Gymnasialbibliothek

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen die zum Teil seit dem 16. Jahrhundert überkommenen höheren Bildungsanstalten – vormals hervorgegangen aus Klöstern oder gegründet nach fürstlichem, aber auch städtisch-protestantischem Willen – nicht mehr hinreichend für die modernen Zeiten, in denen die technische und gesellschaftliche Entwicklung eine weiter gestreute höhere Schulbildung erforderte. Man gründete, insbesondere zwischen den 1860er und 1890er Jahren, die modernen, sogenannten „Realgymnasien“, in denen Latein, aber nicht mehr das Griechische, dafür aber die Naturwissenschaften gelehrt wurden und aus denen der heutige Schultyp „Gymnasium“ hervorgegangen ist. Alle diese Aberhunderte von Gymnasien im Land besaßen Bibliotheken, die alten Anstalten seit dem 16. Jahrhundert sogar Sammlungen von 30.000 und mehr Exemplaren. Gleichwohl sind „Gymnasialbibliotheken“ heute nahezu unbekannt. Kaum ein Gymnasium besitzt noch seine Buchsammlung aus vergangenen Jahrhunderten. Wo sind diese Bibliotheken mit insgesamt Millionenbeständen geblieben?

Seit dem 16. Jahrhundert waren die Gymnasialbibliotheken, vor allem im Norden, auch die Stadtbibliotheken, die neben den Rats- und Kirchenbibliotheken mit deren juristischen bzw. theologischen Schwerpunkten nicht nur den Schülern und Lehrern, sondern auch den Bürgern den Wissensbedarf nach der Philologie erfüllten. Die Bildungsidee folgte den Humanisten des späten 15. Jahrhunderts: „ad fontes“, zu den Quellen. Spätestens im 19. Jahrhundert bezogen einige dieser Bibliotheken eigene Häuser und wurden als „Stadtbibliothek“ geführt. So basiert zum Beispiel die Stadtbibliothek Lübeck seit dem 17. Jahrhundert auf den Beständen der Bibliothek des Katharineums, des alten Gymnasiums der Hansestadt. Die Stadt- und Universitätsbibliothek Köln hält die Bibliothek des alten Kölner Gymnasiums, seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Kölner Stadtbibliothek, heute als ausgewiesene Sondersammlung.

In den 1920er Jahren ließen wiederholt Gymnasien ihre alten Buchbestände in die nächsten größeren Bibliotheken bringen; die Neuordnung des Schulwesens nach dem Ersten Weltkrieg, aber insbesondere die Knappheit der finanziellen Mittel in den späten 1920er Jahren gaben die Motivation. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen Zuge auch Gymnasialbibliotheken zerstört worden waren, wurde viele Sammlungen vor dem Zugriff der anrückenden Truppen, vor allem im Osten Deutschlands, versteckt. Der Fall der Bibliothek des Stralsunder Gymnasiums, gegründet 1560, die 1945 bei Nacht und Nebel ins städtische Archiv verbracht worden war, erhielt Aufmerksamkeit dadurch, dass das Stadtarchiv Stralsund im Jahr 2012 diese Bestände in den Handel gab.

Seit den frühen 1950er Jahren bis etwa 1970 fanden auch im Westen Abgaben der gymnasialen Buchsammlungen an die Stadt- Landes- und Staatsbibliotheken oder die örtlichen Archive statt; die Neuordnung des gymnasialen Schulwesens hatte keinen Bedarf an Erinnerung ihrer historischen Zeiten; man brauchte Platz und hatte keine Kapazitäten frei für die Erfassung überkommener Bestände. Ein Beispiel dafür ist die Bibliothek des Bismarckgymnasiums Karlsruhe, einer markgräflichen Gründung von 1586, deren wertvolle Altbestände zwischen 1953 und 1970 ihren Weg in die Badische Landesbibliothek fanden. Das Bibliothekswesen erfasste diese Bestände landauf landab nahezu durchweg ohne jeden Provenienzhinweis und ordnete sie ins Magazin ein; die Digitalisierung der Kataloge seit 2004 erfolgte zumeist anhand der Zettelkataloge, ohne die Exemplare aufzusuchen.

