge des Gelben Flusses variieren in der Literatur beträchtlich – zwischen 4800 und 5464 Kilometern.[4]

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Fluss in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden seinen Lauf wiederholt großräumig verlagerte.[5], was ihm spätestens im 19. Jahrhundert die Bezeichnung als “Kummer Chinas” oder auch “Chinas Sorge” beschert hat.[6]

Von den vielen “natürlichen” Verlagerungen abgesehen, hatten zumindest zweimal – 1642 und 1938 – kriegerische Ereignisse wesentlich zur Verlagerung des Unterlaufs beigetragen. Vor allem die Region zwischen Kaifeng 開封 und Zhengzhou 鄭州 war häufig von riesigen Überschwemmungen betroffen. Allein durch die Überschwemmungen des Frühjahrs 1938 sollen 12 Millionen Menschen zu Tode gekommen sein.[7]

 

  1. Zitiert nach Kai Vogelsang: Geschichte Chinas (Stuttgart 2012) 239.
  2. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl. 1996) 90 (“Fluss”).
  3. Vogelsang: Geschichte Chinas, 239
  4. Zu ersterem Wert vgl. etwa Wolfgang Franke (Hg.) China-Handbuch (1974) Sp. 518 (“Huang Ho (Gelber Fluss)”, J. Küchler), zu letzterem Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte (Hg.) Das große China-Lexikon (2003), 240 f. (“Gelber Fluss”, Eduard B. Vermeer)
  5. Vgl. Iwo Amelung: Der Gelbe Fluß in Shandong, 6 (Karte und Tabelle zu den Verlagerungen des Unterlaufes) sowie Vogelsang: Geschichte Chinas, 240: “In den letzten 2000 Jahren ist der Huanghe rund 1600mal über die Ufer getreten, 26mal hat er seinen Kurs im Unterlauf gewechselt, wobei seine Mündung sich bisweilen um mehrere hundert Kilometer verlagerte.”
  6. Nach Herbert A. Giles: A Glossary of Reference on Subjects Connected with the Far East (Hongkong 1878) 24 (“China’s Sorrow”) hatte der Daoguang 道光-Kaiser (reg. 1821-1850) den Fluss so genannt.
  7. Die Zahl folgt Franke (Hg.) China-Handbuch, Sp. 499 (“Honan”, P. Trolliet).

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/594

Weiterlesen

Workshop: Orden in der Krise. Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne

Krisen haben Konjunktur. Die Einordnung unserer Gegenwart als Zeit der Krise(n) scheint allgegenwärtig. Auch die Geschichtswissenschaft wendet sich – vielfach anknüpfend an Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften – vermehrt der Krise zu. Krise ist als eine prä-katastrophale, höchst kontingente, existenziell bedrohliche Situation zu verstehen, die Akteuren zwar Handlungsoptionen offen lässt, zugleich jedoch so einschneidend wirkt, dass sie das Fortdauern von eingeübten Routinen und Praktiken in Frage stellt. Sie erzeugt Kommunikations-, Handlungs- und Entscheidungsdruck. Angesichts einer diagnostizierten Krise erscheint das „Nichts tun“ als undenkbar, als [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4948

Weiterlesen

Die Ausgrenzung Jugendlicher maghrebinischer Herkunft im urbanen Raum Frankreichs – Von Von Nadja Boufeljah

Die Entstehung sozialer Ungleichheit durch die Urbanisierung ist exemplarisch beobachtbar, wenn die Geographie und Sozialstruktur der Großstädte Frankreichs im 21. Jahrhundert betrachtet wird. Seit den Jugendrevolten in den Großstädten Frankreichs im November 2005 rückt deshalb auch die soziale Benachteiligung der … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5240

Weiterlesen

Denis Diderot, Wettbewerbe und Hirnforschung

Géricault-Pferderennen„Das Genie eines einzelnen bringt die Künste zum Aufblühen; der allgemeine Geschmack vervollkommnet die Künstler. Warum hatten die Alten so große Maler und so große Bildhauer? Weil damals Belohnung und Ehrungen die Talente weckten …Man sollte unter uns die gleichen Wettkämpfe veranstalten, sollte die Hoffnung auf die gleichen Ehrungen und Belohnungen erwecken: dann würden wir bald sehen, wie die schönen Künste schnell auf ihre Vollendung zustreben“, Denis Diderot, franz. Schriftsteller und Kunstkritiker, 1763 [1].

