Notizen über „Nutzen und Nachtheil“ kritischer Geschichte für das Leben

In den vergangenen Monaten habe ich zusammen mit Kolleg/inn/en die Geschichte einer Umweltorganisation erarbeitet, die 2013 ihr 100jähriges Gründungsjubiläum beging. Was Historiker/innen kaum überrascht, war für viele Verantwortliche und Mitglieder dieser Organisation, die in den 1970er Jahren eine Wende vom staatsnahen Heimatverein zum kritischen Umweltverband durchlief, in der letztendlichen Deutlichkeit unerwartet.

Der Verband war auf organisatorischer, ideologischer und personeller Ebene mit dem Nationalsozialismus verflochten – er war ein integraler, wenn auch nicht unbedingt wichtiger Teil des NS-Machtapparats. Was mich als akademischen Historiker überrascht hat, waren die praktischen Fragen, die sich aus dieser neuen Sicht der Verbandsgeschichte ergaben und immer noch ergeben. Diese Überraschung möchte ich hier reflektieren und nehme dabei Friedrich Nietzsches Essay “Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben” [1] zu Hilfe.

Stolpersteine

Hier steht ein Gedenkstein für einen Naturschützer, der ein Moor vor dem Zugriff des Reichsarbeitsdienstes gerettet hat – durch seine guten Beziehungen. Er war NSDAP-Mitglied seit 1922, Teilnehmer am Hitler-Putsch von 1923 und „Alter Kämpfer“. Er hielt Naturschutz für “Rasseschutz”. Dort ist eine Straße nach einem Naturschützer benannt, der in den 1960ern den Ortsverband aus der Taufe hob und über Jahre am Leben hielt. Bis 1945 war erObersturmbannführer der SA in deren Propagandastab. Und dann ein Naturschutz-Funktionär, der die Belange von Natur und Umwelt in einem ganzen süddeutschen Bundesland fast allein verteidigte, ganz gegen den Trend der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit. Dadurch wurde er zur Identifikationsfigur für eine ganze Generation von Naturschützern/innen der 1960er und 1970er Jahre. Karriere als Wissenschaftler hatte er vor 1945 gemacht, in dem er opportunistisch die Klaviatur des NS-Wissenschaftssystems bespielte und natürlich den einschlägigen Parteigliederungen beitrat.

Gedenksteine, Straßennamen, historische Identifikationsfiguren sind allesamt praktische Stolpersteine für eine kritische Neufassung deutscher Geschichten. Sie sind nicht nur Mittel des Erinnerns und der Traditionsbildung. Oft sind sie zum Selbstzweck geworden, zu eigenen Erinnerungsorten, die Anspruch auf “Denkmalpflege” erheben. Die Menschen, die konkret und vor Ort mit ihnen Umgehen, die sie in ihre eigene Biografien – häufig durchaus als gesellschaftskritische Bürger – eingebunden haben, fordern das Urteil des/r Historikers/in heraus. Und das zu Recht. Die Fakten stehen keineswegs zur Diskussion. Die besagten Naturschützer/innen wollen lediglich eines genauer wissen: was sollen wir nun mit diesem Wissen anfangen? Sollen wir die Plaketten abmontieren, die Straßen umbenennen, die Gründerfiguren durch neue ersetzen? Ist es das, was daraus folgt? Ist das die Antwort?

Nietzsche und Kritische Geschichte

Spätestens hier wird einem der Unterschied zwischen einer/m Historiker/in und einer/m Richter/in deutlich. Dieser setzt nach dem Urteil das Strafmaß fest, jener ist mit solch einer Frage weitestgehend überfordert. Die intuitive Reaktion einer/s Historikers/in wäre vielleicht, sich möglichst zurückzuziehen und allenfalls ein weiteres Projekt anzustoßen, das Gedenkpraxis aus dem Blickwinkel der Erinnerungskulturforschung untersucht. Mehr fällt mir eigentlich auch nicht mehr ein, außer vielleicht nochmal über die Frage des praktischen Werts kritischer Geschichte nachzudenken. Das möchte ich im Folgenden kurz tun, mit Hilfe von Friedrich Nietzsches Reflexion „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“.

Friedrich Nietzsche unterschied in dem Essay von 1874 drei Grundformen von Geschichtsschreibung – die monumentalische, die antiquarische und die kritische (siehe v.a. Kap. 2/3). Die monumentalische Geschichte versuche die vergangenen Heldentaten, die Heroen und ihre Siege in Erinnerung zu rufen; sie sei die Geschichte der Sieger, der Mächtigen und könne im vernünftigen Maß Vorbilder herausstellen und die Fähigen der Gegenwart zu großen Taten motivieren. Im Übermaß betrieben verleite sie dazu, den Niedergang zu beklagen und ob des eigenen Epigonentums in Lethargie zu verfallen. Die antiquarische Variante sei, so Nietzsche, insofern ihr Gegenpol, als sie sich auf den kleinen Raum, die nächste Umgebung und das Gewordensein lokaler Beziehungen konzentriere. Sie rufe dazu auf, den eigenen Nahraum, die jeweilige Lebenswelt als die bestmögliche zu begreifen, es sich in ihr gemütlich zu machen, sich selbst in eine Familien-, Stadt- oder Vereinsgeschichte gleichsam hinein zu erzählen. Nietzsche erkennt die stabilisierende, praktische Lebenshilfe, die aus solch einer fast selbsttherapeutischen Herangehensweise erwächst, warnt aber vor einer ganzen antiquarischen Kultur, die zuletzt überhaupt nichts Neues mehr zulassen will, weil der eigene Ort bereits in der Vergangenheit perfekt eingerichtet worden ist.

Im Gegensatz zu diesen beiden Formen stehe eine dritte, die kritische Geschichte. Sie sei nicht nur die Geschichte der Besiegten, der Unterdrückten und Ausgebeuteten, sie sei destruktiv, indem sie die Fehler vergangener Generation aufsuche und diese zu richten trachte – eine sehr notwendige Funktion, wie Nietzsche meint:

[Der Mensch] muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt […]. Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung der Vergessenheit; dann soll es eben klar werden, wie ungerecht die Existenz eines Dings, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an die Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg (33-34).

Sicherlich muss man sich Nietzsches düsterer Kategorisierung von kritischer Geschichte nicht anschließen. Nicht zuletzt ist seine philosophisch-systematische Charakterisierung auch zirkulär bzw. in der eigenen Systematik verhangen; der kritische Ansatz ist düster, weil er von den Besiegten und Entrechteten per definitionem ausgeht und dementsprechend auf die Dekonstruktion der monumentalischen und antiquarischen Geschichte ausgerichtet ist. Dennoch, denke ich, weist Nietzsche auf einige Gefahren historischer Kritik hin, z.B. was das „Richten“ betrifft (siehe v.a. Kap. 6).

“Wer zwingt euch zu richten?”

Einerseits sieht er die Gefahr des umfassenden Historismus, der alles versteht und sich anverwandelt, der „eine solche Zartheit und Erregbarkeit der Empfindung ausbildet, dass ihm gar nichts Menschliches fern bleibt; die verschiedensten Zeiten klingen sofort auf seiner Lyra in verwandten Tönen nach: er ist zum nachtönenden Passivum geworden“ (56). Dieses radikale Historisieren – also des Verstehens aus dem jeweiligen zeitlichen Horizonts heraus und des sich Entäußern der eigenen Werte und Maßstäbe, arte zur „Toleranz, zum Geltenlassen des einmal nicht Wegzuläugnenden, zum Zurechtlegen und maassvoll-wohlwollenden Beschönigen“ (57) aus. Ebenso problematisch sieht er andererseits die billige Selbstgerechtigkeit derjenigen, „die im naiven Glauben [...], dass gerade ihre Zeit in allen Popularmeinungen Recht habe“, die „Vergangenheit“ der  eigenen „Trivialität“ (58) anpassten: „Als Richter müsst ihr höher stehen, als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid“ (63). Es ist wohl typisch für Friedrich Nietzsche, dass er ein wahres, gerechtes und vor allem dem Leben nützliches Urteil nur von ganz wenigen Berufenen mit „jener innerlich blitzenden, äusserlich unbewegten und dunklen Ruhe des Künstlerauges“ zutraut und den anderen entgegenhält: „Wer zwingt euch zu richten?“ (63) Das gibt Helmut Kohls Spruch von der „Gnade der späten Geburt“ (1984 vor der Knesset), die einen vor Schuld bewahre, noch einmal eine neue Bedeutung. Nämlich: hütet euch zu richten, denn ihr seid lediglich später geboren.