Einige Gymnasialbibliotheken „leben“ noch an ihren angestammten Orten; viele von den verbliebenen überdauerten indes nicht selten vergessen auf Dachböden oder in Kellern. Seit den 1990er Jahren fanden sie zögerlich wieder Beachtung und es stellte sich heraus, dass sie durchweg viel Geld kosten, wofür indes weder der Staat noch die Kommunen und die Länder einen Haushaltstitel haben. Sie werden deshalb meistens von engagierten Lehrern, Schülern, Eltern und Bürgern saniert, gepflegt und behütet, die indes nicht selten gar keine Vorstellung davon haben (haben können), welch einen Schatz diese Buchsammlungen für die Erkenntnis der Bildungs- und Kulturgeschichte unseres Landes darstellen. Das Wissen um diese Sammlungen schützt sie vor dem Vergessen infolge einer an Standards ausgerichteten Ignoranz der Bildungspolitik, die das Wort „humanistisch“ immer gern dann anführt, wenn es nichts kostet.

Über die weitgehend unbekannte Bedeutung historischer Gymnasialbibliotheken habe ich 2010 für den Frühneuzeit-Blog geschrieben. ( http://frueheneuzeit.hypotheses.org/503 ) Die Anregung kam damals von Klaus Graf, der 2005 im „netbib“-Blog eine Liste dieser Sammlungen veröffentlichte; bereits seit 2004 hatte er im selben Blog immer wieder auf historische Gymnasialbibliotheken hingewiesen.

Netbib (kg):

http://log.netbib.de/archives/2005/11/17/inkunabeln-und-handschriften-der-gymansialbibliothek-gotha/

http://log.netbib.de/archives/2005/05/31/budingen-gymnasialbibliothek-nicht-mehr-existent/

http://log.netbib.de/archives/2004/12/31/deutsche-handschriften-in-historischen-schulbibliotheken/

http://log.netbib.de/archives/2004/08/04/schulbibliothek-in-hof/

Eine Recherche der in dieser Liste angeführten Orte ergab seinerzeit für mich ein buntes Bild, was die jeweilige Betreuung – und auch die Präsentation im Netz – betrifft: mal umsorgte ein Mitglied des Kollegiums den Bestand (Konstanz, Hamburg), mal ist’s die Landesbibliothek (Coburg, Speyer), mal war ein Bibliothekar fest angestellt (Stade), mal hatte ein Förderverein einen „Direktor“ installiert (Hadamar), mal hielt ein Pensionär den Laden offen und in Schuss (Seesen). Auch die Präsentation im Netz reichte von bildschön (Rastatt) bis gar nicht (Düsseldorf, wo nur nach eingehender Erforschung der Seite überhaupt ein Hinweis auf den Status einer Bibliothek zu bekommen war); manche hatten auch bereits den virtuellen Zugang eröffnet, durch Fördervereine (Jever) oder durch eine Zentralbibliothek. Jeder machte es nach seinen Möglichkeiten und wie es zu seinem Haus und zu seinem Ort passte. Diese Individualitäten unterstreichen den besonderen Charakter der Sammlungen: keine gleicht der anderen, ihre Geschicke bilden die historischen und bis in die Gegenwart wirkenden Identitäten der Anstalten ab. Gemeinsam veranschaulichen sie indes die Bildungsgeschichte unseres Landes.

Im Leben wie im Internet fand sich bislang kein Ort, diese bildungsgeschichtlich einmaligen Schatzkammern zu würdigen; allein das von Klaus Graf betriebene Blog „Archivalia“ ( http://archiv.twoday.net/ ) widmet dem Thema wiederholt und mit einiger Regelmäßigkeit Einträge:

Historische Schulbibliotheken bei „Archivalia“

Inkunabeln in historischen deutschen Schulbibliotheken (bei: „Archivalia“, Stand 2006)

Eine umfassende Darstellung zur Bedeutung der Gymnasialbibliothek für die Kultur- und Bildungsgeschichte unseres Landes existiert bislang nicht. Seit dem 19. Jahrhundert bis heute sind die Veröffentlichungen zu einzelnen Sammlungen indes so zahlreich, dass die Erschließung nur in einer kommentierten Bibliographie möglich ist; die auch über die überregionale Bedeutung dieser speziellen Sammlungsform Aufschluss geben kann. Ausgangspunkt ist die Erfassung sowohl „toter“ als auch „lebender“ historisch gewachsener gymnasialer Buchsammlungen.