1748 wurde die Ecole royale des élèves protégés gegründet, auf der ausschließlich durch Wettbewerbe zugelassene Maler und Bildhauer ihre Ausbildung perfektionieren konnten. Die Académie de France in Rom (gegründet 1664) war ebenfalls ein Ort, an den nur Gewinner eines Wettbewerbs gelangen konnten. Je zwei Maler, Bildhauer und Architekten durften drei, später vier Jahre während eines Stipendiums in Rom verbringen. Was als Kunst gelten durfte war im Klassizismus festgelegt und folgte Regeln. Diese Regeln zu erlernen war das Ziel des künstlerischen Ausbildungsprogramms, das an Zeichenschulen und Akademien stattfand und zu dessen Teil auch Wettbewerbe gehörten.

Was ist dran, an der Forderung Diderots nach mehr Wettbewerben, um die Künste zu vervollkommnen? Fortschritt durch Wettbewerb. Ist das so? Wir glauben zumindest, dass es so ist. Glauben, dass der technologische Fortschritt nur möglich ist, indem wir Konkurrenzdruck erzeugen. Auf diese Weise wird ja bereits Darwin interpretiert. Die Sieger gewinnen und die Verlierer verlieren. Wir schaffen damit eine Zweiklassengesellschaft. Wer verliert, ist selbst schuld. Er hätte ja mehr lernen und sich mehr ins Zeug legen können.

Schauen wir mal in den Sport. Ein Marathonläufer wird eher keinen 100-Meter-Lauf gewinnen und umgekehrt. Ein Eisschnellläufer ist nur auf dem Eis richtig gut, aber nicht auf einem anderen Untergrund. Man kann feststellen, dass Wettbewerbe Spezialistentum fördern. „Wettbewerb erzeugt stromlinienförmige Angepasstheit, nicht aber Komplexität und Beziehungsfähigkeit. Auch nicht im Gehirn“, so Gerald Hüther [2]. Das, was es bereits gibt, erfährt durch Wettbewerb eine weitere Spezialisierung. Aber wodurch ist die eigentliche Anlage, die erst später spezialisiert wird, entstanden? Das ist doch eine Frage, die wichtig zu beantworten wäre, wie Hüther feststellt.

Wieviel Ressourcen und Potential verschleudern wir, indem wir Menschen zu Verlierern machen? Wir machen Sie dazu. Aber sind sie es wirklich? Was passiert mit dem nicht ausgeschöpften Potential? Der Energie und den Ideen eines zum Verlierer gestempelten? Und schließlich dem Potential, das jenseits einer Spezialisierung und der Befolgung von Regeln vorhanden gewesen wäre?

Auch Diderot muss das bemerkt haben. Im Jahr 1776 schreibt er: „Die Regeln haben aus der Kunst eine Routine gemacht, und ich weiß nicht, ob sie nicht eher schädlich als nützlich gewesen sind. Verstehen wir uns richtig: sie haben dem gewöhnlichen Menschen genützt, aber dem Mann von Genie geschadet.“ [3]

Diese Aussage zeigt, dass Diderot das Potential wohl erahnt hat, dass in den Genies steckte, das aber durch die zu seiner Zeit herrschende Kunstauffassung gedeckelt wurde und nur im Rahmen dieser zur Geltung kommen durfte.

 

Literatur:

[1] Denis Diderot: Aus dem Salon von 1763, in: Schriften zur Kunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Bexte, Berlin 2005, S. 41

[2] Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein  neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt 2011, S. 81

[3] Denis Diderot: Verstreute Gedanken über Malerei, Skulptur, Architektur und Poesie als eine Art Fortsetzung der „Salons“, 1776, in: Schriften zur Kunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Bexte, Berlin 2005, S. 245

Marianne Roland Michel: Die französische Zeichnung im 18. Jahrhundert, München 1987

Quelle: http://games.hypotheses.org/1122

Weiterlesen

Jahreskonferenz der Universitätsarchivare und Archivare wissenschaftlicher Institutionen (SUV) im Internationalen Archivrat in Barbados

Tagungsgebäude: 3Ws Oval, University of Wes Indies, Bridgetown (Barbados)
(Tagungsgebäude)