Der Historikerstreit und die Frage von Kollektivschuld versus Kollektivverantwortung muss hier nicht rekapituliert werden. Eins wird jedoch deutlich. Nietzsche selbst liefert eine zeitgebundene Analyse vom Ende des 19. Jahrhunderts her. Nach 1945 wollen und können wir nicht mehr auf eine kleine Gruppe genialer Künstler-Historiker warten, die mit sicherem Auge Gerechtes von Ungerechtem unterscheidet und ihre Urteile fällt, während sich der Rest der Zunft und der Gesellschaft mit der Gnade der späten Geburt zufrieden gibt. Nicht nur, dass sich ein nietzscheanischer Virtuosen-Kult überlebt hat. Die Geschichte der Shoa, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, fordert eine wertende Analyse von den späteren Generationen. Eine streng historisierende Bewertung kann natürlich Ereignisse und Handlungen ebenfalls bewerten; vieles war einfach auch nach den damaligen Wertmaßstäben ein juristisches wie moralisches Verbrechen. Aber unsere Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, hat neue Maßstäbe produziert – demokratische, pazifistische, inklusive und tolerante. Auch diese muss man an die Vergangenheit anlegen können, ohne selbstgerecht zu werden. Bloß, wie geht das? Das zumindest ist eine der Fragen, die sich mir ganz praktisch angesichts der NS-Geschichte des besagten Naturschutzverbandes stellen, weniger im Bezug auf konkret verurteilbare Verbrechen, als hinsichtlich seiner instrumentellen Funktion für eine antisemitisch, rassistisch, sexistisch und auf viele weitere Weisen ausschließende “Volksgemeinschaft”.

Vergangenes Geschehen und zu erinnernde Geschichte

Was kann man nun als Historiker/in auf die Frage nach den praktischen Konsequenzen neuer Erkenntnis antworten? Man kann darauf hinweisen, dass die Arbeit des/r Historikers/in sich von der des Staatsanwalts, Verteidigers oder Richters unterscheidet. Dass es um ein historisches Urteil geht, dass die Horizonte, die Kontexte und die Alternativen einer historischen Person und ihrer Handlungen berücksichtigen muss, und nicht um eine juristische Verurteilung – dazu ist unsere historische Methode nicht geeignet. Dass aber eine Frage energisch zurückgespiegelt werden muss: Taugen die historischen Akteure als Vorbild für unsere Zeit? Haben sie etwas Lehrreiches für Gegenwart und Zukunft zu sagen? Will man sich in ihre Tradition stehen? Und dass wir Material für eine Antwort liefern, die wir oft nicht alleine geben können.

Analytisch gesehen bedeutet das eine Trennung von Geschichte als vergangenem Geschehen, das mit Hilfe klassischer historischer Methoden rekonstruiert wird, und zu erinnernder Geschichte (explizit nicht erinnerter G., denn dies wäre erneut eine Frage der Rekonstruktion). Letzteres wirft eben die Frage nach unseren gegenwärtigen Maßstäben und unseren Interessen an der Vergangenheit auf, nach einem kritischen Erinnern. Allerdings ist das nicht mehr allein Expertise der Geschichtswissenschaft, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Dialogs. Kritisch wäre an so einer Auffassung einerseits die wissenschaftliche Infragestellung/Dekonstrution der Vergangenheit (das Zerstören im Sinne Nietzsches) und andererseits die selbstkritische Begrenzung der eigenen Expertise und die dialogische Frage: wie wollen wir erinnern?

[1] Die Angaben beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil die Historie für das Leben, hg. v. Günter Figal, Stuttgart 2009.

Online-Ausgaben gibt es u.a. bei Zeno.org und Projekt Gutenberg.


Einsortiert unter:Erfahrungen, Erinnerung, Faschismus, Geschichte, Geschichtspolitik, Umweltgeschichte, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2014/01/07/notizen-uber-nutzen-und-nachtheil-kritischer-geschichte-fur-das-leben/

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durchsichten: Patrick Kupper: Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks, Bern 2012

bookview.libreka.de/retailer/urlResolver.do?id=9783258077192 Als schweizerische Naturforscher Anfang des 20. Jahrhunderts einen Nationalpark gründeten, hatten sie eine Vision: Abgeschottet von menschlichem Einfluss sollte die Natur ihre eigene Urnatur wiederherstellen. Diese Absicht unterschied sich radikal von der US-amerikanischen Nationalparkidee. Nicht der Erholung, sondern primär der Forschung hatte ein Nationalpark zu dienen. Das Konzept war innovativ und beeinflusste die Gestaltung […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/12/4835/

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durchsichten: Transnationale Geschichte. Eine Perspektive, Preprint v. Jan-Henrik Meyer

https://pure.au.dk/portal/files/52042208/Meyer_Jan_Henrik_Transnationale_Geschichte_in_Elvert_2013.pdf Der Beitrag unternimmt eine Definition des Begriffs vor dem Hintergrund seiner poltikwissenschaftlichen Herkunft und geht hierbei auch auf Trens in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein. Einen weiteren Schwerpunkt bilden beispielhafte transnationale Strukturen innerhalb Europas wie der Umweltpolitik oder der Öffentlichkeit. Erscheint in: Jürgen Elvert (Hrsg.): Zwischen Europäisierung und Globalisierung – Zum Standort der Geschichtswissenschaften […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/04/4111/

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV)

Der Oberrhein des 20. und 21. Jahrhunderts

Das heutige Oberrheingebiet

Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts bedeutete die Korrektion dennoch ein Segen.1 Aus der Sicht Alexa Geisthövels löste sie aber langfristig gravierende Umweltschäden aus.2 In Beiträgen der Landesanstalt für Naturschutz Baden- Württemberg wird die drastische Umgestaltung der Landschaftsstruktur und Naturhaushalt seit Tulla ersichtlich.3 Aus der früheren Wildstromlandschaft ist durch die starke Absenkung des Grundwasserspiegels die „Steppe am Oberrhein“ geworden.4 „Großflächig und dauerhaft breiteten sich Trockenstandorte aus.“5 Stehende Gewässer trockneten aus.6 85% der feuchten Oberrheinauen verschwanden.7 Schon im 19. Jahrhundert wurden große Flächen trocken gelegt und einer landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt.8 Mit dem Verlust an Auenwald, Sümpfen und Feuchtwiesen reduzierte sich auch die Anzahl der Pflanzen- und Tierarten, deren Platz oftmals von „eingeschleppten Arten“ übernommen wurde.9

Eine weitere Denaturierung der Rheinufer erfolgte durch den Bau der Rheintalautobahn, von Kiesgruben und einer Kreismülldeponie.10 Große Industriekomplexe sowie ein Kernkraftwerk auf elsässischer Seite vervollständigen das Bild des modernen südlichen Oberrheins.11 Im ehemaligen Überflutungsraum liegen heute etliche Gemeinden, Industrie- und Verkehrsanlagen oder Abraumhalden.12 Bei Basel und mit seinen Chemiekonzernen beginnt die Verschmutzung des Rheins, die sich mit den elsässischen Industriekomplexen, einschließlich Chemischer Großindustrie und Müllverbrennungsanlagen bei Straßburg/Kehl, fortsetzt.13

Charakteristisch für das deutsche Ufer sind seine großen Wein-, Mais- und Weizenanbauflächen.14 Blackbourn schildert die heutige Oberrheinebene als „blühender Garten“ mit reich kultivierten Feldern. 15 Er sieht aber auch, dass Düngemittel als Abfallsprodukt des „blühenden Gartens“ den Fluss zusätzlich verunreinigten.16 Die winzigen Überreste der alten Auenwälder hingegen verzaubern ihn.17

Weitere Eingriffe im späten  20. Jahrhundert

Die kultivierte Agrarlandschaft der südlichen Oberrheinebene bewegt viele deutsche Autoren zu einem wehmütigen Rückblick in die Zeit vor den Korrektionen des 19. Jahrhunderts.18 Das Gemälde Peter Birmanns gehört hierbei zum Standard jeder Oberrheinauen Beschreibung.19