Felicitas Noeske, Hamburg

Literatur:

Reinhard Feldmann: Historische Sammlungen der Schulbibliotheken im Rheinland und in Westfalen. In: Schulbibliothek aktuell 2, 1993; S. 150-156

Matthias Richter, Carl Michael Wiechmann: Das kleine Corpus doctrinae. Bärensprung, 1865

Armin Schlechter: Zum Verkauf der Stralsunder Gymnasialbibliothek. In: Bibliotheksdienst, Bd. 47, 2013, Nr. 2: 97-101

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/1

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Das Opfergelände für die Götter des Bodens und der Feldfrüchte (Shejitan 社稷墰)

Gemeinsam mit den Opfern für Himmel, Erde und die kaiserlichen Ahnen zählten die Opfer für die Götter des Landes und der Feldfrüchte (sheji 社稷, eigentlich: “die Götter des Erdbodens und die der Hirse”)[1] zur Gruppe der “großen Opferrituale” im Rahmen des konfuzianischen “Staatskults”. Auf dem dafür vorgesehenen Opfergelände wurde diesen Göttern zweimal jährlich, einmal im zweiten Frühlingsmonat, das zweite Mal im zweiten Herbstmonat geopfert.[2]

Shejitan - Foto: Georg Lehner

“Altar” auf dem Opfergelände der Götter des Landes und der Feldfrüchte – Foto: Georg Lehner

Eine in diesem Blog schon wiederholt herangezogene Beschreibung Pekings aus dem 19. Jahrhundert geht sehr ausführlich auf dieses Opfergelände ein:

Sche-tsi-tan, der Altar, wo man die Geister Sche und Tsi anbetet, westlich von dem ‘Thor der Grundsätze’ [Duanmen] gelegen. Der Altar ist vierseitig, der Vordertheil sieht nach Norden; er bildet zwei übereinander stehende Carre’s, jedes von fünf Fuß Höhe. Der obere Theil hat 50 Fuß und der untere Theil 53 Fuß im Durchmesser. Die Perrons haben vier Rampen, jede mit 4 Stufen, und das Ganze ist von weißem Marmor. Der Fußboden des Altars besteht aus geschlagener Erde mit fünf Farben, welche die fünf Weltgegenden symbolisch darstellen. Die Mauer, welche die innere Umschließung bildet, hat 764 Fuß Länge, 4 Fuß Höhe und 2 Fuß Stärke. Sie ist mit glasirten Ziegeln mit vier Farben bekleidet, wovon jede an eine besondere Weltgegend erinnert und die Krone ist ebenfalls mit vierfarbigen Dachziegeln gedeckt. Die Umfassungsmauer hat vier zweisäulige Thore. Säulen, Schwellen und Stürze sind von weißem Marmor; die Flügel sind von Holz und zinnoberroth angestrichen. [...].[3]

Seit Herbst 1914 ist das Areal für die Öffentlichkeit zugänglich. In der nördlich des Altars gelegenen Halle des Gebets wurde der als ‘Vater des Landes’ (guofu 國父) verehrte Republiksgründer Sun Yatsen (Sun Zhongshan 孫中山) nach seinem Tod im März 1925 aufgebahrt. 1928 erfolgte schließlich auch die Umbenennung des Geländes in Sun Yatsen-Park (Zhongshan gongyuan 中山公園).[4]

Vgl. auch: Das Opfergelände des Himmels und der konfuzianische Staatskult

  1. Vgl. Charles O. Hucker: Dictionary of Official Titles in Imperial China (Stanford 1985) 416 (no. 5133: “‘she-chi t’an [...] Altar of the Soil and Grain [...].” sowie Frank-Rainer Scheck (Hg.) Volksrepublik China. Kunstreisen durch das Reich der Mitte (Köln, 3., überarb. Aufl., 1988) 213: “Altar der Erdgötter und der Fruchtbarkeit”.
  2. Vgl. dazu H. S. Brunnert, V. V. Hagelstrom: Present Day Political Organization of China. Revised by N. Th. Kolessoff (Shanghai 1911) 204 sowie J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (Berlin 1918) 223.
  3. “Beschreibung der Stadt Peking”, Allgemeine Bau-Zeitung, Jg. 1859, S. 330. Digitalisat: ANNO. Vgl. auch de Groot: Universismus, 221 f.
  4. Vgl. Scheck (Hg.): China, 213.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1099