Das West Indies Federal Archives Centre und die University of the West Indies auf dem Cave Hill Campus in Bridgetown/Barbados waren die diesjährigen Gastgeber der Jahreskonferenz der Sektion der Universitätsarchivare und Archivare wissenschaftlicher Institutionen im Internationalen Archivrat (ICA SUV). Über 65 Archivarinnen und Archivare aus fünf Kontinenten trafen sich vom 26. bis 29. Juni 2013 auf der Karibikinsel, um ihre Ansichten und Erfahrungen zum Leitthema „Managing Archives in a Digital World“ auszutauschen. Das Treffen bot ein Forum, auf dem Experten aus aller Welt neue Trends auf den Gebieten der Digitalisierung, der elektronischen Akten und der Möglichkeiten des Internets (Web 2.0, Social Media, Cloud Archiving) im Hinblick auf die tatsächlichen und noch erforderlichen Wechselwirkungen mit den archivischen Kernaufgaben erörterten. In sieben Arbeitssitzungen zeigten insgesamt 22 Referentinnen und Referenten ihre Präsentationen zu den Themenbereichen, unter ihnen als Keynote Speakers Sir Hilary Beckles, Luciana Duranti, Henry Fraser und Kenneth Thibodeau.

Kenneth Thibodeau, der zuletzt Direktor des Center for Advanced Systems and Technology der US National Archives war, führte in das Konferenzthema ein, indem er sowohl die Entwicklungskontinuität digitaler Unterlagen auf der einen Seite als auch die technischen Eingriffe durch Archivare und die damit verbundene Frage nach der archivarischen Kompetenz dafür auf der anderen Seite erörterte. Die gegenseitigen Einflüsse der mit Medien und Technik in Beziehung Stehenden führten zu Veränderungen des Wie, des Was und des Wer des Handelns. Ein Spezifikum digitaler Unterlagen sei, dass ihre Nutzung in jedem Fall die Aktivierung eines Bearbeitungsprozesses verursache. Da dies immer die Gefahr der Verwischung früherer Bearbeitungsspuren in sich berge, existiere hier eine Herausforderung an die digitale Bestandserhaltung. Es stelle sich die Frage, welche technische Kompetenz der Archivar benötige, um digitale Archivierung koordinieren zu können. Er solle nicht versuchen, zum Technikexperten zu werden, besonders nicht im Records Management. Vielmehr seien von ihm Grundkenntnisse über gebräuchliche Technologien bei der Erzeugung von Akten, bei Transmissionsvorgängen, bei der Schriftgutverwaltung und digitalen Bestandserhaltung sowie über Technologien für die Bereitstellung und Recherche zu erwerben. Diese Kenntnisse sollten den Archivar dazu befähigen, die Tauglichkeit von technischen Verfahren zu beurteilen, nicht aber sie zu beherrschen (judgement statt expertise). Thibodeau hielt eine Art „Archival App Store“ für wünschenswert, das sich aus der Trias der Anforderungen der Archivare, der technologischen Möglichkeiten der Techniker und der Erwartungen der Nutzer speise. Sein abschließendes Statement beinhaltete die Aussage, dass die Archivare heute noch nicht die Möglichkeiten besäßen, elektronische Unterlagen sicher zu archivieren. Das technologische Umfeld sei dafür noch nicht ausreichend entwickelt. In jedem Fall könne digitale Archivierung aber nur in interinstitutioneller Kooperation gelingen.

In der ersten Session sprachen Alan Bell vom Centre for Archive and Information Studies bei der Universität Dundee und Lekoko Kenosi von der King Abdullah University of Science and Technology im saudiarabischen Jeddah. Beide wiesen darauf hin, wie nötig es sei, dass Systeme, in denen elektronische Unterlagen entstehen, den archivfachlichen Standards entsprächen und die Unterlagen nicht isoliert, sondern in ihren Kontexten archivierbar machten. Zugleich müssten solche Werkzeuge des Record Management in der Lage sein, flexibel auf ständig neu hinzukommende und vorhergehende ablösende Beziehungsvisualisierungen, Arbeitsweisen und Prioritätssetzungen zu reagieren. Dabei sei auch der Kreativität der Nutzer solcher Systeme genügend Raum zu geben, um Workflows durch Partizipation optimal zu gestalten. Außerdem sollten geeignete Systeme finanziell erschwinglich sein. Nicht zuletzt läge es aber auch an den verantwortlichen Records Managern, sich neuen Herausforderungen immer wieder bereitwillig zu stellen und selbstkritisch veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Als einschlägige professionelle Belange, die beim „mainstream information manager“ häufig zu wenig ausgeprägt seien, nannte Bell vor allem das Problembewusstsein bezüglich Bewahrung oder Rekonstruierbarkeit von Provenienz und der Geschichte der administrativen Aktivitäten.

