Wie schreibt man DH richtig? II

DH ernst zu nehmen, scheint mir gerade als Geisteswissenschaftler ein höchst selbstreferentieller Prozess zu sein (s.a. meinen Beitrag zu Open Access http://dhd-blog.org/?p=673). Nachdem die Kulturtechnik Lesen unter Titeln wie distant reading (Moretti), hyperreading (Sosnoski) oder maschine reading (Hayles) umfassend thematisiert wurde, verwundert es ein wenig, dass bisher dem Schreiben vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, auch wenn natürlich die Literatur z.B. zu Markup mittlerweile Legion ist. Es ist aber m.E. ein Unterschied, ob man vorhandenene Texte “editorisch” mit Markup versieht oder ob man selbst Texte nicht mehr layoutbasiert, sondern strukturell schreibt, eben Texte, die den Anforderungen einer computergestützten Geistes- und Kulturwissenschaft genügen.

In der Theorie weiss man natürlich, dass Word-Dateien mit Blick auf ihre maschinelle Nachbearbeitung und -nutzung enge Grenzen haben und dass es besser wäre, statt dem WYSIWYG Prinzip zu huldigen, sich wieder auf Textstrukturen und – bedeutung zu besinnen. Nun ist WYSIWYG ein süßes Gift und hat viel dazu beigetragen, den Computer in den Geisteswissenschaften zu etablieren. Diese Leichtigkeit des Schreibens in Frage zu stellen und WORD z.B. mit einem XML Editor wie oXygen zu vertauschen, ist denn auch ein Schritt, den viele unserer Zunft vermutlich scheuen werden, und doch scheint mir genau dieser Schritt zum Strukturellen Schreiben, wie ich es nennen möchte, unverzichtbar, um das volle Potential der DH ausschöpfen zu können. Ich habe mich daher in einem Beitrag im Bibliotheksdienst (s. vor allem den ersten Teil DOI 10.1515/bd-2013-0005) einmal mit dieser Frage auseinandergesetzt und versucht “basale” Strukturen für das strukturelle Schreiben, oder wie man es nennen möchte, zu identifizieren. Das Pikante daran ist natürlich, dass,  wenn man schon über Strukturelles Schreiben “schreibt”, dann es auch füglich selbst tun sollte. Ich hatte daher dem Verlag abbedungen, den Beitrag nicht mit einer moving wall zu belegen, sondern ihn unter einer CC BY-SA Lizenz zu veröffentlichen und bereitete zeitgleich eine alternative Publikation vor, die mitttlerweile auch vorliegt (vgl http://diglib.hab.de/ebooks/ed000149/start.htm). Unterdessen hat aber auch der Verlag den Text online gestellt (DOI s.o.). Dies nun ist interessant, denn wenn man die beiden Versionen vergleicht, wird unmittelbar deutlich, warum online allein nicht ausreicht (auch wenn OA ein Wert an sich ist), und es einer intensiveren Bemühung um den Text bedarf, um ihn wirklich nutzbar zu machen. Augenfällig ist, dass z.B. die Links fehlen.  Sie sind in dem Beitrag auf der Verlagsseite allesamt nicht clickbar. Überhaupt hinterlässt er einen etwas lieblosen Eindruck. Das Entscheinde liegt aber unter der Oberfläche dieser Version, die unter “strukturellen Gesichtspunkten”(Markup)  gänzlich ungenügend ist. Z.B. würde man sich zu Schlagworten und Personen GND Nummern wünschen. Diese habe ich in meiner Version ergänzt (wenn auch noch nicht sichtbar gemacht). Sie stecken im XML Quelltext (http://diglib.hab.de/ebooks/ed000149/BD-2013-01.xml) und werden später vor allem in übergreifenden Suchalgorithmen ausgewertet werden (zum Einsatz wird die DB eXist kommen). Mit Blick auf zukünftige Szenarien der Nachnutzung im semantic web habe ich zudem einige grundlegende Dinge, wie Titel, Autor, Schlagworte mit RDFa markiert,. z.B. <span property=”dc:title”>Wie schreibt man Digital Humanities richtig…<span> (eine gut verständliche Einführung zu RDFa findet sich hier:http://www.w3.org/TR/xhtml-rdfa-primer/). Nebenbei habe ich auch versucht diesen Blockbeitrag zu “semantisieren”, was allerdings fehlschlug, weil WordPress Attribute wie @property aus den Tags zu entfernen scheint. Aber vielleicht hat dazu jemand eine Idee?