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Tipp: „Das Konzert der Großen: 200 Jahre Wiener Kongress“

Dieses Jahr wird europaweit an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert, doch der Wiener Kongress, der sich zum 200. Mal jährt sollte nicht aus den Augen verloren werden, argumentiert Paul Widmer in seinem Artikel in der Neue Zürcher Zeitung. Bei diesem diplomatischen Großereignis kamen Gesandte und Oberhäupter fast aller europäischen Mächte zusammen. Über Monate wurde verhandelt, in Ausschüssen aber man traf sich auch auf sozialen Events wie Bällen. Nach der Französischen Revolution und Napoleons Kriegen sollte Europa wieder stabilisiert werden. Die Fürsten betonten dabei ihre Rolle als legitime Herrscher und versuchten, den politischen Zustand von 1792 wiederherzustellen.

Wiener Kongress (Foto: public domain)

Wiener Kongress (Foto: Cornischong unter public domain)

Als wichtigstes Gremium tagte ein Ausschuss, dem England, Preußen, Österreich, Russland und später auch Frankreich angehörten. Die Vertreter der kleineren Staaten mussten gezielte Lobbyarbeit bei den Großmächten betreiben, wenn sie Gehör bekommen wollten.

Trotz zahlreicher Ergebnisse, wie das Verbot des Sklavenhandels und ein Reglement für die Flussschifffahrt, Protokollregeln für diplomatische Beziehungen und die neuen politischen Allianzen zwischen den Großmächten, konnten zahlreiche Fragen nicht endgültig geklärt werden. Nach Napoleons Flucht von der Insel Elba wurde 1815 die Kongressakte verabschiedet. Ungelöst blieben dabei die Probleme auf dem Balkan und die Schwierigkeiten, die sich aus dem gesamteuropäischen gesellschaftlichen Wandel ergaben. Dennoch: „Das Verdienst des Wiener Kongresses besteht darin, nach mehr als zwanzig Jahren Krieg und Zerstörung eine lang dauernde Friedensordnung geschaffen zu haben,“ so Widmer.

 

Lesen Sie den vollständigen Artikel hier.

 

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/127

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Frauen in meiner Wissenschaft (1)

In diesem Jahr fielen am 8. März der “Weltfrauentag” und der “Tag der Archive” auf ein gemeinsames Datum. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften nahm dies zum Anlass, in einer kleinen Ausstellung ein nach wie vor aktuelles Thema zu thematisieren: Frauen an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Wie an vielen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen auch war die erste Zeit der Akademie durch die Abwesenheit von Frauen, und  die späteren Jahre durch einen Mangel von Frauen gekennzeichnet. Leider wurde die Ausstellung, auf die ich durch einen Artikel der Süddeutschen Zeitung aufmerksam wurde (SZ vom 8. März 2014, S. 15), nur für einen Tag gezeigt.

Auch die Archäologie ist noch in weiten Teilen männlich geprägt. Immerhin werden derzeit so bedeutende Einrichtungen wie das Deutsche Archäologische Institut mit Prof. Dr. Friederike Fless  und die Römisch-Germanische Kommission mit Prof. Dr. Eszter Banffy von Frauen geführt, doch von 16 LandesarchäologInnen sind nur zwei weiblich. Und auch unter den ProfessorInnen sind Frauen noch eher selten vertreten.

Der im vergangenen Jahr veröffentlichte Gleichstellungsplan meines derzeitigen Instituts, des Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie der Universität Bonn, lässt jedoch hoffen: Nicht nur die überwiegende Zahl der Studierenden ist weiblich, sondern auch 71% der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen. Insbesondere die Klassische Archäologie in Bonn kann hier auf eine lange Tradition zurückblicken: Mit Elvira Fölzer wurde hier 1906 die erste Frau in diesem Fach promoviert. Wie so oft hing das an dem Engagement eines einzelnen Professors: Georg Loeschcke promovierte mit Margarete Bieber (Promotion 1907), Margret Heinemann (Promotion 1910), Charlotte Fränkel (Promotion 1911) und Viktoria von Lieres und Wilkau (Promotion 1912) weitere Doktorandinnen. Diese Tradition wurde auch nach dem Tod Loeschkes fortgesetzt: Willhelmine Hagen, die an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Archäologie, Geschichte, Latein und Ägyptisch studierte, wurde 1943 in Bonn als erste Frau habilitiert.