Lekoko Kenosi befasste sich vorwiegend mit digitalen Vorgängen und Dokumenten einschließlich Social Media Records und Archivierungsstrategien in der „Cloud“. Das zentrale Problem bei der Nutzung der Cloud für Archivierungszwecke sei die fehlende Nachprüfbarkeit, was dort mit den Daten geschehe. Nur verbindliche Vorgaben an die Provider könnten Rahmenbedingungen schaffen, die eine Archivierung in der Cloud in Erwägung ziehen ließen. Sein Vortrag stieß eine Diskussion über den Kompositionscharakter von Social Media-Beiträgen an. Dabei wurde die Ansicht vertreten, dass erst dann von Records bei dieser Art von Unterlagen gesprochen werden könne, wenn sie im Kontext einer umfassenderen Aufgabenwahrnehmung mit mehr oder weniger klaren Funktionsbezügen entstanden seien, etwa wenn es sich um einen behördlichen Facebook-Account handele, dessen Pflege in die Aufgaben der Stelle integriert sei. Lägen diese Voraussetzungen nicht vor, könne allenfalls von Dokumenten die Rede sein, nicht aber von Records. Wenngleich Folgerungen daraus für mögliche Bewertungen von Social Media Dokumenten und Records nicht explizit diskutiert wurden, deutete sich im Verlauf der Konferenz mehrmals an, dass ihre Archivwürdigkeit in der Mehrzahl der Fälle offenbar überwiegend noch verneint werden könne. Wie stark Social Media und Web 2.0 in zentrale Bereiche von Universitäten dennoch verwoben seien, zeigte Elizabeth Shaffer in ihrer Präsentation am Ende der Konferenz (s.u.).

Geoffrey Yeo, der Records Management und Archivische Erschließung am University College London (UCL) unterrichtet, befasste sich mit der veränderten Situation der Erschließung im digitalen Zeitalter. Die Tendenz zur flachen Erschließung, durch die Erschließungsrückstände vermeintlich aufgeholt werden könnten, sei kontraproduktiv zum Anliegen der Archivare, den Benützerinteressen zu entsprechen. Dagegen sei auch eine gute Kontextbeschreibung auf höherer Verzeichnungsstufe kein Heilmittel und schon gar nicht dürfe eine solche Kombination zum Erschließungsprinzip werden. Vielmehr müssten die Archivare die offengelegten Kontextinformationen auf die Aktenebene herunterbrechen und anhand der Inhalte greifbar machen. Er stellte die Frage, ob nicht im Laufe des (vorarchivischen) Lebenszyklus digitaler Unterlagen bereits so viele Metainformation entstehe, dass ein automatisiertes Abgreifen im Zuge der Übernahme ins Archiv die retrospektive Erschließung weitestgehend ablösen könne. Dabei sei es wünschenswert, dass die von Sachbearbeitern im Alltag genutzte Software die erforderlichen Metadaten automatisch generiere. Anzustreben sei des Weiteren, die Möglichkeiten des softwarebasierten Natural Language Processing (NLP) zu nutzen. Dieses Verfahren erkennt Namen und Ortsbezeichnungen bei der Digitalisierung von Dokumenten und kann die Grundlage für die Auswertung ihrer Bezüge untereinander und zu den Inhalten der betroffenen Akten liefern. Eingesetzt werde NLP beispielsweise bereits im ChartEx Projekt (www.chartex.org). Das Verfahren eigne sich auch zur Analyse von E-Mail-Accounts. Problematisch sei jedoch der Umgang mit sensiblen Daten, die mit automatisierten Verfahren vollständig erkannt zu haben nur schwer garantiert werden könne. Perspektivisch sah Yeo die erschließende Funktion des Archivars zunehmend zugunsten eines automatisierten Metadaten-Managements schwinden.

Geoffrey Yeo
(Geoffrey Yeo)

Mehrere Beiträger berichteten über Ergebnisse aus den Projekten „InterPares“ und „InterPares Trust“, „Records in the Clouds“, „Digital Records Forensics“ und „The Law of Evidence in the Digital Environment“ des Centre for the International Study of Contemporary Records and Archives an der School of Library, Archival and Information Studies der University of British Columbia (UBC), darunter auch dessen Direktorin Luciana Duranti. Genaue Information über die Projekte findet sich im Internet unter www.ciscra.org.

