Wie Studierende denken, wenn man der FAZ Glauben schenken möchte …

Es mag schon eine ältere Veröffentlichung sein, aber sie hat mich nachhaltig geärgert und irritiert:Am 24.06.2012 schrieb der Soziologe Georg Kamphausen unter dem Titel “Wie Studenten denken” über Studierende, die seinen Ansprüchen in einer Klausur offenbar nicht gerecht geworden waren. Aufhänger seiner Polemik war eine Karikatur, auf der ein Lehrer mit blauem Auge der Mutter eines Skinheads erklärt: “Ihr Sohn ist kein Choleriker. Er ist einfach emotional intelligent.”

Nachdem Kamphausen die vermeintliche Verschulung der Wissenskultur an der Universität (“Mit der Bachelor- und Modularisierung ihrer Studiengänge schließt die Universität nahtlos an die schulische Praxis der Wissensvermittlung an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu vermitteln, ohne die lästige Frage zu stellen, was sich denn eigentlich zu wissen lohnt, und die Kunst zu lehren, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.”) und die wachsende Relevanz von Lehrbüchern, Skripten und PowerPoint-Präsentationen kritisiert hat, kommt er auf seinen eigentlichen Punkt zu sprechen: “Was, aber vor allem wie denken unsere Studenten?”

Ausgangspunkt ist die bereits erwähnte Karikatur. Nach Kamphausens eigener Auskunft bestand die Klausuraufgabe darin, diese Karikatur zu “kommentieren”.Dabei ging es ihm “darum festzustellen, ob junge Leute mit Abitur in der Lage sind, ein eigenständiges Urteil zu begründen”. Ausführlich legt er dann Auszüge aus den Klausuren vor, die vor allem eines dokumentiere: Die Studierenden kommen mit der gestellten Aufgabenicht klar.

Ist das ein Wunder? “Kommentieren Sie die Karikatur” ist keine präzise Aufgabenstellung; selbst ein Zusatz wie “… und begründen Sie Ihr Urteil” würde diesen Mangel nicht heilen. Ein Studierender kann eine solche Aufgabe gar nicht zufriedenstellend lösen; er kann alles Mögliche kommentieren (und beispielsweise laut darüber nachdenken, wieso diese Karikatur nicht in Farbe abgedruckt wird), ohne dass eine Abweichung von der Zielsetzung der Aufgabe deutlich würde.

Viel interessanter und aussagekräftiger aber sind die Antworten, wenn man versucht, aus Ihnen Rückschlüsse über die der Klausur zugrundliegende Vorlesung (“Einführung in die Soziologie”) zu ziehen. Viele Antworten bemühen sich sichtlich, einen der soziologischen Klassiker (Max Weber, Theodor W. Adorno u.v.a.) heranzuziehen, um in deren Diktion eine Reaktion auf die unglückliche Aufgabenstellung zu formulieren. Offenkundig bestand die Vorlesung aus einer in solchen Einführungsvorlesungen leider üblichen Reihung soziologischer Klassiker – viele Lehrbücher, die in die Soziologie einführen, sind genauso aufgebaut. Ein problemorientierter Ansatz würde anders aussehen.

Vielleicht ist das dem Autor selbst undeutlich klar, denn er schreibt einleitend:

“Ein Problem als Problem zu behandeln, eine Frage als Frage zu erörtern ist daher nicht das Ziel modularisierter Vorlesungen. Es werden nur Fragen gestellt, auf die es auch eine Antwort gibt, Beobachtungen gemacht, aus denen sich Regeln ableiten lassen.”

Sollte er seine eigene Vorlesung so aufgebaut haben wie beschrieben, als Reihung von Klassikern ohne Problemorientierung, dann würden die studentischen Klausurantworten Sinn ergeben. Und eine solche Vorlesung würde auch die Aufgabenstellung erklären helfen: Wer nicht so recht weiß, wie er Studierende in soziologisches Denken (und eben nicht in Klassiker!) einführt, der weiß auch nicht recht, wie er entsprechende Prüfungsaufgaben stellen sollte.Kompetenzorientieres Prüfen heißt zuerst: Studierende vor Probleme stellen, die sie nur lösen können, wenn sie die fachspezifischen Standards des Problemlösens beherrschen. Das stellt für Vorlesungen natürlich eine besondere Herausforderung dar.