Es waren aber die Eingriffe des 20. Jahrhunderts, die dem Oberrhein erst endgültig seinen Wildstromcharakter nahmen und einen enormen Verlust an Auenfläche zur Folge hatten.20

Tullas Nachfolger erreichten, dass bis Ende des 20. Jahrhunderts die Nebenarme des alten Rheins fast vollständig gesperrt waren, so dass kein Wasser in den Rhein mehr einfließen konnte.21 Zudem bauten sie die Deiche kontinuierlich aus.22 Vor allem bei der Rheinregulierung nach den Plänen Honsells wurde der Strom noch einmal eingeengt um durch eine erhöhte Fließgeschwindigkeit und Tiefenerosion eine größere Fahrtiefe zu erhalten.23 Durch so genannte Querbauten suchte man eine bestimmte Mindestbreite und –tiefe des Fahrwassers sicherzustellen.24

Die natürlichen Kräfte des Ökosystems hätten aber trotz der Eingriffe durch Tullas Korrektion und Honsells Niederwasserregulierung ein bedingt ökologisches Gleichgewicht wiederherstellen können, „was der Landschaft aber in den letzten 60 Jahren angetan worden ist, stellt das Vorhergegangene in den Schatten und hat die natürliche Landschaft zerstört.“25

Der Bau und Ausbau des „Grand Canal d’ Alsace“ als geschlossenen Rheinseitenkanal erfolgte zwischen 1928 und 1955.26 Um Elektrizität zu gewinnen, wird das Wasser aus dem Rhein in diese „Betonrinne“ geleitet und Flusskraftwerken zugeführt.27 „Der „Canal d’Alsace“ hat dem Rhein das Wesen genommen. Aus dem reißenden Strom ist ein müder Fluss geworden.“28 „Die Schalthebel der Wehre entscheiden, ob der Rhein ein Fluss, ein Bach oder ein Rinnsal ist.“29 Das ökologische Ergebnis aller Ausbaumaßnahmen ist die heutige Trockenaue.30 Das ökonomische Ergebnis ist die sehr teure Nachschüttung von Kies, die so genannte „Geschiebezugabe“, um die schon kurz nach Tullas Tod überschrittene optimale Tiefenmarke der Sohlenerosion zu stoppen, die die Fundamente der Ufer- und Strombauwerke, die Häfen sowie Land- und Forstwirtschaft gefährden.31

Weitere Bauten von Kraftwerksstaustufen nach dem Zweiten Weltkrieg im seitlich betonierten Kanal und im alten Rheinbett beschleunigten die Austrocknung des Oberrheingebiets.32 All diese „Nach- Tulla- Arbeiten“ erhöhten aber die Gefahr eines Katastrophenhochwassers am Mittel- und Niederrheingebiet um ein Vielfaches, da der Fluss am Oberrhein bei Hochwasser nicht mehr ausufern kann und das Wasser in seiner schmalen, geraden „Rinne“ eine enorme Beschleunigung erfährt, dessen Auswirkungen die Städte flussabwärts, vor allem Mannheim und Köln, vermehrt zu spüren bekommen.33

Aussicht und Fazit

Um dem Hochwasser am Mittel- und Niederrhein beizukommen, legte das Land Baden- Württemberg im Jahr 1988 sein „Integriertes Rheinprogramm“ (IRP) vor.34 In diesem Programm wurden zwei Ziele festgelegt: 1. Die Widerherstellung des Hochwasserschutzes und 2. Die Erhaltung und Renaturierung der Auenlandschaft am Oberrhein.35 Im Jahr 1997 beschlossen die verschiedenen Landesanstalten eine Tieferlegung von Vorlandflächen auf einem ca. 90 Meter breiten Streifen um Hochwasserrückhaltebecken (so genannte Polder) zu gewinnen, und eine Auenrenaturierung voranzutreiben.36

Bei allem Enthusiasmus vieler Autoren für eine Renaturierung der feuchten Auen darf man nicht vergessen, dass nennenswerte Flächenanteile von Trockenstandorten in der Wildstromaue auch schon in der „Vor-Tulla-Zeit“ vorhanden waren und der Artenbestand in der Trockenaue trotz der Ausbaumaßnahmen weitestgehend ursprünglich geblieben ist.37 Viele Schriftsteller schwärmen in ihren Darstellungen bevorzugt von den feuchten Auenbereichen vor den großen Ausbaumaßnahmen, übersehen dabei aber häufig den überragenden Wert der Flora und Fauna der trockengefallenen Rheinauen am südlichen Oberrhein, einem der wärmsten Gebiete Deutschlands.38 Die Beiträge der Landesanstalt für Umweltschutz sprechen von einem in Deutschland einmaligen Landschaftraumsraum, „der auf großer Fläche höchst seltene und wertvolle Biotypen […] und eine Fülle bemerkenswerterte Tier- und Pflanzenarten“ aufweist.39

Wertvolle Trockenbiotope sollten aus Sicht heutiger Umweltschützer nicht einfach durch Auenbiotope ersetzt werden.40 Der Schutz und die Entwicklung nicht beanspruchter Trockenauenbereiche und die Generation von Feuchtauenbiotopen müssen gleichzeitig gefördert werden.[41.Vgl. Meineke. S. 487.]

Tullas Oberrheinkorrektion kann nicht allein mit heutigen Maßstäben bewertet werden. Sein Traum war eine verbesserte Lebensbedingung der Oberrheinanwohner. Zwar haben schon einige Zeitgenossen vor den kommenden negativen Auswirkungen gewarnt, für die Menschen des 19. Jahrhunderts aber war sein Großprojekt ein Segen in schwierigen Zeiten. Unter den damaligen Bedingungen war eine umfassende Lösung „alternativlos“, ansonsten hätte man die Rheinauen als Siedlungsgebiet aufgeben müssen.

Tullas Großprojekt half außerdem mit den neuen badischen Staat entlang seiner Hauptschlagader zu integrieren. Welch ökologische Spätfolgen seine „Rectification“ mit sich brachte, konnte er zum einen noch nicht vollständig vorhersehen, zum anderen waren es erst die Ausbaumaßnahmen seiner Nachfolger und die Bauarbeiten des 20. Jahrhunderts, die den Oberrhein in einen Kanal und somit in eine Bedrohung für die stromabwärts gelegenen Städte verwandelte. Für die „Versteppung“ des Oberrheingebiets zeichnet sich Tulla ebenso nicht allein verantwortlich.

Die Kultivierung und industrielle Erschließung des Oberrheinraumes ist zudem nicht per se ein negatives Faktum. Sie ermöglichen nicht nur eine gute Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten, sondern schufen auch eine Vielzahl an Arbeitsplätzen. Mit der „Zivilisation“ begann zwar auch die Verschmutzung des Oberrheingebiets, aber auch die Erschließung des Verkehrswegs Fluss. Am Anfang war Tullas Idee, aber erst die weitreichenden folgenden Ausbaumaßnahmen ermöglichten die Schiffbarkeit und die Industrialisierung des Rheins mit all seinen negativen und positiven Folgen. Mit dem Ende alter Lebenswelten beginnt aber auch immer etwas Neues. Tullas Traum stand also am Anfang eines langen Prozesses der Kultivierung des Gebietes und der Kanalisierung des Rheins. Mit Tulla änderten sich Denkhorizonte. Seine „Nachfolger“ im Wasserbau setzten da an, wo Tulla aufgehört hatte. Was vorher unmöglich erschien, war denkbar geworden. Dies ist sein Verdienst aber auch die Hauptkritik an seinem Schaffen.