Nach Willhelmine Hagen wurden nun auch das “Wilhelmine Hagen-Stipendium für Postdoktorandinnen” der Universität Bonn benannt, das hoffentlich noch mehr Frauen den Weg in die Wissenschaft eröffnen kann.

 

 

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/23

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Vortrag zur Kulturtechnik der Nummerierung von Homer bis Nelson Mandela, Wien 14.5.2014

In drei Wochen halte ich in Wien folgenden Vortrag, zu dem ich herzlich einlade; zwei Überraschungen vorweg:

1.) Es geht um Nummern!
2.) Es geht so gut wie gar nicht um Hausnummern!

Anton Tantner: Zwischen Anti-Riot-Maßnahme und Klassenkampf: Zur Kulturtechnik der Nummerierung von Homer bis Nelson Mandela

Ort: Universität Wien, Institut für Geschichte, Hörsaal 45 (Stiege VIII), Universitätsring 1, 1010 Wien

Zeit: Mittwoch, 14.5.2014, 18:30 pünktlich

Geschichte am Mittwoch
Moderation: Li Gerhalter

Abstract:
Ganz gleich, ob es sich um den Austropoper Wolfgang Ambros („A Mensch möcht i bleibn und net zur Nummer möcht i werdn.“, 1974) oder die britische Hardrockformation Iron Maiden („I am not a number, I am a free Man“, 1982) handelt, durch die kulturellen Äußerungen des 20. Jahrhunderts zieht sich ein Unbehagen, anstelle eines aus Buchstaben bestehenden Namens mit einer aus Zahlen bestehenden Nummer angerufen zu werden.
Ausgehend von diesem Befund – der angesichts der Gewalterfahrungen des „Jahrhunderts der Extreme“ nur zu verständlich erscheint – möchte ich eine bislang nur wenig beachtete, erst zu entdeckende Forschungslandschaft vorstellen, nämlich die Geschichte einer Kulturtechnik, die einem Objekt oder Subjekt – etwa einer Buchseite, einem Bibelvers, einem Ton, einem Regiment, einem Fiaker, einem Sträfling oder einer Polizistin – eine Zahl vergibt, um Objekt oder Subjekt eindeutig identifizierbar zu machen. Die enge Fokussierung auf ein so umgrenztes Forschungsthema wie die Nummerierung erlaubt es, wild durch die Jahrhunderte zu surfen, wobei der Austausch mit ExpertInnen z. B. aus der Altertumsforschung, Archivkunde, Kunstgeschichte sowie Sprach-, Religions- und Musikwissenschaft nur zu erwünscht ist.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/769448606/

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Plagiatsverdacht bei C.H. Beck

Vor knapp zehn Jahren passte dem Verlag C.H. Beck ein zu verlegendes Buch eines seiner Autoren politisch nicht in den Kram, woraufhin der Verlag in Person seines Chef-Lektors Detlef Felken keine Mühe scheute, eine ganze Riege von Historikern aufmarschieren zu lassen, die in ihren bestellten Gutachten das gewünschte Ergebnis - die Ablehnung der Publikation bei Beck - herbeischrieben. Pech, dass sie zu diesen Gutachten auf Grundlage einer fehlerhaften Übersetzung kamen, wie der betroffene Autor, der Altertumshistoriker Luciano Canfora in einem eigenen Büchlein - Das Auge des Zeus, Konkret 2006 - minutiös belegte (vgl. die entsprechenden Beiträge im Adresscomptoir).