Das Besondere und die Herausforderung, in dieser Art zu schreiben, liegt darin, dass man sich ständig reflexiv mit dem Text auseinander setzen muss. Besonders schwierig ist dabei die Frage, in welcher Tiefe und Granularität Texte ausgezeichnet werden müssen und sollen. Hier bedarf es sicher weiterer Erfahrungen und auch einer gewissen Kanonisierung. Da sich in einem Webumfeld auch die Lineariät des Textes nicht mehr selbstverständlich versteht, muss man als Autor die Visualisierung des Textes im Auge behalten, – und hier gilt es, nicht nur mit Landow an die hypertextuellen Strukturen zu denken (Verlinkungen zu anderen Texten oder Gegenständen), sondern auch an Dinge wie z.B. ein zu- und aufklappbares Inhaltsverzeichnis und Abstrakt. Die Dinge werden also komplizierter, aber, so meine Überzeugung, die Möglichkeiten des strukturellen Schreibens erhöhen auch die Sichtbarkeit, Funktionalität und Nachnutzbarkeit elektronischer Publikationen und ebenen den Weg zu einem semantic web, das auch Forschungsliteratur auf verschiedenen Ebenen des Textes integriert.

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1370

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Von Lichtenberg zu Voyant und TextGrid und zurück

Geoffrey Rockwell, TAPoR-Gründer und Professor der Philosophie und Humanities Computing an der kanadischen University of Alberta, bloggt auf theoreti.ca erfreut zu unserem DH-Film “Virtual Research Worlds: New Technologies in the Humanities”, in den wir ja einige Anwendungen des von ihm mitentwickelten Tools Voyant eingebaut hatten. Und auch der gute Lichtenberg schafft es auf diese Weise von seiner Bank im Hof des Historischen SUB-Gebäudes zu Göttingen in Rockwells Blog zu multimedia, electronic texts, and computer games:

http://theoreti.ca/?p=4648#more-4648

Der Film auf deutsch ebenfalls bei YouTube: “Virtuelle Forschungswelten: Neue Technologien in den Geisteswissenschaften”

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1352

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DH Award 2012 Nominee: Totenbuch-Visualisierung

Bei den aktuellen DH Awards (jeder ist aufgerufen, mit abzustimmen!) sind betrüblicherweise nur 2,5 Kandidaten aus dem deutschprachigen Raum nominiert. Neben dem Blog von Anne Baillot, der immerhin in Berlin “spielt” sind das das Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE) und – für die Kategorie “Best DH visualization or infographic” – eine Visualisierung aus dem “Totenbuch-Projekt” der Universität Bonn, welches von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften gefördert und vom Cologne Center for eHumanities (CCeH) DH-seitig begleitet wird. Die Visualisierung ist ein recht komplexes “Ding” so dass es sich vielleicht lohnt, auch hier noch einmal ein paar erklärende Worte dazu zu verlieren.

Totenbuch-Gesamtvisualisierung

Worum geht es? Es geht um das altägyptische Totenbuch. Das altägyptische Totenbuch ist ein Textkorpus. Eine Sammlung von Sprüchen, die über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder zusammengestellt und aufgeschrieben wurden, um sie einem/r Verstorbenen mit ins Grab zu geben auf dass die Sprüche ihm oder ihr beim Übergang in das Reich der Toten helfen mögen. Das Totenbuch-Projekt dokumentiert die überlieferten Textzeugen (ca. 3000 Totenbücher mit ca. 30.000 einzelnen Spruchnachweisen) und leistet Grundlagenarbeit für die weitere Erforschung des Totenbuchs. Dazu gehört auch, dass man sich einen Gesamteindruck von den einzelnen Sprüchen und ihrer Überlieferung verschaffen möchte.

Häufig und selten überlieferte Sprüche

Die hier zu diskutierende Grafik zeigt zunächst die von der Forschung “kanonisierten” Sprüche in ihrer kanonisierten Reihenfolge. Dabei steht jeder blaue Punkt für einen Spruch. Die Größe des Punktes steht für die Häufigkeit der Überlieferung des Spruches. Man erkennt auf einen Blick, welche Sprüche und Spruchgruppen breit überliefert sind und welche nicht.