 

Empfohlene Zitierweise:Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

 

  1. Vgl. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2008. S. 102-103.
  2. Ebenda.
  3. Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  4. Siehe Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  5. Siehe Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  6. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 143.
  7. Ebd. S. 139.
  8. Ebd. S. 139.
  9. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 139-140
  10. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  11. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  12. Vgl. Huppmann, Othmar/ Pfarr, Ulrike/ Staber, Herbert-Michael: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein zwischen Basel und Breisach- Hochwasserschutz und Naturschutz Hand in Hand, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 37.
  13. Vgl. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 158-171.
  14. Ebd. S. 171-184.
  15. Siehe. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 129.
  16. Ebd. S. 141.
  17. Ebd. S. 139-140.
  18. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000. S. 25
  19. Ebenda S. 26.
  20. Ebenda S. 25.
  21. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 144-145.
  22. Ebd. S. 145.
  23. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  24. Schwabe, Erich: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992. S. 53.
  25. Siehe Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  26. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 24.
  27. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  28. Siehe  Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  29. Siehe Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  30. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein, S. 37.
  31. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148 u. S. 154-155.
  32. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  33. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  34. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  35. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  36. Ebd, S. 40-45.
  37. Vgl. Meineke, Jörg-Uwe/ Ostermann, Alexander/ Jehle, Peter: Naturschutz in der Trockenaue. Erhalten und Gestalten, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 483. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15.
  38. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15-18.
  39. Siehe Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  40. Vgl. Meineke. S. 487.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/03/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-iv/

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (III)

Die Begradigung des Oberrheins und ihre Auswirkungen im 19. Jahrhundert

Napoleon und die integrative Macht der Oberrheinkorrektion

In den letzten Jahren des Heiligen Römischen Reiches wurde die Möglichkeit einer umfassenden Lösung des Überschwemmungsproblems am Oberrhein zwar erörtert, scheiterte aber an den unterschiedlichen Interessen der vielen unabhängigen Fürstentümer, Bistümer und Reichsritterschaften am südwestlichen Rand des Reiches.1 Erst das Ende des alten Reiches und das Verschwinden der zahlreichen territorialen Gerichtshoheiten entlang des Oberrheins , herbeigeführt durch die Armeen Napoleons, schufen die Grundlagen für eine Gesamtlösung.2 Die kleine Markgrafschaft Baden war einer der großen Gewinner dieser napoleonischen Umwälzungen.3 Tullas Heimatland und Arbeitgeber eignete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Territorien rechts des Hoch- und Oberrheins an.4 Die Fläche Badens wuchs um das Vierfache und nahm nun die gesamte Flussstrecke von Konstanz bis Mannheim ein.5 Der neue Staat war ein Geschöpf Napoleons, dessen Armeen das linksrheinische Gebiet annektierten.6

Für Tulla und die Befürworter der Korrektion bedeutete die territoriale Neuordnung deshalb ein günstiger Zeitpunkt zur Verwirklichung ihres Bauvorhabens, da außenpolitische Verträge nur noch zwischen Frankreich und Baden abgeschlossen werden mussten.7

Sie erkannten aber auch die gesellschaftspolitischen Möglichkeiten, welche Arbeiten an der nun badischen Lebensader bargen. 8 Aus dem vormals kleinen Baden war zwar ein deutscher Mittelstaat geworden, doch fehlte es seiner um das Fünffache gewachsenen Bevölkerung noch an einer gemeinsamen badischen Identität.9 Dieses heterogene Kunstgebilde musste erst noch zusammenwachsen.10 Der Regierung in Karlsruhe konnte deshalb an integrativen Maßnahmen nur gelegen sein um ihre neuen Untertanen in ihrem nun entstandenen einheitlichen Territorialstaat zu integrieren.11

Im Verlauf der Rektifikation des Rheins zeigte sich, „dass die verschiedenen Beamtenapparate zusammengefasst und zentralisiert, Informationen über die neu gewonnenen Territorien gesammelt, neue Karten gezeichnet, Rechts- und Steuersysteme sowie Maß- und Gewichtseinheiten vereinheitlicht wurden.“12 Zudem warf die Flussregulierung verschiedenste finanzielle und verwaltungstechnische Fragen auf, die den gesamten neuen Staatsapparat mobilisierte.13 Die aktive Beteiligung unterschiedlichster Ministerien, Direktionen und Kammern an diesem Unternehmen förderte zusätzlich den Prozess der Staatsbildung.14

Zudem beendete die Korrektion bisherige Zwistigkeiten unter den links- und rechtsrheinischen Gemeinden. Bisher änderte der Rhein seinen Lauf fast jedes Jahr, nun bestanden sichere und stabile Verhältnisse in Gemarkungsfragen und bei Hochwassersicherungsmaßnahmen. 15 Frankreich und Baden einte zudem der Wunsch nach einem unveränderlichen und somit korrigierten Flussverlauf um ihre Grenze zu konsolidieren.16 Aus Sicht eines Straßburgers begünstigten die „staatenlosen“ Rheininseln und ihre Bewohner auch „Störungen aller Art“, welche Tulla durch seine Rektifikation „löste“.17

Der Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches 1814 machte aber bisherige Vereinbarungen gegenstandslos, da Frankreich abgesehen vom Elsass vom linken Rheinufer zurückgedrängt wurde.18 Verhandlungen mussten jetzt mit Bayern stattfinden, dem jetzt die Pfalz auf dem linken Rheinufer gehörte.19 1817 und 1825 kam es zum Abschluss von Verträgen, in denen zusammen zwanzig Durchstiche an der badisch-bayrischen Rheingrenze vereinbart wurden.20 Es folgten weitere Abkommen zwischen den Oberrheinstaaten Baden, Hessen und Bayern.21 Erst 1840 kam es zu einem Grenzvertrag zwischen Baden und Frankreich, der unter anderem die Begradigung des Rheins zwischen Baden und dem Elsass vorsah.22 Tullas Traum des „rectificirten“ Rheins erfüllte sich zwar erst Jahrzehnte nach seinem Tod, in den Jahren als Bismarck sein neues Reich schmiedete, doch das Ergebnis spricht für seine gewaltige Dimension: Insgesamt wurde der Rhein zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge, von 345 auf 273 Kilometer gekürzt; über 2200 Inseln und Halbinseln mit einer Fläche von über 1000 km² wurden abgetragen und 240 km Hauptdeiche errichtet.23 „Es war das größte Bauvorhaben, das jemals in Deutschland in Angriff genommen wurde.“24

Landgewinnung und Kultivierung

 Im 19. Jahrhundert machten sich die positiven Auswirkungen der Korrektion recht schnell bemerkbar.25 Durch die Tiefenerosion und das schnellere Abfließen des Wassers hörten Überschwemmungen und Versumpfungen im Oberrheingebiet auf.26 Die Niederungen wurden zuverlässig entwässert und das Grundwasser sank in eine für die Landwirtschaft günstige Lage.27 In diesen Jahren konnten gute Ernten erzielt werden.28 Die Entwässerung der Oberrheinauen sorgte verknüpft mit einer besseren medizinischen Versorgung auch dafür, dass die Häufigkeit der Malariafälle zurückging und das in den Rheinorten endemische Wechselfieber, Ruhr und Typhus verschwanden.29 „Die Besiedelung bisher als feucht- und gesundheitsschädlich gemiedener Flächen war möglich geworden.“30 „Die Verwirklichung von Tullas Plan brachte (also) neue Sicherheit und neues Land.“ 31  Der intensiven Besiedelung folgten mittelbar der Ackerbau sowie der Anbau von Feldfrüchten.32 Die Rückeroberung und Kultivierung der Rheinauen war umso wichtiger als steigende Bevölkerungszahlen und Landhunger, vor allem in der Pfalz, zu großen Auswanderungswellen in die USA oder nach Ungarn und Preußen führten.33 Die Kosten der Rheinkorrektion beliefen sich bis 1884 allein auf badischer Seite auf rund 30 Millionen Mark.34 Der Wertzuwachs des rechtrheinisch gewonnenen Kulturlandes bezifferte Max Honsell, der Nachfolger Tullas als Leiter der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus, jedoch auf 40 Millionen Mark. 35 Die Sicherung und Neugewinnung landwirtschaftlicher Nutzflächen, worauf die Korrektion vorrangig zielte, war demnach zufrieden stellend erreicht.36 Den Zeitgenossen half sie jedenfalls verbessert zu leben und zu überleben.37 Die Einwohner einer rechtsrheinischen Gemeinde lobpreisten Tulla in einer Zeremonie überschwänglich, dass er „ dem Rhein einen Panzer […] angelegt [habe], dass er nicht mehr- wie schon lange Zeit- nicht nur unser Allmend-Land, sondern so gar manchem Bürger sein sauer erworbenes Guth hinweg rafte.“38

Industrialisierung und Schifffahrt

In der „Vor- Tulla- Zeit“ litt die Schifffahrt am südlichen Oberrhein an Uferabbrüchen, die das Anlegen und die Benutzung von Treidelpfäden oft vereitelten.39 Ständige Richtungsänderungen des Flusses erschwerten die zu dieser Zeit übliche Segelschifffahrt.40

