Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV)

Der Oberrhein des 20. und 21. Jahrhunderts

Das heutige Oberrheingebiet

Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts bedeutete die Korrektion dennoch ein Segen.1 Aus der Sicht Alexa Geisthövels löste sie aber langfristig gravierende Umweltschäden aus.2 In Beiträgen der Landesanstalt für Naturschutz Baden- Württemberg wird die drastische Umgestaltung der Landschaftsstruktur und Naturhaushalt seit Tulla ersichtlich.3 Aus der früheren Wildstromlandschaft ist durch die starke Absenkung des Grundwasserspiegels die „Steppe am Oberrhein“ geworden.4 „Großflächig und dauerhaft breiteten sich Trockenstandorte aus.“5 Stehende Gewässer trockneten aus.6 85% der feuchten Oberrheinauen verschwanden.7 Schon im 19. Jahrhundert wurden große Flächen trocken gelegt und einer landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt.8 Mit dem Verlust an Auenwald, Sümpfen und Feuchtwiesen reduzierte sich auch die Anzahl der Pflanzen- und Tierarten, deren Platz oftmals von „eingeschleppten Arten“ übernommen wurde.9

Eine weitere Denaturierung der Rheinufer erfolgte durch den Bau der Rheintalautobahn, von Kiesgruben und einer Kreismülldeponie.10 Große Industriekomplexe sowie ein Kernkraftwerk auf elsässischer Seite vervollständigen das Bild des modernen südlichen Oberrheins.11 Im ehemaligen Überflutungsraum liegen heute etliche Gemeinden, Industrie- und Verkehrsanlagen oder Abraumhalden.12 Bei Basel und mit seinen Chemiekonzernen beginnt die Verschmutzung des Rheins, die sich mit den elsässischen Industriekomplexen, einschließlich Chemischer Großindustrie und Müllverbrennungsanlagen bei Straßburg/Kehl, fortsetzt.13

Charakteristisch für das deutsche Ufer sind seine großen Wein-, Mais- und Weizenanbauflächen.14 Blackbourn schildert die heutige Oberrheinebene als „blühender Garten“ mit reich kultivierten Feldern. 15 Er sieht aber auch, dass Düngemittel als Abfallsprodukt des „blühenden Gartens“ den Fluss zusätzlich verunreinigten.16 Die winzigen Überreste der alten Auenwälder hingegen verzaubern ihn.17

Weitere Eingriffe im späten  20. Jahrhundert

Die kultivierte Agrarlandschaft der südlichen Oberrheinebene bewegt viele deutsche Autoren zu einem wehmütigen Rückblick in die Zeit vor den Korrektionen des 19. Jahrhunderts.18 Das Gemälde Peter Birmanns gehört hierbei zum Standard jeder Oberrheinauen Beschreibung.19

Es waren aber die Eingriffe des 20. Jahrhunderts, die dem Oberrhein erst endgültig seinen Wildstromcharakter nahmen und einen enormen Verlust an Auenfläche zur Folge hatten.20

Tullas Nachfolger erreichten, dass bis Ende des 20. Jahrhunderts die Nebenarme des alten Rheins fast vollständig gesperrt waren, so dass kein Wasser in den Rhein mehr einfließen konnte.21 Zudem bauten sie die Deiche kontinuierlich aus.22 Vor allem bei der Rheinregulierung nach den Plänen Honsells wurde der Strom noch einmal eingeengt um durch eine erhöhte Fließgeschwindigkeit und Tiefenerosion eine größere Fahrtiefe zu erhalten.23 Durch so genannte Querbauten suchte man eine bestimmte Mindestbreite und –tiefe des Fahrwassers sicherzustellen.24

Die natürlichen Kräfte des Ökosystems hätten aber trotz der Eingriffe durch Tullas Korrektion und Honsells Niederwasserregulierung ein bedingt ökologisches Gleichgewicht wiederherstellen können, „was der Landschaft aber in den letzten 60 Jahren angetan worden ist, stellt das Vorhergegangene in den Schatten und hat die natürliche Landschaft zerstört.“25