“An den Universitäten herrscht eine große Hilflosigkeit vor Texten und ein Mangel an Urteilskraft” – so fasst Kamphausen seine Eindrücke zusammen. Was viel mehr erschüttert, ist seine Hilflosigkeit vor Lehre und Prüfungen und sein Mangel an Selbstreflexion.

Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/35

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Neuerscheinung zu Paul Otlet

Hartmann, Frank (Hg.): Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der Wissensvisualisierung. Berlin: Avinus, 2012. 206 Seiten, ISBN 978-3-86938-025-4, 32 € [Verlags-Info]

Ankündigung:
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet das Dokumentationswesen in eine Krise: wie lässt sich das kulturelle Wissen nachhaltiger organisieren?
Paul Otlet (1868–1944), ein belgischer Industriellenerbe und studierter Rechtsanwalt, entwickelte zusammen mit Henri La Fontaine ab 1895 ein Ordnungs- und Klassifikationssystem, das das millionenfach publizierte „Weltwissen“ dokumentieren sollte. Otlets Anspruch war die Schaffung eines „Instrument d’ubiquité“, das zur „Hyper-Intelligence“ führen sollte. Jahrzehnte vor Web und Wikis weisen diese Ideen auf eine globale Vernetzung des Wissens hin.
Der vorliegende Titel erinnert an den Pionier Paul Otlet mit einer ausführlichen Einleitung von Frank Hartmann (Bauhaus-Universität Weimar), Beiträgen von W. Boyd Rayward (University of Illinois), Charles van den Heuvel (Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften) und Wouter Van Acker (Universität Gent).


[via Hapke-Weblog]

Brüssel kennt übrigens eine Rue Otlet:
Bruessel_RueOtlet

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/219020539/

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Mit Archilochos wider den Strom

Kurz nach Erscheinen des nächsten Heftes lohnt es, noch einmal die Herbstnummer der Zeitschrift für Ideengeschichte (VI/3) in die Hand zu nehmen, von der hier schon mehrfach die Rede war. Lesenswert sind die Texte zum Heftthema „Kuba 1962", zumal Tim B. Müllers höchst anregender Vorschlag, den Kalten Krieg rückblickend als ein glückliches Zeitalter zu verstehen, geprägt von Modernisierung, Rationalisierung und einem gemäßigten Etatismus. Der...(read more)

Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/11/18/mit-archilochos-wider-den-strom.aspx

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Mit Archilochos wider den Strom

Kurz nach Erscheinen des nächsten Heftes lohnt es, noch einmal die Herbstnummer der Zeitschrift für Ideengeschichte (VI/3) in die Hand zu nehmen, von der hier schon mehrfach die Rede war. Lesenswert sind die Texte zum Heftthema „Kuba 1962″, zumal Tim B. Müllers höchst anregender Vorschlag, den Kalten Krieg rückblickend als ein glückliches Zeitalter zu verstehen, geprägt von Modernisierung, Rationalisierung und einem gemäßigten Etatismus.

Der ‘heiße’ Krieg zuvor bildet den Hintergrund für Granatsplitter, ein eigen-sinniges Buch aus der Feder von Karl Heinz Bohrer, der im September achtzig Jahre alt geworden ist. Es ist die „Phantasie einer Jugend”, die in ein durch die Zeitumstände außeralltägliches Leben geworfen war. Das Grundproblem des autobiographischen Rückblicks über einen so langen Zeitraum – der erinnernde Greis kann nicht mit dem erinnerten Jungen identisch sein, selbst wenn er wollte und obwohl beide denselben Namen tragen – löst Bohrer, indem er die autobiographische Scheingewißheit meidet. Er bietet statt dessen, so der Autor selbst, „eine Erzählung über sich fortsetzende Faszinierungsmöglichkeiten in einer Welt des Ungesagten und Seltsamen – auch des Surrealistischen”.