Rheinabwärts von Basel entlang der badisch- französischen Grenze konnten zudem nur wenige Schiffe, rheinaufwärts aber gar keine fahren.41 Die Schifffbarkeit des südlichen Oberrheins war also Anfang des 19. Jahrhunderts sehr beschränkt.42 Am Oberrhein benötigte man des seichten Wassers wegen Segelschiffe mit besonders flachen Böden.43 Die Strecke Mainz- Straßburg auf dem nördlichen Oberrhein verschlang aufgrund der vielen Rheinschlingen dennoch zwanzig bis dreißig Tage.44

Tulla ging es zwar nicht vorrangig um die Schifffahrt, sondern um den Hochwasserschutz und um eine verbesserte Lebensgrundlage der Rheinanwohner.45 Sein Projekt erschwerte sogar zunächst die Segelschifffahrt, da die Boote bei Niedrigwasser nicht in Ufernähe gezogen werden konnten, weil der Rhein die Fläche zwischen den Ufern nicht ausfüllte.46 Eine gesicherte Fahrrinne und eine einheitliche Wassertiefe waren zudem noch nicht vorhanden. 47

Die Arbeiten nach Tullas Plänen schufen aber erst die Voraussetzungen für den Ausbau des Oberrheins, die so genannte Rheinregulierung zwischen 1907 und 1936.48 Die Schiffbarmachung der Hauptrinne ermöglichte nun die ganzjährige Schifffahrt von Basel bis Mannheim, das bisher der südliche Endpunkt der Rheinschifffahrt war, da die Fahrrinne südlich von Mannheim der Kiesablagerungen und Untiefen wegen bisher schlecht passierbar war. 49 Sie beschleunigte dadurch die Erschließung der Uferlandschaften, den Bau von Häfen und die Förderung von Handel und Industrie.50Die Neuhäfen Breisach und Basel konnten 1930 beziehungsweise 1936 in Betrieb gehen. 51  Tullas Werk muss auch direkt die Dampfschifffahrt erleichtert haben, da sie seit 1824 stellenweise für den Oberrhein eingeplant wurde.52 Korrektion und Regulierung erleichterten also den Einzug der Dampfschifffahrt auf dem Oberrhein, da sie den Fluss in eine schnelle und tiefere Wasserstraße verwandelten.53

Neue Lebenswelten am Oberrhein

Schleppdampfer ersetzten das als kostspielig, langsam und unterbrechungsanfällig geltende Schleppen der Schiffe mittels Pferde.54 Vielen Händlern und Gewerbetreibenden waren Pferde und Taue schlicht zu teuer geworden.55 Der Beginn der Dampfschifffahrt bedeutete einerseits das Ende der Segelschifffahrt und des Treidelns samt ihren Berufszweigen, förderte aber zugleich neue Arbeitsplätze auf den Dampfbooten, auf denen man nun technische Spezialisten wie Mechaniker benötigte.56  Auch viele andere alte Lebenswelten am Oberrhein gingen verloren.57 Mit dem Ende der alten Flusslandschaft verschwand auch das Fördern des Rheingolds und mit ihm der Berufszweig des Goldwäschers.58 Die Kanalisierung des Rheins ermöglichte den Bau von Brücken und großen städtischen Mühlen, die die Fährschifffahrt und Schiffsmühlen verdrängten.59 Mit den alten Tier- und Pflanzenarten verschwanden auch ältere Nutzungsformen des Schwemmlandes wie das Schilfrohrschneiden und das Vogelstellen60  Wiesen- und Felderwirtschaft verdrängt diese Erwerbsformen.61 Die Ausbaumaßnahmen und die einsetzende Industrialisierung bereiteten dem Fischreichtum am Oberrhein ein schleichendes Ende, so dass die ursprünglich erwerbsrelevante Rheinfischerei, vor allem die Lachsfischerei, verloren ging.62

 

weiter gehts zu Teil IV

Empfohlene Zitierweise:Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (III). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de[Zugriff: DD:MM:YYYY]Nachweis:Bibliographie:
  1. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 117.
  2. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 116-117.
  3. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 116
  4. Vgl. Hug, Wolfgang: Geschichte Badens, Stuttgart 1992, S. 196- 199.
  5. Vgl. Hug: Geschichte Badens, S. 196- 199.
  6. Vgl. Hug: Geschichte Badens, S. 196- 199.
  7. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 117.
  8. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 117.
  9. Vgl. Hug: Geschichte Badens, S. 199.
  10. Vgl. Hug: Geschichte Badens, S. 199.
  11. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 117.
  12. Siehe Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 117.
  13. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 118.
  14. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 118.
  15. Ebd. S. 119-120.
  16. Ebd. S. 119.
  17. Ebd. S. 120.
  18. Ebd. S. 120.
  19. Ebd. S. 120.
  20. Ebd. S. 121.
  21. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 121.
  22. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 121.
  23. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 121.
  24. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 121.
  25. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 147.
  26. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 147.
  27. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 147.
  28. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 148.
  29. Ebd. S. 148. u. S. 184-186.
  30. Siehe Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 148.
  31. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 129.
  32. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 129.
  33. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 128.
  34. Hertweck, Georg: Die Geschichte des Rheinufers von den Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in: Rheinhafen Karlsruhe hrsg. von Ernst Bräuche (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd. 22), Karlsruhe 2001, S. 33.
  35. Hertweck, Georg: Die Geschichte des Rheinufers von den Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in: Rheinhafen Karlsruhe hrsg. von Ernst Bräuche (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd. 22), Karlsruhe 2001, S. 33.
  36. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2008. S. 102.
  37. Ebd. S. 103.
  38. Siehe  Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 127-128.
  39. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 32.
  40. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 32.
  41. Vgl. Strauch, Dieter: Die Entwicklung des Rheinschifffahrtsrechts zwischen 1815 und 1868, in: Der Rhein als Verkehrsweg. Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Niederrheinakademie Bd. 79), hrsg. von Clemens von Looz- Corswarem und Georg Mölich, Bottrop 2007, S. 67.
  42. Vgl. Strauch, Dieter: Die Entwicklung des Rheinschifffahrtsrechts zwischen 1815 und 1868, in: Der Rhein als Verkehrsweg. Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Niederrheinakademie Bd. 79), hrsg. von Clemens von Looz- Corswarem und Georg Mölich, Bottrop 2007, S. 67.
  43. Vgl. Von Looz- Corswarem, Clemens: Der Rhein als Verkehrsweg im 18.Jahrhundert, in: Der Rhein als Verkehrsweg. Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Niederrheinakademie Bd. 79), hrsg. von Clemens von Looz- Corswarem und Georg Mölich, Bottrop 2007, S. 25.
  44. Vgl. Von Looz- Corswarem, Clemens: Der Rhein als Verkehrsweg im 18.Jahrhundert, in: Der Rhein als Verkehrsweg. Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Niederrheinakademie Bd. 79), hrsg. von Clemens von Looz- Corswarem und Georg Mölich, Bottrop 2007, S. 25.
  45. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 34.
  46. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 34.
  47. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 34.
  48. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148.
  49. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148.
  50. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148.
  51. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  52. Vgl. Weber- Brosamer, Bernhard: „Die Weltordnung will weder Stillstand noch Rückschritt“. Zur Einführung der Dampfschifffahrt auf dem Rhein, in: Der Rhein als Verkehrsweg. Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Niederrheinakademie Bd. 79), hrsg. von Clemens von Looz- Corswarem und Georg Mölich, Bottrop 2007, S. 95.
  53. Vgl. Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2004, S. 134.
  54. Vgl. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 134.
  55. Vgl. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 134.
  56. Vgl. Weber- Brosamer: „Die Weltordnung will weder Stillstand noch Rückschritt“, S. 99.
  57. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 130.
  58. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 143.
  59. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 130.
  60. Ebd. S. 131. u. S. 137-138.
  61. Ebd. S. 131.
  62. Ebd. S. 132-135.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/03/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-iii/

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (II)