Nun scheint C.H. Beck ein anders gelagertes Problem zu haben: Laut einem Facebook-Beitrag von Arne Janning - https://www.facebook.com/arne.janning/posts/464584697020127 - (Hinweis via FB-Kommentar von Kathrin Passig) verlegte Beck letztes Jahr ein Buch - Arne Karsten/Olaf B. Rader: Große Seeschlachten: Wendepunkte der Weltgeschichte von Salamis bis Skagerrak -, das "aus Wikipedia-Einträgen zusammenkopiert" sein soll. Die vielgerühmte qualitätssichernde Funktion, die Verlage im Gegensatz z. B. zu Weblogs und ähnlichen Onlinemedien für sich in Anspruch nehmen, scheint also gelinde gesagt nur zweifelhaft zu funktionieren, und Ähnliches gilt auch für das feuilletonistische Rezensionswesen, bezeichnete ein FAZ-Rezensent das Buch doch als "[b]esonders erfreulich" und "in famoser Weise gelungen" (8.1.2014, S. 26). Spannend auch, dass für die Forschungsreisen der Autoren DFG-Gelder flossen [Edit 26.4.2014: dies soll gemäß einer Richtigstellung Jannings nun doch nicht der Fall gewesen sein]; laut Kommentar von Kathrin Passig sind noch in einem weiteren Buch eines der Autoren Plagiate zu finden.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/757512781/

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Kampf der Giganten: Wilhelm Furtwängler vs. Neue Musik

Die Zeitschrift Melos bietet den Schauplatz von zahlreichen spannenden musikästhetischen Debatten der Nachkriegszeit. So auch im zweiten Heft des Jahres 1949, wo es um nichts weniger geht als den Kampf für und gegen die Neue Musik. Der Kontext: Wilhelm Furtwängler (1886-1954), langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und gefeierter Maestro in ausverkauften Konzertsälen, fällt im seinem Buch Gespräche über Musik (1948) ein harsches Urteil über die Neue Musik: Sie müsse „als biologisch minderwertig angesprochen werden.“1 Eine solche Aussage lässt Heinrich Strobel (1898-1970), Leiter der Musikabteilung des damaligen Südwestfunks (heute: SWR) und der Donaueschinger Musiktage, nicht kalt: Er veröffentlicht in Melos nicht nur Passagen aus Furtwänglers Text, sondern stellt ihnen eine detaillierte Replik gegenüber. Greifbarer kann ein Diskurs wohl nicht sein!

Wenn Furtwängler von Neuer Musik spricht, versteht er darunter atonale Musik und Zwölftonmusik.2 Wie kommt er nun dazu, diese Musik als „biologisch minderwertig“ zu verdammen? Furtwängler verteidigt die vermeintliche Vormachtstellung der tonalen Musik durch die These, dass ihr Material auf dem „Naturgesetz der Kadenz-Spannung“ beruhe.3 Bei der Zwölftonmusik hingegen werde das Material „gleichsam von außen her“ geformt und gestaltet.4 Die Organisation der Musik sei damit weniger zwingend. Furtwängler macht sich hier den Begriff des Naturgesetzes zunutze, um seiner Argumentation den Charakter der Notwendigkeit zu verleihen. Darauf entgegnet Strobel, dass doch der Mensch, und nicht die Natur, in der Kunst den Sinn stifte: „Denn von ‚innen‘ hat die Klangmaterie weder Form noch Gestalt. Beide verleiht ihr der denkende Mensch. Sonst könnte es in der Welt nicht so viele verschiedene Tonsysteme geben, die überhaupt nichts mit unserem Tonalitätbegriff zu tun haben […].“5 Strobel hätte sich hier auch bei den Worten Theodor W. Adornos bedienen können: „Die Musik kennt kein Naturrecht […].“6

Auch Furtwängler fasst die Musik als eine „Äußerung des Menschen“ auf.7 Davon ausgehend, so der Dirigent, müsse man sich folgende Frage stellen: „Wieweit entspricht dies tonale oder atonale Material der Musik den organisch-biologischen Gegebenheiten des Menschen?“8 Um dieser Frage nachzugehen, betrachtet er den Wechsel von Spannung und Entspannung, der ein Merkmal für die Musik als „Zeitkunst“ ebenso wie für das „zeitlich abrollende organische Leben“ darstelle.9 Dieser Wechsel sei in der tonalen Musik durch die Kadenzspannung gegeben; eine Spannung, die eingebettet sei in eine „tiefe und unerschütterliche Ruhe […] – wie eine Erinnerung an die Majestät Gottes.“10 Demgegenüber enthalte nicht-tonale Musik viele kleinere Spannungen, sei damit rastlos und habe etwas vom „Wesen der toten, seelisch unbeweglichen Maschine“.11 Furtwängler beschwört hier große Gegensätze herauf: Das Lebendige, das Menschliche, die Natur, (ja vielleicht sogar das Göttliche) stehen der leblosen Maschine gegenüber – repräsentiert durch tonale und atonale Musik. Strobel greift nun Furtwänglers Argumentation schon in ihrer Grundvoraussetzung an. Dieser gehe in seinen ästhetischen Überlegungen vom biologischen, nicht vom denkenden Menschen aus: „Denn wollte man den biologisch-physiologischen Menschen zum Maßstab der Kunst erheben […], dann wäre die Musik nicht mehr das Produkt einer geistigen Gestaltung, sondern einer mehr oder weniger gezügelten Triebhaftigkeit.“12