In seinem Beitrag über digitale Forensik und Archivwissenschaft empfahl Adam Jansen den Universitätsarchivaren nachdrücklich, ihre besondere Situation zu nutzen und hochqualifizierte Kräfte innerhalb der eigenen Universität in die Lösung von Fragen der digitalen Archivierung einzubeziehen und mit Instituten und Postgraduates in Projekten zusammenzuarbeiten. In seinem Vortrag ging er auch auf die Risiken der Archivierung in der Cloud ein, die eine Kontrolle über den Bereich der „Integrity Metadata“ (administrative Metadaten) unmöglich mache. Er sah in ihr eine Gefahr für die Integrität und Authentizität des Archivguts.

Um digitalisiertes Material und die Nutzung digitaler Techniken zur Auswertung und Verbreitung ging es in den Beiträgen von Lucia Velloso de Olivieira, Dominique Taffin und Ruth Frendo. Unter anderem stellte Dominique Taffin das „Portail de la Banque Numérique des Patrimoines Martiniquais“ (www.patrimoine-martinique.org) vor, das sich mit der Geschichte dieses französischen Übersee-Départements befasst. Ruth Frendo von der Londoner Theater- und Bildungseinrichtung Shakespeare’s Globe präsentierte die Methoden ihrer Einrichtung bei der Archivierung und Auswertung mit Hilfe neuer Technologien. Ihr Beitrag warf ein Schlaglicht darauf, wie das Mandat einer archivierenden Institution sowohl die Ziele als auch die Methodik zu beeinflussen in der Lage sein kann. Zugleich stellte sie wesentliche methodische Unterschiede im Umgang mit Inhalts- und Kontextinformation bei einer Dokumentation einerseits und einer Archivierung andererseits klar heraus. Kenneth Thibodeau wies darauf hin, dass angesichts der Flut der auf die Archive zuströmenden elektronischen Daten die Gründe, weshalb bestimmte Information als archivwürdig angesehen werde, mit besonderer Sorgfalt transparent gemacht werden müssten (why are we doing, what we do?).

Den zweiten Konferenztag eröffnete Luciana Duranti mit ihrem Vortrag über die Ergebnisse des InterPares Trust-Projekts und des Projekts „Records in the Cloud“. Darin geht es um die Risiken und Chancen der Archivierung in Speichermedien, die nur über Internetverbindungen zu erreichen sind („Cloud“). Die Grundvoraussetzungen für Archivierung bei Drittanbietern fasste sie in das etymologische Wortspiel des Vertrauens gegenüber vertrauenswürdigen Treuhändern (trust trustworthy trustees). Sie stellte fest, dass es eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Erwartungen und Kenntnissen an Cloud Storage und Cloud Archiving gebe: Die meisten Firmen oder anderen Nutzer von Cloudangeboten wüssten nicht, was in der Cloud mit ihren Daten geschehe, obwohl sie mit dem Anbieter einen Vertrag geschlossen hätten. Ferner sei es bemerkenswert, dass von den Providern in aller Regel zwar communication, data processing und data storage, nicht aber Archivierung angeboten werde. Für den Nutzer heiße dies, er müsse sich nach dem „Caveat emptor“-Prinzip verhalten, unterliege der juristischen „voluntary vulnerability“ und müsse demnach bereit sein, die sprichwörtliche Katze im Sack zu kaufen und nicht zuletzt auch hinsichtlich der finanziellen Belastungen auf Überraschungen gefasst sein. Sie führte diese Thesen anschließend in die Tiefe und deckte die Unwägbarkeiten und Risiken der Cloudarchivierung weiter auf. Offen blieben Fragen nach dem Verbleib der Datenhoheit des Dateneigners und der Nachprüfbarkeit von Authentizitätswahrung zum einen, unwägbare technische Risiken zum anderen und zum dritten juristische Schwachstellen, wie etwa die Wahrung von Geheimnissen, Datenschutzrechten oder des urkundlichen Werts von Dokumenten. Der faktische Verlust der Nachprüfbarkeit der Metadaten und die Unkenntnis über ihre korrekte Fortschreibung sei das zentrale Argument gegen die Cloud. Duranti sah für eine akzeptable Vertrauensbalance die Entwicklung vertrauenswürdiger Technologien, Prozesse und Vertragsbedingungen als erforderlich an. Die Voraussetzungen dafür seien, dass notwendige Änderungen im Verständnis von dem, was die Beteiligten unter Vertrauen auf Daten, Akten und Aktenführungssysteme verstünden, identifiziert und auf dieser Basis international anerkannte Grundsätze für Vertrauenswürdigkeit entwickelt würden.