Die Stunde Johann Gottfried Tullas

Viele Siedlungen zu beiden Seiten des Oberrheins waren jedoch zu Nahe am Wasser gebaut.1 Ihre große Vertrautheit mit den Gewohnheiten des Stromes und ihre Kenntnisse im Wasserbau schützten die Rheinanwohner mit Beginn der Frühen Neuzeit nicht mehr vor dessen Naturgewalten.2 Im 16., 17., und 18. Jahrhundert kam es zum Untergang von ganzen Ansiedlungen durch unverhältnismäßig heftige Überschwemmungen am Oberrhein.3 Vor allem in der Mäanderzone zwischen Karlsruhe und Speyer bedrohte das viele Wasser zunehmend das menschliche Leben am Fluss.4 Aber auch weiter stromaufwärts mussten einige Dörfer und sogar Handelsstädte, wie Neuenburg am Ende des 15. und Rheinau im 16. Jahrhundert, aufgegeben werden.5 Zudem waren große Flächen fruchtbaren Bodens versumpft, der Verkehr mit den Rheinorten war durch die ständigen Überschwemmungen erschwert und die Bewohner litten fast überall unter Fieberkrankheiten wie Malaria, Ruhr und Typhus.6 Versumpfungen und  Überflutungen hatten also neben wirtschaftlichen, hygienischen auch ernste gesundheitliche Folgen, ausgelöst vor allem durch „Insektenplagen“.7 Selbst Johann Wolfgang von Goethe soll beim Anblick dieser Schnakenschwärme in den Rheinauen an der Gütigkeit und Weisheit Gottes gezweifelt haben.8

Die Menschen am Oberrhein kannten Hochwassersicherungs- und Landgewinnungsmaßnahmen schon vor dem 19. Jahrhundert.9 Schon seit dem hohen Mittelalter befestigten sie Dämme mit Weidenfaschinen um Rheinaltarme abzuschnüren und Rheininseln zu verbinden und legten Deiche und Gräben zur Umleitung des Wassers an.10Auf großer Fläche konnte der Wildstrom jedoch nicht gezähmt werden“.11 Der Fluss stellte seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine mit herkömmlichen Mitteln kaum mehr abzuwendende Bedrohung dar.12 Eine Hauptursache hierfür war eine „Kleine Eiszeit“ zwischen 1550 und 1850.13 Die Ursache hierfür ist strittig, jedenfalls erlebte Mitteleuropa kältere Winter mit mehr Schneefall sowie niederschlagsreichere Sommer.14 In den Jahrzehnten nach 1735 führten größere Mengen der Schneeschmelze und schwere Regenfälle zu ungewöhnlich starken Hochwassern und zu einem Anstieg des Flusswasserpegels.15 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts traten alle drei Jahre, zwischen 1799 und 1808 sogar jährlich, die Ufer über.16  Gerade während die Bevölkerungszahlen im 18. Jahrhundert rapid stiegen, mussten oftmals ganze Dörfer umgesiedelt werden.17

Die großflächige Übernutzung der Auenwälder in Form zunehmenden Kahlschlags begünstigte weitere Hochwasserkatastrophen, weil die Fluten immer mehr Angriffsflächen fanden.18 Der Auenwald lieferte den Rheinbewohnern wichtige Bau- und Brennstoffe.19 Anfälliges Weide- und Ackerland verdrängte zunehmend wasserabsorbierende Waldgebiete und resistentes Unterholz.20  Schon Forstwissenschaftler des 18. Jahrhunderts kritisierten die planlose Waldnutzung in Deutschland, die sich in Form gravierender Abholzungen und Umforstungen bemerkbar machte.21 Die Situation verschärfte sich noch als die jährlichen Hochwasser zu einer Anhebung des Flussbettes führten, da Sediment und Geschiebe vom Hochrhein flussaufwärts transportiert wurde und sich am Oberrhein ablagerten.22 Infolgedessen verbreiterten sich die überfluteten Gebiete immer mehr.23 Betrachtet man alle Faktoren ist es nicht verwunderlich, dass der Fluss in diesen Jahren 300 km² Auengebiete überschwemmte. 24

Die Bewohner des Oberrheins versuchten dem Hochwasser zu begegnen indem sie ständig versuchten die Wälle zu erhöhen und neue Uferabschnitte einzudeichen um damit den Rhein in ein schmaleres Bett zu zwingen.25 Das erhöhte aber nur das Zerstörungspotenzial des Hochwassers, da das Wasser bei einem Deichbruch nicht mehr so schnell abfließen konnte.26 Allein in den Jahren 1801 und 1802 brachen zwischen Kehl und Philippsburg sechsundzwanzig Dämme.27 Von den Rheinanwohnern durchgeführte Durchstiche einzelner Flussschlingen,  die den Zweck hatten den Druck an einer Stelle zu verhindern, erhöhten nur die Hochwassergefahr an einer anderen Stelle.28 Beispielsweise unternahm die Gemeinde Hördt Mitte des 18. Jahrhunderts einen Durchstich, der bewirkte, dass die Felder des auf der anderen Rheinseite gelegenen Dorfes Dettenheim überflutet wurden und der folglich den Niedergang Dettenheims bedeutete.29 Blackbourn schließt sich Tullas zeitgenössischem Standpunkt an, dass die lokalen Bemühungen um die Zähmung des Flusses planlos, wirkungslos und oft kontraproduktiv waren.30

Die Lage war Anfang des 19. Jahrhunderts jedenfalls unhaltbar geworden, viele Landschaften versumpften und Ortschaften mussten aufgegeben und verlegt werden.31 Besonders in den Jahrzehnten nach 1740 geriet fast jedes Dorf in der Mäanderzone mindestens einmal in große Gefahr vom Hochwasser verschluckt zu werden.32 Die großen Überschwemmungen und Zerstörungen 1816 und 1817 beschleunigten sodann die Umsetzung der Arbeiten nach Tullas Plänen, die mit dem ersten Durchstich bei Neupfotz 1817 begannen.33 Nach Meinung Tümmers war die Stunde Tullas gekommen, weil man schlicht vor der Wahl stand, ob „man entweder die Auen als Kulturlandschaft aufgab und sie wieder dem Rhein überließ, oder aber es musste eine tiefgreifende Verbesserung der Lage am Oberrhein eintreten“.34

Tullas großer Plan

Johann Gottfried Tulla

Ein 1822 formulierter Leitgedanke zeigt, wie Tulla sich den zukünftigen Wasserbau und die Gestalt der Flusslandschaften in Deutschland vorstellte: „In der Regel sollten in kultivierten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme Kanäle sein und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner sein.“35 Eine ungebändigte natürliche Flusslandschaft hatte nach den Vorstellungen Tullas im fortschrittsliebenden Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts nichts mehr verloren, und die deutschen Gewässer sollten keinen Naturgewalten mehr unterworfen sein. In einem „Zwischenspiel“ in der Schweiz 1809 verstärkte er den Wunsch in großem Maßstab zudenken, und erarbeitete erstmals einen Entwurf einer durchgehenden „Rektifikation“ des ungebärdigen Rheins.36

Das technische Wissen der deutschen Wasserbauingenieure war zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem sehr hohen Stand.37 Schon vor Tullas großen Plänen hatte man erfolgreich Flüsse der Norddeutschen Tiefebene, die Oder und Warte sowie Teile des Niederrheins mit seinen Nebenflüssen verkürzt, umgelenkt oder durch Schleusen unterbrochen.38 Ab dem 19. Jahrhundert konnten deutsche Fachleute ohne Hilfe holländischer Spezialisten diese Arbeiten verrichten, was sich beispielhaft an der Regulierung der Elbe unter der Mitwirkung Reinhard Woltmanns, den Tulla in Hamburg kennen lernte, zeigte.39 Norddeutschland war führend auf dem Gebiet des Wasserbaus, dennoch hatte man auch schon in Baden seit Jahrhunderten Deiche gebaut, Ufer befestigt und Durchstiche an Rhein und Murg vollzogen.40 „Viele der Durchstiche in Tullas letztendlicher Rektifikation des Rheins waren (bereits) früher als Einzelmaßnahmen vorgeschlagen worden“.41 Doch mit Tulla erstarkte das Bewusstsein das weitere und weitreichende Verbesserungen nötig waren und damit eine ganzheitliche Begradigung dieses Rheinabschnitts.42 „Es war (also) ihr Umfang und nicht diese oder jene besondere Neuerung die Tullas Pläne zu etwas Außergewöhnlichem, ja Aufsehen erregendem machte.“43

Skizze vom Plan der Rheinbegradigung im 19. Jhr.