Der Bau und Ausbau des „Grand Canal d’ Alsace“ als geschlossenen Rheinseitenkanal erfolgte zwischen 1928 und 1955.26 Um Elektrizität zu gewinnen, wird das Wasser aus dem Rhein in diese „Betonrinne“ geleitet und Flusskraftwerken zugeführt.27 „Der „Canal d’Alsace“ hat dem Rhein das Wesen genommen. Aus dem reißenden Strom ist ein müder Fluss geworden.“28 „Die Schalthebel der Wehre entscheiden, ob der Rhein ein Fluss, ein Bach oder ein Rinnsal ist.“29 Das ökologische Ergebnis aller Ausbaumaßnahmen ist die heutige Trockenaue.30 Das ökonomische Ergebnis ist die sehr teure Nachschüttung von Kies, die so genannte „Geschiebezugabe“, um die schon kurz nach Tullas Tod überschrittene optimale Tiefenmarke der Sohlenerosion zu stoppen, die die Fundamente der Ufer- und Strombauwerke, die Häfen sowie Land- und Forstwirtschaft gefährden.31

Weitere Bauten von Kraftwerksstaustufen nach dem Zweiten Weltkrieg im seitlich betonierten Kanal und im alten Rheinbett beschleunigten die Austrocknung des Oberrheingebiets.32 All diese „Nach- Tulla- Arbeiten“ erhöhten aber die Gefahr eines Katastrophenhochwassers am Mittel- und Niederrheingebiet um ein Vielfaches, da der Fluss am Oberrhein bei Hochwasser nicht mehr ausufern kann und das Wasser in seiner schmalen, geraden „Rinne“ eine enorme Beschleunigung erfährt, dessen Auswirkungen die Städte flussabwärts, vor allem Mannheim und Köln, vermehrt zu spüren bekommen.33

Aussicht und Fazit

Um dem Hochwasser am Mittel- und Niederrhein beizukommen, legte das Land Baden- Württemberg im Jahr 1988 sein „Integriertes Rheinprogramm“ (IRP) vor.34 In diesem Programm wurden zwei Ziele festgelegt: 1. Die Widerherstellung des Hochwasserschutzes und 2. Die Erhaltung und Renaturierung der Auenlandschaft am Oberrhein.35 Im Jahr 1997 beschlossen die verschiedenen Landesanstalten eine Tieferlegung von Vorlandflächen auf einem ca. 90 Meter breiten Streifen um Hochwasserrückhaltebecken (so genannte Polder) zu gewinnen, und eine Auenrenaturierung voranzutreiben.36

Bei allem Enthusiasmus vieler Autoren für eine Renaturierung der feuchten Auen darf man nicht vergessen, dass nennenswerte Flächenanteile von Trockenstandorten in der Wildstromaue auch schon in der „Vor-Tulla-Zeit“ vorhanden waren und der Artenbestand in der Trockenaue trotz der Ausbaumaßnahmen weitestgehend ursprünglich geblieben ist.37 Viele Schriftsteller schwärmen in ihren Darstellungen bevorzugt von den feuchten Auenbereichen vor den großen Ausbaumaßnahmen, übersehen dabei aber häufig den überragenden Wert der Flora und Fauna der trockengefallenen Rheinauen am südlichen Oberrhein, einem der wärmsten Gebiete Deutschlands.38 Die Beiträge der Landesanstalt für Umweltschutz sprechen von einem in Deutschland einmaligen Landschaftraumsraum, „der auf großer Fläche höchst seltene und wertvolle Biotypen […] und eine Fülle bemerkenswerterte Tier- und Pflanzenarten“ aufweist.39

Wertvolle Trockenbiotope sollten aus Sicht heutiger Umweltschützer nicht einfach durch Auenbiotope ersetzt werden.40 Der Schutz und die Entwicklung nicht beanspruchter Trockenauenbereiche und die Generation von Feuchtauenbiotopen müssen gleichzeitig gefördert werden.[41.Vgl. Meineke. S. 487.]

Tullas Oberrheinkorrektion kann nicht allein mit heutigen Maßstäben bewertet werden. Sein Traum war eine verbesserte Lebensbedingung der Oberrheinanwohner. Zwar haben schon einige Zeitgenossen vor den kommenden negativen Auswirkungen gewarnt, für die Menschen des 19. Jahrhunderts aber war sein Großprojekt ein Segen in schwierigen Zeiten. Unter den damaligen Bedingungen war eine umfassende Lösung „alternativlos“, ansonsten hätte man die Rheinauen als Siedlungsgebiet aufgeben müssen.