Die „Unbefangenheit gegenüber dem Thema Krieg”, die „Neugier und Akzeptanz des Lebens als Chaos” prägen auch des Jungen Blick auf die (griechische) Antike – oder wurden sie umgekehrt befördert, weil die Antike ihm auf so besondere Weise nahegebracht wurde? Diese Dialektik zwischen Individuum und Umfeld, Prägung und eigener Perspektive wird sich wohl nie ganz auflösen lassen. Bohrer besuchte die berühmte Internatsschule Birklehof, die nach dem Krieg von Georg Picht geleitet wurde und das unvollendete Platon-Archiv beherbergte -davon wurde hier schon einmal berichtet. Im Sommer 1944, nicht lange nach dem Attentat auf Hitler, wurde dort Aischylos’ Agamemnon aufgeführt. Die Zeitläufte und die Intensität ihres Erlebens lassen das Menschenschlachthaus in Theben ganz gegenwärtig erscheinen: „Die Gleichzeitigkeit von Mykene und der Gemetzel dieses Sommers sind dem Jungen damals schlagartig bewusst geworden. Dieser Mordgeruch, der aufsteigt aus dem Haus der Atriden, vermischte sich mit den Geschichten über die Bestialitäten der Nazi-Zeit, über die ihn sein Vater und ein holländischer Mitschüler kurz zuvor unterrichtet hatten. Die Wirkung der Aufführung war so groß, weil es zu dieser komplexen Verdoppelung kam. (…) Aber Mykene hatte für den Jungen etwas Großartiges. Klytämnestra mit der Axt war was Anderes als die Nazi-Henker.”

Als Lehrer am Birklehof wirkte nach dem Krieg Rudolf Till, der auf engem Fuß mit Himmler gestanden und sich in Italien um eine berühmte Handschrift von Tacitus’ Germania bemüht hatte. Den Griechischlehrer beschreibt Bohrer als einen ironischen Kopf. Vielleicht half er den Jungen dabei, die aus der Zeit gefallenen Absonderlichkeiten im Umfeld der Schule richtig einschätzen zu lernen, so die Mutter Georg Pichts, die in einem „weißen, griechischen Gewand immer zwischen des Hausherrn Schwarzwaldhaus und ihrem eigenen Gehäuse” schwebte, oder Pichts Vater, einen Georgianer. „Allmählich gewannen wir auch ein ironisch pragmatisches Verhältnis dazu. Bei aller Verehrung und Liebe zur Schule erkannte der Junge da auch Hoheitszeichen eines durchgeknallten Idealismus, einer prätentiösen Form von Geistigkeit.” Angesagt waren Existenzialismus und Jazz, nicht „ein bestimmter frömmelnder und idealistischer Tonfall der Birklehof-Pädagogik – das war für ihn und einen Kreis von Freunden nicht mehr akzeptabel.”

Archilochos hat wohl auch geholfen. An ihm und den anderen frühen griechischen Lyrikern demonstrierte der Griechischlehrer, wie modern und nüchtern die Archaik der Hellenen in Wirklichkeit war – freilich nicht im Sinne der ästhetisierenden metallischen Härte, die sie bei Benn und Berve gewonnen hatte, sondern wegen einer „provokativen Nicht-Achtung von zeitgenössischen Moralen” durch den ruhelosen Dichter. Staat zu machen war wohl das allerletzte, wozu die Jungen und die klugen Älteren die alten Griechen befragt hätten. „Die Lektüre des Archilochos war zweifellos auch ein Propädeutikum zu meiner spätren Distanzierung gegenüber Pädagogisierungen der Kunst.” Was würde Bohrer wohl zur umgekehrten Pädagogisierung sagen, wie sie Heinrich Böll in seiner frühen Erzählung Wanderer, kommst du nach Spa… betrieben hat? Vielleicht ist die mitgeteilte Erinnerung eine ungesagt zum Vergleichen einladende Abgrenzung gegen Bölls Holzhammer-Symbolik. Bohrer: „Archilochos war ein Ausdrucksphänomen. Genauso hat ihn erregt, wie der Lehrer zum ersten Mal an die Tafel schrieb «O xein angéllein Lakedaimoniois…». Auf Deutsch klingt das ungeheuer banal – «Oh, Fremder kommst Du nach Sparta, Mel­de…» -, wie ein klassizistisches Goldschnitt-Verslein aus dem 19. Jahrhundert. Aber auf Griechisch, mit knirschender Kreide an die Tafel geschrieben, hat ihn das zutiefst erregt.”