Tulla verfasste 1812 eine Denkschrift, in der er generalsplanmäßig „die Grundsätze nach welchen die Rheinbauarbeiten künftig zu führen seyn möchten“  festlegte.44 Die darin enthaltenen Ziele liefen auf eine völlige Neugestaltung des Flussverlaufes hinaus.45 Tulla plante eine Korrektion des gesamten Oberrheins, der sich von Basel bis zur hessischen Grenze bei Worms auf 354 Kilometern erstreckt.46 Der Strom sollte nun in einem ungeteilten, zwischen 200 und 250 Metern gleichmäßig breiten Bett fließen.47 Das Flussbett würde mittels Durchstiche begradigt und durch Seitendämme derart eingeengt werden, so dass ein verkürzter und schneller fließender Strom sich selbst ein tieferes Bett graben würde.48 Die Tiefenerosion sollte den Grundwasserspiegel senken und somit die Oberrheinniederungen entwässern.49 Tullas Wunsch war es auf diese Weise die Rheinufergemeinden vor Überschwemmungen zu schützen, allgemein die Bewohnbarkeit des Rheintales zu sichern und zu verbessern und aus bisherigem Sumpfland wertvolles Kulturland zu gewinnen.50

Befürchtungen und Widerstände Preußens und der Niederlande, Länder mit großen Erfahrungen im Wasserbau, verwarf Tulla ebenso wie die Bedenken badischer Abgeordneter und anderer Fachleute.51 Ein zeitgenössischer Kritiker sprach von einem „gewagten Plan“, der „Katastrophen herbeiführen“ werde, als er auf die Gefahr schwerer Überschwemmungen an Mittel- und Niederrhein als Folgeerscheinung der Oberrheinkorrektion hinwies.52

Tulla verteidigte seine Rektifikation als „das einzige Rettungsmittel für die Rheinuferbewohner“. 53 Seine Kritiker waren „nicht vom Fach“, hatten „beschränkte Ansichten“ und einer war darunter „welcher vom Strombau nichts versteht“. 54 Einige Gemeinden am Rhein widersetzten sich dem Projekt in seinen Anfangsjahren, da sie befürchteten in Zeiten häufiger Missernten wertvolle Acker- und Waldflächen zu verlieren, so dass die Baumaßnahmen durch Soldaten geschützt werden mussten.55 Tulla warf den Verweigerern Ignoranz und engstirniges Eigeninteresse vor.56

Demnächst geht es weiter im Teil III  über die Begradigung des Rheins und ihre Auswirkungen im 19. Jahrhundert

 

Empfohlene Zitierweise:

Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (II). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Nachweis:

Bildquelle: Johann Gottfried Tulla, in: Der Große Herder, Band 11, 1931 und auf Wikipedia

Bildquelle: Skizze vom Plan der Rheinbegradigung im 19. Jhr., auf Wikipedia

 

Bibliographie:

 

  1. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 102.
  2. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 102-103.
  3. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 99-103.
  4. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 103.
  5. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 99.
  6. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 140.
  7. Vgl. Meurer, Rolf: Wasserbau und Wasserwirtschaft in Deutschland. Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 2000, S. 76.
  8. Vgl. Meurer, Rolf: Wasserbau und Wasserwirtschaft in Deutschland. Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 2000, S. 76.
  9. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000. S. 23.
  10. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000. S. 23 ; Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 103.
  11. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 23.
  12. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur., S. 103.
  13. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur., S. 103.
  14. Ebd. S. 104.
  15. Ebd. S. 104.
  16. Ebd. S. 104.
  17. Ebd. S. 99-103.
  18. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 143.
  19. Vgl. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2008, S. 103.
  20. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 104.
  21. Vgl. Geisthövel: Restauration und Vormärz, S. 103.
  22. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  23. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  24. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 104.
  25. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  26. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  27. Vgl. Hertweck, Georg: Die Geschichte des Rheinufers von den Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in: Rheinhafen Karlsruhe hrsg. von Ernst Bräuche (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd. 22), Karlsruhe 2001, S. 32.
  28. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 104.
  29. Ebd. S. 104-105.
  30. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 104-105. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 145.
  31. Vgl. Hertweck: Die Geschichte des Rheinufers, S. 31-32.
  32. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 105.
  33. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 145.
  34. Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  35. Siehe Tümmers: Der Rhein, S. 144.
  36. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 111.
  37. Ebd. S. 111-112.
  38. Ebd. S. 111.
  39. Ebd. S. 112.
  40. Ebd. S. 113.
  41. Ebd. S. 113.
  42. Ebd. S. 113.
  43. Ebd. S. 113.
  44. Ebd. S. 113.
  45. Ebd. S. 114.
  46. Ebd. S. 113.
  47. Ebd. S. 113-114.
  48. Vgl. Schwabe, Erich: Das große Werk der Rheinkorrektion, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992, S. 50.
  49. Vgl. Schwabe: Das große Werk der Rheinkorrektion, S. 50.
  50. Vgl. Meurer: Wasserbau und Wasserwirtschaft, S. 76-77.
  51. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 147. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 125-126.
  52. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 143.
  53. Ebd. S. 125.
  54. Ebd. S. 125.
  55. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 123-124.
  56. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 124.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/02/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-ii/

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (I)

Dieser Artikel widmet sich der Frage, in welchem Maße menschliche Eingriffe in vormals natürliche Flusslandschaften positive Auswirkungen aber langfristig auch negative Begleiterscheinungen hervorgerufen haben. Schon im 18. und 19. Jahrhundert fochten deutsche Wasserbauingenieure ihren Kampf um die Umsetzung ihrer Großprojekte und schon zu ihren Lebzeiten hatten sie mit Widerständen zu rechnen. Die Kritik an solchen Baumaßnahmen ist kein ein modernes Phänomen.

So diskutieren Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen auch noch heutzutage über die Vor- und Nachteile eines schon lange umgesetzten Wasserbauprojekts, der so genannten Oberrheinkorrektion, die im 19. Jahrhundert nach den Plänen und durch die Tatkraft des badischen Wasserbauingenieurs Johann Gottfried Tulla1 erfolgte und die den Flusslauf und damit auch die Oberrheinlandschaft nachhaltig veränderte. Der Wunsch aller Kritiker an diesem Großprojekt läuft auf eine Umkehrung der damals begonnen Prozesse hinaus. Horst Tümmers vermerkt hierzu in seinem Buch „Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte“: „Die Lage, die ‚vor Tulla’ bestand, die Tulla hatte bessern wollen, sucht den Oberrhein‚ nach Tulla’ wieder heim.“2 Es ist das Ziel dieses Artikels zu überprüfen, ob und inwieweit diese Kritik gerechtfertigt ist.

Erste Schritte einer „Renaturierung“ sind zwar bereits erfolgt, doch die Meinungen differieren bei den Fragen, inwieweit diese Korrektion wieder rückgängig gemacht und welche Folgeerscheinungen mit welchen Mitteln korrigiert werden sollten. Der Artikel beschäftigt sich dennoch nicht nur mit den zahlreichen Kritikpunkten am Werk Tullas, sondern auch mit den sich aus der Oberrheinbegradigung ergebenen Möglichkeiten und Errungenschaften. Sein Großprojekt soll vor dem Hintergrund weiterer Ausbaumaßnahmen und langfristiger Veränderungen der oberrheinischen Kulturlandschaft bewertet werden.

Eine wertvolle Auenlandschaft oder unkultiviertes Sumpfgebiet?

Ein Zitat Friedrich Schillers aus dem Jahre 1801 belegt, dass Deutsche schon in Zeiten vor Tullas Oberrheinkorrektion die Schönheit einer natürlichen Landschaft preisen, wohingegen eine gezähmte, der Natur entrissene Landschaft jedenfalls von Schiller als geistlos und trostlos beschrieben wird:

 Wer verweilt nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens? Wer bestaunt nicht lieber den wunderbaren Kampf zwischen Fruchtbarkeit und Zerstörung in Siciliens Fluren, weidet sein Auge nicht lieber an Schottlands wilden Katarakten und Nebelgebirgen […] als dass er in dem schnurgerechten Holland den sauren Sieg der Geduld über das trotzigste der Elemente bewundert?3

 Besonders die Kultivierung der vormals „wildschönen“ holländischen Wasser- und Sumpflandschaften scheint Schiller gestört zu haben. Negative Bemerkungen über menschliche Eingriffe in ein natürliches Ökosystem  lassen sich also schon Jahrzehnte vor der Begradigung des südlichen Rheins feststellen. Aber die unberührte Schönheit ihrer Rheinniederungen kann nicht das Hauptanliegen der Oberrheinbewohner des 19. Jahrhunderts gewesen sein.