Tullas Großprojekt half außerdem mit den neuen badischen Staat entlang seiner Hauptschlagader zu integrieren. Welch ökologische Spätfolgen seine „Rectification“ mit sich brachte, konnte er zum einen noch nicht vollständig vorhersehen, zum anderen waren es erst die Ausbaumaßnahmen seiner Nachfolger und die Bauarbeiten des 20. Jahrhunderts, die den Oberrhein in einen Kanal und somit in eine Bedrohung für die stromabwärts gelegenen Städte verwandelte. Für die „Versteppung“ des Oberrheingebiets zeichnet sich Tulla ebenso nicht allein verantwortlich.

Die Kultivierung und industrielle Erschließung des Oberrheinraumes ist zudem nicht per se ein negatives Faktum. Sie ermöglichen nicht nur eine gute Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten, sondern schufen auch eine Vielzahl an Arbeitsplätzen. Mit der „Zivilisation“ begann zwar auch die Verschmutzung des Oberrheingebiets, aber auch die Erschließung des Verkehrswegs Fluss. Am Anfang war Tullas Idee, aber erst die weitreichenden folgenden Ausbaumaßnahmen ermöglichten die Schiffbarkeit und die Industrialisierung des Rheins mit all seinen negativen und positiven Folgen. Mit dem Ende alter Lebenswelten beginnt aber auch immer etwas Neues. Tullas Traum stand also am Anfang eines langen Prozesses der Kultivierung des Gebietes und der Kanalisierung des Rheins. Mit Tulla änderten sich Denkhorizonte. Seine „Nachfolger“ im Wasserbau setzten da an, wo Tulla aufgehört hatte. Was vorher unmöglich erschien, war denkbar geworden. Dies ist sein Verdienst aber auch die Hauptkritik an seinem Schaffen.

 

Empfohlene Zitierweise:Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

 

  1. Vgl. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2008. S. 102-103.
  2. Ebenda.
  3. Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  4. Siehe Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  5. Siehe Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  6. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 143.
  7. Ebd. S. 139.
  8. Ebd. S. 139.
  9. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 139-140
  10. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  11. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  12. Vgl. Huppmann, Othmar/ Pfarr, Ulrike/ Staber, Herbert-Michael: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein zwischen Basel und Breisach- Hochwasserschutz und Naturschutz Hand in Hand, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 37.
  13. Vgl. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 158-171.
  14. Ebd. S. 171-184.
  15. Siehe. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 129.
  16. Ebd. S. 141.
  17. Ebd. S. 139-140.
  18. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000. S. 25
  19. Ebenda S. 26.
  20. Ebenda S. 25.
  21. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 144-145.
  22. Ebd. S. 145.
  23. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  24. Schwabe, Erich: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992. S. 53.
  25. Siehe Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  26. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 24.
  27. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  28. Siehe  Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  29. Siehe Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  30. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein, S. 37.
  31. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148 u. S. 154-155.
  32. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  33. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  34. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  35. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  36. Ebd, S. 40-45.
  37. Vgl. Meineke, Jörg-Uwe/ Ostermann, Alexander/ Jehle, Peter: Naturschutz in der Trockenaue. Erhalten und Gestalten, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 483. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15.
  38. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15-18.
  39. Siehe Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  40. Vgl. Meineke. S. 487.

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (I)

Dieser Artikel widmet sich der Frage, in welchem Maße menschliche Eingriffe in vormals natürliche Flusslandschaften positive Auswirkungen aber langfristig auch negative Begleiterscheinungen hervorgerufen haben. Schon im 18. und 19. Jahrhundert fochten deutsche Wasserbauingenieure ihren Kampf um die Umsetzung ihrer Großprojekte und schon zu ihren Lebzeiten hatten sie mit Widerständen zu rechnen. Die Kritik an solchen Baumaßnahmen ist kein ein modernes Phänomen.

So diskutieren Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen auch noch heutzutage über die Vor- und Nachteile eines schon lange umgesetzten Wasserbauprojekts, der so genannten Oberrheinkorrektion, die im 19. Jahrhundert nach den Plänen und durch die Tatkraft des badischen Wasserbauingenieurs Johann Gottfried Tulla1 erfolgte und die den Flusslauf und damit auch die Oberrheinlandschaft nachhaltig veränderte. Der Wunsch aller Kritiker an diesem Großprojekt läuft auf eine Umkehrung der damals begonnen Prozesse hinaus. Horst Tümmers vermerkt hierzu in seinem Buch „Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte“: „Die Lage, die ‚vor Tulla’ bestand, die Tulla hatte bessern wollen, sucht den Oberrhein‚ nach Tulla’ wieder heim.“2 Es ist das Ziel dieses Artikels zu überprüfen, ob und inwieweit diese Kritik gerechtfertigt ist.