Luciana Duranti
(Luciana Duranti)

Shadrock Katuu von der Internationalen Atomenergiebehörde (Wien) nahm in seinem Beitrag über ein Enterprise Content Management (ECM) Bezug auf den Vortrag von Kenneth Thibodeau und sprach sich dafür aus, dass auch Archivare sich auf dem IT-Gebiet tiefergehende Fachkenntnisse aneignen sollten, um in der Sprache der Informatik kommunizieren zu können. ECM sei in Data Management Systems (DMS) eingesetzt, seine Möglichkeiten gingen aber weit darüber hinaus, es sei beispielsweise geeignet, als Gesamtinfrastruktur für ganz unterschiedlich organisierte Geschäfts- und Prozessbereiche eines Unternehmens zu fungieren, möglicherweise inklusive der Archivierung. Zwischenzeitlich gebe es dafür einen ICA-Standard sowie eine ISO-Norm und den Standard Moreq2010.

Mit der Archivierung digitaler Fotos beschäftigte sich die Archivarin und Fotografin Jessica Bushey von der University of British Columbia, die auch Mitarbeiterin im Records in the Cloud-Projekt war. Sie wies darauf hin, dass in der Praxis der Verwendung von Fotos für Nachrichtenberichterstattung der Film gegenüber dem Foto erheblich an Bedeutung gewinne, da sich aus digitalen Filmsequenzen problemlos einzelne Fotos herauspicken ließen. Die Cloud sei für die Verfügbarmachung von Fotos häufig genutzt, unter anderem von digitalen Repositorien. Es sei aber festzustellen, dass in der Regel vom Cloudanbieter für die Wahrung integrierter Metadaten nicht Sorge getragen werde. Metadaten würden  beim Hochladen fast regelmäßig gelöscht. Gleiches geschehe beispielsweise beim Download von Bildern von Facebook in umgekehrter Richtung. Cloudnutzer seien sich der Zugriffsmöglichkeiten auf die hochgeladenen Daten oft wenig bewusst. Bushey verwies auf die Schließung des Social Medium „MySpace“, dessen Nutzer erstaunt auf die Frage von MySpace reagierten, ob sie Wert darauf legten, ihre Einträge zurück zu erhalten. Beim Austausch von Fotos sei das Bewusstsein von Eigentum an den Daten und den Rechten noch weit höher ausgeprägt.

Am Beispiel der Erfahrungen bei der Einführung der elektronischen Akte im Rahmen des eGovernments auf Martinique referierte Cindy Mencé über digitale Archivierungsprojekte. Ihr Resümee mündete in die Empfehlungen, sich zunächst nicht zu große Ziele in zu kurzer Zeit zu setzen, nicht anzunehmen, dass alles ausschließlich auf archivischen Praktiken basieren müsse und nicht zu glauben, dass eine gute Spezifikation die Entwicklung eines guten CAS (Content Addressed Storage) sicherstelle. Vielmehr seien die IT-Manuals und unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Spezifikationen sorgfältig zu lesen und miteinander zu vergleichen. Mencé legte ausdrücklich Wert darauf, dass befriedigende CAS-Systeme dem OAIS-Referenzmodell entsprechen müssten.

Einen Schwerpunkt auf die Archivierung und Zugänglichmachung digitaler Audiounterlagen legte Lorraine Nero von der University of West Indies im in der Republik Trinidad und Tobago liegenden St. Augustin. Sie zeigte unter anderem am Bestand „BBC Carribean Service“, wie Tondokumente erschlossen werden. Nach der Konvertierung in die Formate WAV und MP3 werden bei der Erschließung die inhaltlichen Beziehungen unterschiedlicher BBC-Beiträge sichtbar gemacht. Neben einer Zusammenfassung des Inhalts einer Audioeinheit wurde bisher ein ausführlicher Enthältvermerk angebracht, in dem nacheinander jeder einzelne Beitrag aufgelistet wurde. Da die Intensität dieser Erschließung mit den vorhandenen Ressourcen nicht fortzuführen sei, gehe man dazu über, Erschließung nicht mehr als Vakuum zu begreifen, sondern Nutzer und Experten einzubeziehen und sich auf „user generated content“ einzulassen. Nero benennt die hierbei auftauchenden Probleme des Urheberrechts an solchen Erschließungsbeiträgen Dritter und betont, dass hier vom Archiv eine Regelung zu finden sei, bevor man damit beginne. Des Weiteren wolle man die Tonspuren in Text konvertieren und eine Volltext- und Schlagwortsuche darin ermöglichen.