Die Oberrheinniederungen vor der Flusskorrektion

Der Rhein
Der Rhein

Bis zur Bändigung durch Tulla floss der Oberrhein nicht durch ein einziges, festgelegtes Bett.4 Der südliche Teil der Oberrheinebene, der Abschnitt von Basel bis nach Straßburg, bildete aufgrund seiner mehrfachen Gabelung und des verästelten Flusslaufs eine Furkationszone.5 Ein Hauptarm des Flusses ist nicht zu erkennen.6  Hier grub sich der Fluss unzählige Rinnen, die durch Kies- und Sandbänke voneinander abgetrennt waren. 7 Ein Zyklus von Hoch- und Niedrigwasser schuf in Jahrtausenden ein Labyrinth von Wasserarmen und bewaldeten Inseln. 8 Insgesamt befanden sich im heutigen badischen Rheinabschnitt 2200 Inseln, die große Mehrheit zwischen Basel und Straßburg.9 Der Rhein des frühen 19. Jahrhunderts erinnert Blackbourn beim Betrachten des zeitgenössischen Gemäldes von Peter Birmann „Blick vom Isteiner Klotz rheinaufwärts gegen Basel“ an „eine Serie von Lagunen, eine ausgedehnte, verwirrende Wasserlandschaft“.10

Zwischen Straßburg und Karlsruhe ging die Furkationszone des Oberrheins langsam in eine Mäanderzone über, in der der Fluss sich in großen Schlingen und Schleifen gemächlich durch seine Ebene wand.11 „Er floss hier (zwischen Karlsruhe und Speyer) wie ein einziger Strom, doch immer noch nicht in einem einzigen Bett.“12  Sein Hauptbett wurde von beiden Seiten von den Windungen früherer Hauptrinnen flankiert, den so genannten Altwassern oder Altrheinarmen.13 Blackbourn erinnert dieses Panorama an das „wilde Haupt der Medusa“.14 An manchen Stellen und zu manchen Zeiten erstreckte sich das Flusstal in einer Breite von bis zu 40 Kilometern.15

Das Oberrheingebiet war vor den Eingriffen im 19. Jahrhundert in seinen Flussniederungen eine feuchte Auenlandschaft. 16  Diese Auen wurden periodisch überschwemmt, waren aber erfüllt von einer Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten. 17 Die Auen wiesen Wasser-, Wald- und Sumpfgebiete auf, in denen üppig wuchernde Schlinggewächse, etliche Baumsorten, eine reiche Vogelwelt und großer Fischreichtum das Bild bestimmten.18 „Zur Besiedelung taugte das Gebiert der Rheinniederungen, der periodischen, weiträumigen Überschwemmungen wegen, (eigentlich) wenig.“19Tümmers führt kritisch an, dass der Mensch den Lebensbedingungen an den Flussniederungen eigentlich nicht gewachsen ist und trockene Standorte besiedeln sollte.20 „Solange er sich diesen Gesetzen fügte (bis zur Verwirklichung von Tullas Rheinkorrektion), blieb die Natur im Gleichgewicht und beschenkte ihn mit ihrem Reichtum“.[21.Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 155-156.] Aber der vom Rheinschlick bedeckte Boden ist sehr fruchtbar, und sein Fischreichtum und sein reiches Schwemmland verlockte Menschen immer wieder dazu diesen Landstreifen zu besiedeln.21 Besonders im Hochmittelalter kam es zu einer zunehmenden Besiedlung der  Rheinauen.22 Die Bevölkerungszahlen stiegen, die Siedlungsdichte nahm zu und Rodungen verschafften zusätzliches Kulturland.23 Aus kleineren Hauen- und Straßendörfern entwickelten sich Mittel- und Kleinstädte wie Breisach und Neuenburg, die sich in unmittelbarer Nähe zum Fluss befanden.24 Bedeutende mittelalterliche Städte wie Basel, Straßburg, Speyer, Worms oder Mainz liegen  am Oberrhein.25 Das oberrheinische Tiefland profitierte von seiner günstigen Lage inmitten der großen Handelsströme des Hoch- und Spätmittelalters.26 Rheinschiffer, Fuhrleute sowie die aufstrebenden Handelsstädte waren die großen Gewinner dieser Entwicklungen.27

 

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Empfohlene Zitierweise:

Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (I). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Nachweis:

Bildquelle: Die Karte wurde erstellt von Daniel Ullrich (Threedots) und ist auf Wikipedia zu finden.

Bibliographie:

  1. Geboren 1770 in der kleinen Markgrafschaft Baden- Durlach. Studierte Mathematik, Trigonometrie und Geometrie in Karlsruhe mit praktischen Grundlagen in Mechanik, „Feldmesskunst“ und Zeichnen von Baurissen. Studierte auch Wasserbau und Hydrologie. Reiste viel, u.a nach Hamburg und Skandinavien um sich im Auftrage Badens Wissen über Wasserbauprojekte (Schleusen, Uferbefestigungen, Pumpenanlagen) anzueignen. Zudem war er noch im „Mekka aller künftiger Wasserbauingenieure“, der Niederlande. 1797 wurde er zum markgräflichen Ingenieur ernannt, zuständig für Wasserbauten am Rhein. Ab 1803 Oberingenieur; ein Jahr später war er für den gesamten Flussbau in Baden zuständig. „Bändiger des wilden Rheins“. Gestorben 1828 in Paris. Siehe hierzu: Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006, S. 105-115.
  2. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994, S. 158.
  3. Schiller, Friedrich: Kleinere prosaische Schriften von Schiller. Aus mehreren Zeitschriften vom Verfasser selbst gesammelt und verbessert, 3. Teil, Leipzig 1801, S. 27.
  4. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  5. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  6. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  7. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  8. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  9. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 26.
  10. Siehe Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  11. Vgl. Schenker; Andre: Naturraum und Auenökologie: Naturräumliche Gegebenheiten am Oberrhein, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992, S. 5.
  12. Siehe Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100.
  13. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100-101.
  14. Siehe Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100-101.
  15. Ebd. S. 101.
  16. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 140.
  17. Ebd. S. 140-141.
  18. Ebd. S. 141.
  19. Ebd. S. 139.
  20. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 155-156.
  21. Ebd. S. 139-141.
  22. Vgl. Schwabe, Erich: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992, S. 43.
  23. Vgl. Schwabe: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, S. 43.
  24. Ebd. S. 43 u. S. 46.
  25. Ebd. S. 43.
  26. Ebd. S. 46.
  27. Ebd. S. 46.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/02/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-i/

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Der lange Schatten des Imperialismus

Ein Dokumentarfilm der amerikanischen Regisseurin Pippa Scott zeigt die Funktionsweise der Ausbeutung von Natur und Bevölkerung im Kongo seit der Kolonialherrschaft des belgischen Königs Leopolds II. Auf youtube ist der Film in 11 Teilen abzurufen:

„Schatten über dem Kongo. Schreckensgeister der Kolonialherrschaft“, USA 2008, R: Pippa Scott, Buch: Pippa Scott, Adam Hochschild

Ruandische Minenarbeiten in Katanga, Belgisch-Kongo, 1925; Wikimedia Commons

Das Drehbuch basiert auf einen Buch des Journalisten Adam Hochschild (Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, Stuttgart 2000). Mit reichlich zeitgenössischem Bild- und Filmmaterial verbindet der Film die Geschichte kolonialer Ausbeutung und öffentlicher Wahrnehmung in Europa. Er endet nicht mit der Übergabe der Kolonie an den belgischen Staat, sondern zieht die Verbindung zur Dekolonisation, der Ermordung des demokratischen Präsidenten Patrice Lumumba, zum bis heute andauernden Bürgerkrieg und der gegenwärtigen Ausbeutung von Metallen und ‚seltenen Erden‘ durch War Lords und westliche Bergbaukonzerne. Beeindruckend, erschreckend und ausführlich recherchiert analysiert der Film die Zusammenhänge von Kolonialismus, Globalisierung und die verflochtenen Lebenswelten im Kongo und in den alten wie neuen Metropolen in Amerika, Europa und Asien.


Einsortiert unter:Geschichte, Globalgeschichte, Kolonialismus, Umweltgeschichte

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2011/10/17/der-lange-schatten-des-imperialismus/

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