Fasziniert hat mich die Einrede gegen die verbreitete Ansicht, der antikebezogene Humanismus der 1950er bis frühen 1960er-Jahre sei restaurativ und leblos gewesen. Sicher, das gab es auch, vielleicht so vorherrschend. Aber Bohrer hat heute keinen Grund, im Rückblick einem abgelebten Bemühen Kränze zu flechten. Umso aufmerksamer sollte seine differenzierte Einschätzung gelesen werden: „Der Pichtsche Birklehof hatte etwas Wirklich-Philosophisches, aber gleichzeitig ungeheuer Materialistisches: eine Denkform er­obern, nicht irgendein Abbild nachbeten. Das war nicht nur ein ehrfurchtvolles Traditionsbewusstsein. Picht wollte junge Leute erziehen, die im praktischen politischen Leben Deutschlands eine Rolle spielten. Ich würde heute in Picht nicht so sehr den Fortset­zer des Althumanismus sehen. Und er hat Platon nicht bloß als Ethiker gelesen. Es war die Dialektik Platons, die sokratische Me­thode, es war der Purismus des Arguments. Nein, für Abendlän­derei waren wir 18-Jährige zu «intellektuell». Das war unser neuer Gestus in der Clique, etwas unreif natürlich. (…) Daneben gab es sicher auch eine Vorstellung von der Priorität der griechischen Kultur für jede intel­lektuelle Erziehung. Aber die wurde modernisiert und intellektualisiert.” Nicht ein äußerer Rahmen also sollte wieder zusammengeleimt werden, es ging um das innere Feuer – das seinerseits erst neue Amalgamierungen aus Antike und Moderne ermöglichte.

Der Zufall will es, daß ich dieser Tage antiquarisch zwei Bände „Frühgriechische Lyriker” in die Hand bekomme, „deutsch von Zoltan Franyó und Peter Gan, griechischer Text bearbeitet von Bruno Snell, Erläuterungen besorgt von Herwig Maehler”. Eine komplizierte Entstehungsgeschichte, die bis in der Vorabend wiederum des Zweiten Weltkriegs zurückreicht. Im Sommer 1939 sandte Zoltan Franyó (geb. 1887) einige Übersetzungsproben aus Temesvár (Rumänien) an Bruno Snell. Der Hamburger Philologe hatte sich als Kenner der frühen griechischen Literatur bereits einen Namen gemacht, und es begann ein höchst fruchtbarer Austausch zwischen beiden. Snell besorgte die griechischen Texte und arbeitete sich kritisch an den Übersetzungen ab, hierin unterstützt von Peter Gan (Pseudonym für Dr. Richard Moering). Erst 1971 konnte der erste, schmale Band erscheinen, in der vorzüglichen Reihe „Schriften und Quellen der Alten Welt”, herausgegeben vom „Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR”. Drei weitere Teile folgten. Peter Gan starb 1974, Zoltan Franyó vier Jahre später. Die in rotem Leinen leuchtenden Bände waren im Westen schwer zu bekommen, Bibliothekexemplare nicht selten durch Diebstahl abgängig und durch schlechte Photokopien ersetzt.

Und in der Tat, die Wiederlektüre zeigt: Die Archilochosbrocken haben nichts mit hehrer Goldrähmchenpoesie zu tun. Ein Stück parodiert eingangs Odysseus’ Schiffbruch an der Küste der Phaiaken – doch was dem Geschmähten dann geschehen soll, ist fern vom schönen Asyl am warmen Herd des Königs und seiner schönen Tochter:

                        „….. vom Wogenschlag

            Hin an die Küste gespült;

Zu Salmydessos sollen ihn, den nackten Mann,

            Thraker mit struppigem Schöpf

Aufs freundlichste empfangen; viele soll er dort

            Qualen erdulden, das Brot

Der Sklaven fressen, und er soll mir frosterstarrt,

            Salzüberkrustet von Tang

Und zähneklappernd, auf der Schnauze wie ein Hund

            Liegen, zu Tode erschöpft,

Am Fuß des steilen Klippenrandes, gischtgepeitscht.

            Wahrlich, das sähe ich gern.

Der mich verriet, den Eid mit Füßen trat, er war

            Einst mein Gefährte und Freund!” (fr. 79)

 

Und weder mit Mythos noch mit Logos, den zwei bekannten Achsen griechischen Deutungs- und Handlungswissens, hat zu tun, was Archilochos aus der Überwältigung durch eine zuvor nie gesehene Sonnenfinsternis macht (fr. 74):

„Nunmehr ist kein Ding unmöglich, und auf nichts mehr ist Verlaß.

Nichts erstaunt uns, seit der hohe Herr des Himmels, Vater Zeus,

Nacht aus hellem Mittag machte und der Sonne Strahlenkranz

So versteckte, daß die feuchte Angst die Menschen überkam.

Drum ist künftig alles möglich, und auf alles sei gefaßt

Jedermann. Ihr braucht euch fürder nicht zu wundern, wenn ihr seht,

Wie das Bergwild mit Delphinen tauscht den Weideplatz im Meer,

Weil ihm wohler ist im Tosen der vom Sturm gepeitschten See

Als am Lande, wo Delphine froh sich tummeln im Gebirg.”