In einer weiteren Session ging es um die speziellen Unterlagengruppen der Akten aus studentischen Organisationen und um E-Mail-Überlieferung. Jay Gaidmore von der Earl Gregg Swem Library am College of William and Mary im US-Bundesstaat Virginia berichtete über die Umsetzung eines Dokumentationsprofils hinsichtlich studentischer Provenienzen im Archiv der University of North Carolina. Dabei nahm er Bezug auf die von Helen Willa Samuels in ihrem Buch „Varsity Letters“ herausgearbeiteten zentralen Funktionen von Universitätsarchiven. Die Dokumentation der studentischen Aktivitäten subsumierte er dabei unter die universitäre Zentralfunktion des „Fostering Socialization“. Im Fokus stünden vor allem studentische Verbindungen und Organisationen, unterrepräsentierte Gruppen sowie studentische Aktivistengruppen. Gaidmore hielt es für wichtig, den Studenten ebenso wie den vorgesetzten Stellen der Hochschularchive zu kommunizieren, welche Bedeutung die Dokumentation der hier sichtbar werdenden Auswirkungen universitären Lebens für die Bewahrung eines umfassend aussagekräftigen Abbilds der Universität habe. Er empfahl, etwa in den hauseigenen Archivnachrichten „Tipps for preserving your organization’s history“ zu veröffentlichen und Alumni einzubeziehen.

Dass E-Mails in Universitätsverwaltungen keine Privatkorrespondenz und schon gar kein Privateigentum seien, war der Ausgangspunkt für den Beitrag der Universitätsarchivarin der University of Wyoming Laura Jackson über administrative E-Mails in öffentlichen Universitäten der Vereinigten Staaten. Die wichtigsten Informationen über Entscheidungsfindungsprozesse fänden sich heute oftmals in den E-Mail-Ordnern höherer Universitätsbediensteter, aber nicht mehr mit hinreichender Sicherheit auch in den offiziellen Akten. Um Aktivitäten, Funktionen und Ereignisse transparent und nachvollziehbar erhalten zu können, sei die Einbeziehung von E-Mails in die Archivierung daher zwingend erforderlich. Allerdings sei damit ein scheinbar unverhältnismäßig hoher Erschließungsaufwand verbunden, da E-Mails in aller Regel weitgehend ungeordnet abgelegt seien und in nicht immer sofort erkennbaren Kontexten mit anderen Überlieferungsteilen stünden. Jackson empfahl, mittels entsprechend konfigurierter Software, die den Bearbeitern zur Verfügung gestellt werden sollte, eine Auswahl herauszufiltern, die dann vom Archiv übernommen werde. Dafür gebe es geeignete Software, mit der man zentrale Korrespondenzstränge ermitteln und private von geschäftlicher Korrespondenz trennen könne. Im Universitätsarchiv Wyoming würden übernommene E-Mails mit der Software Aid4Mail oder Emailchemy in die Formate MBOX und PDF/A konvertiert. Aus den E-Mails bilde man E-Mail-Akten und Serien nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Die Nutzbarmachung erfolge durch direkte Zugriffspunkte in den digitalen Findmitteln. Für die Zukunft sei es aber wichtig, nicht nur rechtzeitig mit den Bearbeitern in Kontakt zu treten, sondern auch Richtlinien für die Organisation von E-Mail-Accounts und den Transfer ins Archiv zu erarbeiten.