Erste Schritte einer „Renaturierung“ sind zwar bereits erfolgt, doch die Meinungen differieren bei den Fragen, inwieweit diese Korrektion wieder rückgängig gemacht und welche Folgeerscheinungen mit welchen Mitteln korrigiert werden sollten. Der Artikel beschäftigt sich dennoch nicht nur mit den zahlreichen Kritikpunkten am Werk Tullas, sondern auch mit den sich aus der Oberrheinbegradigung ergebenen Möglichkeiten und Errungenschaften. Sein Großprojekt soll vor dem Hintergrund weiterer Ausbaumaßnahmen und langfristiger Veränderungen der oberrheinischen Kulturlandschaft bewertet werden.

Eine wertvolle Auenlandschaft oder unkultiviertes Sumpfgebiet?

Ein Zitat Friedrich Schillers aus dem Jahre 1801 belegt, dass Deutsche schon in Zeiten vor Tullas Oberrheinkorrektion die Schönheit einer natürlichen Landschaft preisen, wohingegen eine gezähmte, der Natur entrissene Landschaft jedenfalls von Schiller als geistlos und trostlos beschrieben wird:

 Wer verweilt nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens? Wer bestaunt nicht lieber den wunderbaren Kampf zwischen Fruchtbarkeit und Zerstörung in Siciliens Fluren, weidet sein Auge nicht lieber an Schottlands wilden Katarakten und Nebelgebirgen […] als dass er in dem schnurgerechten Holland den sauren Sieg der Geduld über das trotzigste der Elemente bewundert?3

 Besonders die Kultivierung der vormals „wildschönen“ holländischen Wasser- und Sumpflandschaften scheint Schiller gestört zu haben. Negative Bemerkungen über menschliche Eingriffe in ein natürliches Ökosystem  lassen sich also schon Jahrzehnte vor der Begradigung des südlichen Rheins feststellen. Aber die unberührte Schönheit ihrer Rheinniederungen kann nicht das Hauptanliegen der Oberrheinbewohner des 19. Jahrhunderts gewesen sein.

Die Oberrheinniederungen vor der Flusskorrektion

Der Rhein
Der Rhein

Bis zur Bändigung durch Tulla floss der Oberrhein nicht durch ein einziges, festgelegtes Bett.4 Der südliche Teil der Oberrheinebene, der Abschnitt von Basel bis nach Straßburg, bildete aufgrund seiner mehrfachen Gabelung und des verästelten Flusslaufs eine Furkationszone.5 Ein Hauptarm des Flusses ist nicht zu erkennen.6  Hier grub sich der Fluss unzählige Rinnen, die durch Kies- und Sandbänke voneinander abgetrennt waren. 7 Ein Zyklus von Hoch- und Niedrigwasser schuf in Jahrtausenden ein Labyrinth von Wasserarmen und bewaldeten Inseln. 8 Insgesamt befanden sich im heutigen badischen Rheinabschnitt 2200 Inseln, die große Mehrheit zwischen Basel und Straßburg.9 Der Rhein des frühen 19. Jahrhunderts erinnert Blackbourn beim Betrachten des zeitgenössischen Gemäldes von Peter Birmann „Blick vom Isteiner Klotz rheinaufwärts gegen Basel“ an „eine Serie von Lagunen, eine ausgedehnte, verwirrende Wasserlandschaft“.10

Zwischen Straßburg und Karlsruhe ging die Furkationszone des Oberrheins langsam in eine Mäanderzone über, in der der Fluss sich in großen Schlingen und Schleifen gemächlich durch seine Ebene wand.11 „Er floss hier (zwischen Karlsruhe und Speyer) wie ein einziger Strom, doch immer noch nicht in einem einzigen Bett.“12  Sein Hauptbett wurde von beiden Seiten von den Windungen früherer Hauptrinnen flankiert, den so genannten Altwassern oder Altrheinarmen.13 Blackbourn erinnert dieses Panorama an das „wilde Haupt der Medusa“.14 An manchen Stellen und zu manchen Zeiten erstreckte sich das Flusstal in einer Breite von bis zu 40 Kilometern.15