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/18/mit-archilochos-wider-den-strom-406/

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Anmerkungen zu John Heuser, Long Le-Khac (2011): Learning to Read Data: Bringing out the Humanistic in the Digital Humanities.

Im LIBREAS-Weblog pflegen wir seit einigen Jahren die Tradition annotierender Referate zu verschiedenen Publikationen, die sich von traditionellen Rezensionen dahingehend unterscheiden, dass sie einerseits eine perspektivische Lektüre betonen und andererseits gern auch eher essayistisch ausgerichtet sind. Bisweilen finden sich in diesem Bereich auch Texte, die Themen aus dem Bereich der Digital Humanities bzw. Digitalen Geisteswissenschaften berühren (hier das entsprechende Tag im LIBREAS-Weblog).

Nun spricht natürlich nichts dagegen, einschlägige Texte dieser Art auch hier zu bloggen, zumal die inhaltliche Perspektive auf die Digital Humanities bei LIBREAS maßgeblich von der Wechselwirkung mit dem Bibliothekswesen geprägt ist. Daher möchte ich mit der nachfolgenden Betrachtung eine möglichst regelmäßige Beteiligung auch an diesem Weblog beginnen. – Ben Kaden 

Anmerkungen zu: John Heuser, Long Le-Khac (2011): Learning to Read Data: Bringing out the Humanistic in the Digital Humanities. In: Victorian Studies Vol. 54, No. 1 (Autumn 2011), S. 79-86 / http://www.jstor.org/stable/10.2979/victorianstudies.54.1.79

Kernfrage: Wie kann das Verfahren der Wortfrequenzanalyse für die Prüfung von Hypothesen zum viktorianischen Roman sinnvoll eingesetzt werden?

Wer sich im Bereich der Digital Humanities bewegt, sieht sich im Gespräch mit eher traditionell orientierten Geisteswissenschaftlern erfahrungsgemäß schnell unter Legitimationsdruck. Wo man nicht mit genereller Ablehnung konfrontiert ist, wird – durchaus berechtigt – die Forderung aufgestellt, man solle doch erst einmal aufzeigen, welches Erkenntnisplus die Anwendung beispielsweise quantitativer Verfahren für die Literaturwissenschaft tatsächlich bringt.

Eine Publikation, die man bei der nächsten Gelegenheit anführen kann und die nach meiner Wahrnehmung in diesem Weblog noch nicht referiert wurde, erschien vor gut einem Jahr in der Zeitschrift Victorian Studies. Ryan Heuser und Long Le-Khac, vielleicht etwas befangen als Mitarbeiter an Franco Morettis Stanford Literary Lab, leisten in ihrem Aufsatz „Learning to Read Data: Bringing out the Humanistic in the Digital Humanities“ ausgewogen und souverän Überzeugungsarbeit für den Einsatz quantitativer Verfahren in der Literaturwissenschaft. Ihr Ansatz: Quantitative Verfahren der Literaturanalyse (mitunter nicht ganz glücklich als „distant reading“ bezeichnet) sind keinesfalls die Ablösung qualitativer Methoden. Sie sind jedoch sehr hilfreich, wenn es darum geht, bestimmte damit gewonnene Erkenntnisse aposteriorisch zu verifizieren.

Zum Einstieg benennen die Autoren zunächst die bekannte Mischung aus Euphorie und Vorbehalten, die Literaturwissenschaftler gemeinhin befällt, wenn sie dem Möglichkeitsspektrum quantitativer Textanalysen nicht in sprachwissenschaftlichen Umgebungen, sondern ihrer eigenen Domäne begegnen. Besonders treibt sie die Frage um, wie sich das traditionell geisteswissenschaftliche Forschung auszeichnende Differenzierungsvermögen und Gespür für die Zwischentöne sowie die zwangsläufige Komplexität ihrer Fragestellungen in solchen Zusammenhängen abbilden lassen. Die Antwort ist nahezu trivial: Indem man diese Aspekte eben möglichst berücksichtigt und mit den Messverfahren integriert. Beide Aspekte sprechen jeweils einen anderen Bereich der Erkenntnisfindung an. Der Schlüssel liegt folglich darin, sie ihren Stärken gemäß anzuwenden. Der Vorteil der messenden Durchdringung eines Korpus liegt in der vollständigen Erfassung. Die Stärke der interpretierten Durchdringung von Texten liegt in der Möglichkeit, einen in sie eingebetteten Sinn zu verstehen und zu beschreiben. Die Kombination empirischer Parameter mit traditionellen Interpretationsverfahren erfüllt den Zweck einer wechselseitigen Kontrolle, wobei der Schwerpunkt auf der Prüfung der Treffsicherheit einer Hypothese liegt.