Laura Jackson
(Laura Jackson)

In der vorletzten Session ging es um Grundsätze und Standards bei der Erschließung und Bereitstellung digitaler und digitalisierter Archivalien. Gavan McCarthy, Direktor des University of Melbourne eScholarship Research Centre, konzentrierte sich in seinem Beitrag auf den deskriptiven Standard Encoded Archival Context (EAC) und stellte das Projekt „Find and Connect“ der australischen Regierung vor. Darin wird EAC nicht mehr nur zur Beschreibung von Überlieferungsbildnern, sondern generell zur Beschreibung von Entitäten genutzt, d.h. für Akteure ebenso wie zum Beispiel auch für Events. Karsten Kühnel vom Universitätsarchiv Bayreuth veranschaulichte in seinem Beitrag über die Möglichkeiten zur Visualisierung von Beziehungen anhand von Digitalisaten die Bedeutung der Beschreibung von Funktionen in einem Erschließungssystem, das Beziehungen und Beziehungsgemeinschaften zur Grundlage virtueller Bestandsbildung macht, und bemängelte dabei das Fehlen eines EAC-Profils für Funktionen (EAC-F), um sie analog zum ISDF-Standard in einem digitalen Austauschformat beschreiben zu können.

Karsten Kühnel
(Karsten Kühnel)

Corinne Rogers referierte in der abschließenden Session über das noch bis 2015 laufende Projekt „The Law of Evidence in the Digital Environment“, einer Kooperation zwischen der juristischen Fakultät und der School of Library, Archival and Information Studies (SLAIS) an der University of British Columbia (http://www.lawofevidence.org/). Das Projekt befasst sich damit, wie digitale Unterlagen und Produkte digital organisierter Geschäftsprozesse die gleiche juristische Qualität wie herkömmliche papierbasierte Dokumente erlangen und dauerhaft behalten können. Sie ging dabei auch auf die juristischen Probleme im Umgang mit E-Mails ein.

Auf die Praxis der Web 2.0-Nutzung im Zusammenhang mit E-Learning-Prozessen richtete Elizabeth Shaffer von der University of British Columbia die Aufmerksamkeit des Publikums. Sie zeigte, dass im Umfeld der Universitäten Web 2.0 elementare Kommunikationsmethoden bereitstelle, die in die Kernbereiche universitären Handelns und Wirkens Einzug genommen hätten. Kollaboration, verteilte Autorenschaft, enthierarchisierte Partizipation, interaktive Kommunikation, Kontinuität in der Produktion, Reproduktion und Transformation von Information, fehlende Finalität von Prozessen und verteilte Eigentumsverhältnisse versus Open Access seien zentrale Schlagworte, die das derzeitige E-Learning auf Web 2.0-Basis charakterisierten. Die Herausforderung an die Archive sei die Bewahrung der dabei entstehenden digitalen Erzeugnisse als Evidenzbelege für studentische Lern- und Sozialisierungsprozesse, verstanden als Ausfluss universitärer Funktionen. Shaffer gelang es, den Kontext zwischen den Aktivitäten der unterschiedlichen Handlungsträger einer Universität und ihren Web 2.0- und Social Media-basierten Produkten auf einem von ihr eingegrenzten Gebiet klar herauszustellen und auf dieser Grundlage die Zusammenhänge zwischen E-Learning und Record making sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an das Record keeping zu verdeutlichen.

Elizabeth Shaffer
(Elizabeth Shaffer)

Zum Abschluss der Konferenz gab der SUV-Vorsitzende William Maher eine Zusammenfassung der Beiträge und stellte die Frage, welche Rolle künftig der SUV als Sektion und dem ICA als Ganzem zukommen könne, um die internationale Komponente einer gemeinsamen Strategie zum Umgang mit digitaler Überlieferung zu stärken.

William Maher
(William Maher)

Das Programmkomitee der Sektion im ICA und die Veranstalter vor Ort haben in Barbados eine in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht vorbildliche Leistung erbracht. Die Referentinnen und Referenten erfüllten die im CfP formulierten Wünsche, wonach für die Vorträge ein „fortgeschrittenes wissenschaftliches Niveau“ Voraussetzung sein sollte, durchwegs. Einmal mehr zeigte sich, wie untrennbar Recordsmanagement und Archivwesen im digitalen Zeitalter miteinander verbunden sind und wie die Anforderungen an ein digitales Archiv nur durch frühzeitige Eingriffe und Beteiligung der Archivare an den Fragen der Schriftguterzeugung und -verwaltung im öffentlichen Sektor in juristisch und forschungsbezogen einwandfreier Weise auf einem zielführenden Weg zu ihrer Erfüllung gebracht werden können.

Die nächste Jahreskonferenz findet im Juli 2014 an der Universität Paris statt. Der Call for Papers wird auf der SUV-Website veröffentlicht (http://www.library.illinois.edu/ica-suv/index.php).

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/743

Weiterlesen