Abschließend fügt Strobel hinzu: „und wenn wir Hindemith oder Schönberg, Bartók oder Strawinsky, Honegger oder Alban Berg hörten, dann wurden wir unmittelbar in unserem ‚Lebensgefühl‘ angesprochen, intellektuell und vital, geistig und sensitiv – möge die Musik dieser Komponisten nun ‚biologisch‘ ebenso ‚minderwertig‘ sein, wie sie es bisher ‚rassisch‘ war.“13 Strobel endet seine Replik mit einem Seitenhieb gegen Furtwängler, der für seine in der Öffentlichkeit sehr präsente Rolle als Dirigent im nationalsozialistischen Deutschland vielfach kritisiert wurde und nach den Entnazifizierungsprozessen erst 1952 offiziell zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker wieder ernannt wurde. Darüber hinaus zeigt sich hier ein Argumentationsmuster, das den Diskurs um die Neue Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts – und bis heute – durchzieht: Was die einen als eine Gefahr, als etwas Unmenschliches (etwas Maschinenhaftes, Geräuschhaftes, Chaotisches) deuten, ist für andere der zeitgemäße Ausdruck des menschlichen Lebens.

 

1Wilhelm Furtwängler; Heinrich Strobel, „Für und gegen die neue Musik“, in: Melos 16 (1949), S. 44.

2Die in Gespräche über Musik veröffentlichten Dialoge zwischen Wilhelm Furtwängler und Walter Abendroth stammen aus dem Jahre 1937.

3Ebd., S. 42.

4Ebd., S. 42.

5Ebd., S. 42.

6Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1976, S. 39.

7Furtwängler; Strobel, „Für und gegen die neue Musik“, S. 42.

8Ebd., S. 42.

9Ebd., S. 42.

10Ebd., S. 43.

11Ebd., S. 43.

12Ebd., S. 42.

13Ebd., S. 43 f.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/75

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Werner Vogt Im Gespräch

Übermorgen (Do 24.4.2014, 21:00-22:00) sendet Ö1 nicht nur nur einen Beitrag zum Kleinen Ich bin Ich, sondern auch ein Gespräch mit dem Arzt Werner Vogt:

Im Gespräch

"Mein Arztroman - ein Lebensbericht"
Renata Schmidtkunz spricht mit Werner Vogt, Mediziner und Autor

Werner Vogt war und ist ein Kämpfer: für mehr Menschlichkeit und Transparenz in der Medizin, für mehr soziale Gerechtigkeit im politischen System. Der 1938 geborene Tiroler begann sein Berufsleben als Lehrer, änderte dann aber seine Meinung und wurde Arzt. Über 30 Jahre arbeitete er als Chirurg am Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus in Wien. Neben seiner Arbeit engagierte er sich bei Hilfsaktionen in Nicaragua, Temesvár und im Kosovo und war einer der Gründer der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin in Wien. Als Mitinitiator des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich setzte er sich 2002 für die Verankerung der Sozialstaatlichkeit in der österreichischen Verfassung ein. Österreichweit bekannt wurde Vogt durch seine Auseinandersetzung mit dem Arzt Heinrich Gross, der während der NS-Zeit als Stationsarzt im Wiener Krankenhaus Am Spiegelgrund an der Ermordung behinderter Kinder beteiligt war. Nun legte er unter dem Titel "Mein Arztroman" seinen Lebensbericht vor. Renata Schmidtkunz spricht mit dem "Rebellen aus Leidenschaft und Überzeugung".