Wie sich das konkretisieren lässt, illustrieren Heuser und Le-Khac am Beispiel des viktiorianischen Romans. Für einen Bestand von 2779 britischen Titeln mit der Erscheinungszeit zwischen 1800-1900 analysieren sie die Entwicklung der Verwendung von Ausdrücken aus zwei semantischen Feldern in der Zeit. Sie unterscheiden Ausdrücke mit wertorientierter Bedeutung von solchen mit konkret beschreibender und spezifizierender Semantik. Für das Korpus lässt sich in der Zeitachse eine Verschiebung der Häufigkeit des Auftretens vom ersten Typus zum zweiten feststellen. Der entscheidende Schritt der Analyse liegt nun in der Interpretation dieser Messreihe. Die gelingt nur über die Verortung in einem übergeordneten Kontext. Dieser aber wiederum wird nur aus einem entsprechenden, traditionell geisteswissenschaftlichen Vorwissen eingrenzbar.

Der Interpretation geht folglich die Kombination verschiedener Parametern voraus. Je mehr Datenebenen kombiniert werden, so die sich erstaunlicherweise überrascht zeigenden Autoren, desto enger wird der Spielraum, der für die Interpretation bleibt und desto präziser kann diese ausfallen. Ob sie tatsächlich zutrifft ist freilich auch von einem soliden Forschungsdesign abhängig. Aber dies gilt ohnehin in jeder Wissenschaft. Empirisch wird im beschriebenen Beispielverfahren sichtbar, dass bestimmte Ausdrücke zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Häufigkeit verwendet wurden. Über das Abtragen auf der Zeitachse lässt sich eine Variabilität darstellen, die man bei Bedarf wieder unter diversen Gesichtspunkten exakt ausmessen kann. Die Messung stellt eindeutige Verschiebungen im Wortgebrauch fest. Addiert man dazu die allgemeine kulturhistorische Dimensionalität mit Aspekten wie Landflucht, Verstädterung, Industrialisierung und der damit verbundenen Erweiterung individueller Handlungsoptionen und -zwänge, lässt sich die These, dass der viktorianische Roman die sich im 18. Jahrhundert vollziehenden sozialen Veränderungen im Vereinigten Königreich auch auf der Ebene des Vokabulars spiegelt, sehr einsichtig erhärten.

Die Erkenntnis selbst ist vielleicht nicht sonderlich verblüffend, sondern entspricht vielmehr dem Eindruck jedes Lesers, der sich diachron durch diese Literatur gearbeitet hat. Das eigentlich Neue ist jedoch, dass man diesen Eindruck nun mithilfe von Wortfrequenzanalysen eindeutig untermauern kann. Die mehrdimensionale Datenanalyse prüft empirisch eine Hypothese, die durchaus auch streitbarer sein kann, als die von den Autoren beispielhaft durchgespielte.

Verfahren der Digital Humanities lösen, so auch die Argumentation der Autoren, die traditionellen Praxen der Geisteswissenschaft nicht etwa ab. Vielmehr setzen sie diese voraus. Die Anwendung solcher Verfahren erfordert ein breites grundständiges Wissen auf dem Anwendungsgebiet. Eingebettet in ein korrektes Forschungsdesign ermöglichen sie jedoch eine empirische und übergreifende Prüfung von Hypothesen, wie sie ohne diese digitalen Mess- und Visualisierungswerkzeuge kaum möglich ist.

(Berlin, 15.11.2011)

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1061

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Lexikon zur Computergeschichte: Complementary Metal Oxide Semiconductor – CMOS

Complementary Metal Oxide Semiconductor (CMOS) ist eine stromsparende Technik, welche seit dem 80286er eingesetzt wird, um Informationen des BIOS zu speichern. Während sämtliche Informationen im Arbeitsspeicher des PC (RAM) nach dem Abschalten verloren gehen, ist der sogenannte CMOS-RAM batteriebetrieben. Er beinhaltet sämtliche Standardinformationen aus dem BIOS-ROM sowie alle im BIOS durchgeführten Änderungen. Auch die Systemzeit […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3595/

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