Das Oberrheingebiet war vor den Eingriffen im 19. Jahrhundert in seinen Flussniederungen eine feuchte Auenlandschaft. 16  Diese Auen wurden periodisch überschwemmt, waren aber erfüllt von einer Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten. 17 Die Auen wiesen Wasser-, Wald- und Sumpfgebiete auf, in denen üppig wuchernde Schlinggewächse, etliche Baumsorten, eine reiche Vogelwelt und großer Fischreichtum das Bild bestimmten.18 „Zur Besiedelung taugte das Gebiert der Rheinniederungen, der periodischen, weiträumigen Überschwemmungen wegen, (eigentlich) wenig.“19Tümmers führt kritisch an, dass der Mensch den Lebensbedingungen an den Flussniederungen eigentlich nicht gewachsen ist und trockene Standorte besiedeln sollte.20 „Solange er sich diesen Gesetzen fügte (bis zur Verwirklichung von Tullas Rheinkorrektion), blieb die Natur im Gleichgewicht und beschenkte ihn mit ihrem Reichtum“.[21.Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 155-156.] Aber der vom Rheinschlick bedeckte Boden ist sehr fruchtbar, und sein Fischreichtum und sein reiches Schwemmland verlockte Menschen immer wieder dazu diesen Landstreifen zu besiedeln.21 Besonders im Hochmittelalter kam es zu einer zunehmenden Besiedlung der  Rheinauen.22 Die Bevölkerungszahlen stiegen, die Siedlungsdichte nahm zu und Rodungen verschafften zusätzliches Kulturland.23 Aus kleineren Hauen- und Straßendörfern entwickelten sich Mittel- und Kleinstädte wie Breisach und Neuenburg, die sich in unmittelbarer Nähe zum Fluss befanden.24 Bedeutende mittelalterliche Städte wie Basel, Straßburg, Speyer, Worms oder Mainz liegen  am Oberrhein.25 Das oberrheinische Tiefland profitierte von seiner günstigen Lage inmitten der großen Handelsströme des Hoch- und Spätmittelalters.26 Rheinschiffer, Fuhrleute sowie die aufstrebenden Handelsstädte waren die großen Gewinner dieser Entwicklungen.27

 

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Empfohlene Zitierweise:

Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (I). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Nachweis:

Bildquelle: Die Karte wurde erstellt von Daniel Ullrich (Threedots) und ist auf Wikipedia zu finden.

Bibliographie:

  1. Geboren 1770 in der kleinen Markgrafschaft Baden- Durlach. Studierte Mathematik, Trigonometrie und Geometrie in Karlsruhe mit praktischen Grundlagen in Mechanik, „Feldmesskunst“ und Zeichnen von Baurissen. Studierte auch Wasserbau und Hydrologie. Reiste viel, u.a nach Hamburg und Skandinavien um sich im Auftrage Badens Wissen über Wasserbauprojekte (Schleusen, Uferbefestigungen, Pumpenanlagen) anzueignen. Zudem war er noch im „Mekka aller künftiger Wasserbauingenieure“, der Niederlande. 1797 wurde er zum markgräflichen Ingenieur ernannt, zuständig für Wasserbauten am Rhein. Ab 1803 Oberingenieur; ein Jahr später war er für den gesamten Flussbau in Baden zuständig. „Bändiger des wilden Rheins“. Gestorben 1828 in Paris. Siehe hierzu: Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006, S. 105-115.
  2. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994, S. 158.
  3. Schiller, Friedrich: Kleinere prosaische Schriften von Schiller. Aus mehreren Zeitschriften vom Verfasser selbst gesammelt und verbessert, 3. Teil, Leipzig 1801, S. 27.
  4. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  5. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  6. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  7. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  8. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  9. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 26.
  10. Siehe Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 100.
  11. Vgl. Schenker; Andre: Naturraum und Auenökologie: Naturräumliche Gegebenheiten am Oberrhein, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992, S. 5.
  12. Siehe Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100.
  13. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100-101.
  14. Siehe Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 100-101.
  15. Ebd. S. 101.
  16. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 140.
  17. Ebd. S. 140-141.
  18. Ebd. S. 141.
  19. Ebd. S. 139.
  20. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 155-156.
  21. Ebd. S. 139-141.
  22. Vgl. Schwabe, Erich: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992, S. 43.
  23. Vgl. Schwabe: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, S. 43.
  24. Ebd. S. 43 u. S. 46.
  25. Ebd. S. 43.
  26. Ebd. S. 46.
  27. Ebd. S. 46.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/02/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-i/

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