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/752350399/

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Kurbayern und der Westfälische Friedenskongreß

Der Weg zum Frieden war bekanntermaßen ausgesprochen verschlungen; es dauerte lange Jahre, bis die Instrumenta pacis unterzeichnet und ratifiziert werden konnten. Entsprechend umfänglich ist das Aktenmaterial, das im Umfeld dieser Verhandlungen angefallen und überliefert ist. Neben den Acta Pacis Westphalicae hat es sich seit einigen Jahren auch die bayerische Landesgeschichte zur Aufgabe gemacht, die einschlägigen kurbayerischen Korrespondenzen zu publizieren. Auf diese Weise werden ergänzend zu den anderen Korrespondenzserien Einblicke in die Verhandlungsführung eines der einflußreichsten Reichsstände und wichtigsten Bündnispartners des Kaisers ermöglicht.

Nachdem bereits die Hauptinstruktionen von 1644 und ein erster Teilband für die Zeit von 1644 bis Juli 1645 veröffentlicht werden konnten, ist kürzlich der zweite Teilband erschienen. Er deckt den Zeitraum von August bis Ende November 1645 ab und versammelt reiches Material für die Phase unmittelbar vor dem Eintreffen des kaiserlichen Prinzipalgesandten Trauttmansdorff in Münster (erst mit ihm nahmen die Verhandlungen wirklich an Fahrt auf). Man mag im ersten Augenblick erstaunt sein, daß gerade diese Frühphase in dieser Edition so intensiv dokumentiert ist. Doch eben damit wird deutlich, wie sinnvoll es ist, neben den kaiserlichen, französischen und schwedischen Korrespondenzserien auch die kurbayerische Sicht der Dinge aufzuarbeiten.

Verhandlungsführer für Kurbayern waren die Gesandten Georg Christoph Freiherr von Haslang und Dr. Johann Adolf Krebs, die ihr Prinzipal Maximilian von Bayern in gewohnter Weise zu einer intensiven Korrespondenz anhielt, um über die Vorgänge in Münster genau im Bilde zu sein; komplementär dazu versorgte der Kurfürst seine Gesandten seinerseits mit Informationen und noch mehr Anweisungen.

Letztere bezogen sich auch auf Rangfragen und die Problematik der Präzedenz – kein Wunder, wurden doch gerade in der Frühphase des Friedenskongresses erste Koordinaten für die jeweiligen Ansprüche und ihre Realisierung gesetzt. Für Kurbayern war dies in erster Linie die Frage der Kurwürde, die bekanntermaßen im Zentrum der Kriegsziele Maximilians stand. Klar war auf kurbayerischer Seite, daß eine Alternation der Kurwürde in keinem Fall zu akzeptieren war; gerade die schlechten Erfahrungen, die die bayerischen Herzöge mit der Regelung des Vertrags von Pavia gemacht hatten, ließen Maximilian darauf dringen, daß seiner Linie die Kurwürde dauerhaft zugesprochen werden würde.

In den Korrespondenzen schlugen sich auch die parallel zu den Verhandlungen weiterlaufenden Kriegsereignisse nieder. Für den genannten Zeitraum war dies vor allem die Schlacht bei Alerheim, in der mit dem kurbayerischen General Capo Franz von Mercy einer der talentiertesten Militärs dieser Jahre fiel. Die Bedeutung dieses Verlustes war sofort klar und schlug sich in den Korrespondenzen entsprechend nieder.

Wer den Griff nach der umfänglichen Edition scheut, mag sich zunächst in dem Beitrag orientieren, in dem Gabriele Greindl den aktuellen Korrespondenzband vorstellt: Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns beim Westfälischen Friedenskongress, in: Wittelsbacher-Studien. Festgabe für Herzog Franz von Bayern zum 80. Geburtstag, hrsg.von Alois Schmid und Hermann Rumschöttel, München 2013, S. 417-440.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/434

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Zum 150. Geburtstag von Max Weber ein Interview mit Prof. Dr. Schluchter (Heidelberg) – Von Simon Lenhart, Nadja Boufeljah und Miriam Boufeljah

Der Geburtstag von Max Weber jährt sich wieder am 21. April und für dieses besondere Ereignis in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften können wir euch ein ausführliches Interview mit dem führenden Max-Weber Experten Prof. Dr. Wolfgang Schluchter vom Max-Weber-Institut der Universität … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6539

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