Innerhalb des digitalen Textzeugenarchivs als Web-Präsentation des Projekts wird ausgiebig Gebrauch von Visualisierungen gemacht, um die Strukturen und die quantitativen Eigenschaften der überlieferten Textzeugen zu veranschaulichen. Bei dieser Grafik steht eine speziellere Fragestellung im Hintergrund, die einen Schritt in die eher analytische Dimension der Visualisierung markiert. Die Frage lautet: Entspricht die durch die Forschung etablierte kanonische Ordnung der Sprüche (die hauptsächlich auf einem Leitzeugen beruht) der Wirklichkeit der Gesamtüberlieferung? Wie gut entspricht sie ihr? Und wie kanonisch ist die Abfolge der Sprüche auf den Textzeugen wirklich?

Dazu visualisiert die Grafik die Nachbarschaftsverhältnisse zwischen Sprüchen. Es wird ausgezählt, wer die Nachbarn eines Spruches auf einem Textzeugen sind. Auf den überlieferten Objekten häufig benachbarte Sprüche werden in der Grafik durch Linien verbunden. Je dicker die Linie, desto häufiger ist eine Nachbarschaft belegt. Gäbe es eine deterministische Reihenfolge im Textkorpus, dann gäbe es nur eine einzige Verbindungslinie durch alle Sprüche. Wäre die Reihenfolge ganz beliebig, dann gäbe es eine große Zahl unterschiedlichster Verbindungslinien zwischen den Sprüchen. Die Gesamtvisualisierung liefert hier ein recht deutliches Signal: wenn man bedenkt, dass die Überlieferung einen langen Zeitraum (2.300 Jahre), eine große geografische Spannweite (17 Breitengrade), unterschiedlichste materielle Objekte (von Papyrus über Mumienbinden bis zu Grabinschriften) und verschiedenste Überlieferungszustände umfasst, dann ist die Abfolge als durchaus wenig variant zu betrachten. Und sie steht zunächst nicht im Widerspruch zu der Abfolge, mit der die Forschung selbst arbeitet. Ein genauerer Blick kann aber weitere Fragen anstoßen, die diesen Gesamteindruck bestätigen oder relativieren.

Scheinausreißer

Schnell fallen dabei einige dicke Linien auf, die der These einer relativ festen Abfolge zu widersprechen scheinen. Dies ist aber manchmal darauf zurückzuführen, dass aus inhaltlichen Gründen im Projekt Sprüche zusammengelegt wurden, die einen ähnlichen Text bieten. Die stärkste Verbindung von Spruch 47 scheint z.B. nach oben ganz woanders hin zu gehen, tatsächlich zielt sie aber auf Spruch 10/48. Hätte man die beiden nicht zusammengelegt, dann wäre die Reihe durchaus intakt. Das gleiche gilt für die nach unten gehende Linie bei Spruch 50, die auf Spruch 11/49 zielt.

Was ist hier los?

Andere Fälle erklären sich nicht in der gleichen Weise von selbst. So ist die Reihung von 136 zu 137 möglicherweise fragwürdig. Denn ein unmittelbarer Nachbar von 136/136A bzw 136B ist nur in 14 Fällen Spruch 137. Dagegen folgt auf 136B allein 49 mal Spruch 149 und auf 136/136A allein 47 mal Spruch 138 oder 139. Allerdings bedeutet das immer noch nicht, dass eine andere Reihung zu einem “glatteren” System führen würde. Hier wäre vielleicht in einem nächsten Schritt eine differenziertere Untersuchung anzusetzen, die z.B. Zeitstufen oder andere Gruppierungsmerkmale in den Blick nehmen könnte, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Dies sind nur willkürliche Beispiel dafür, wie die Gesamtgrafik gelesen werden kann. Sie kann nichts weiter sein als ein ersten Schritt zu einem Verständnis der Gesamtstruktur und erste Einblicke in Details bieten. Dazu bedient sie sich mit der Berücksichtigung nur unmittelbarer Nachbarschaften eines sehr einfachen Modells, das methodisch durchaus fragwürdig ist und ggf. weiter zu verfeinern wäre.
Eines der hier leitenden Designziele ist das Konzept von “Overview & Detail”: man will zugleich einen Gesamteindruck herstellen UND bei näherer Betrachtung (am Bildschirm muss man wohl vom “reinzoomen” sprechen) immer feinere Details erkennbar machen. Das hat, wenn man es konsequent verfolgt, durchaus Nachteile und Kosten: Die Grafik ist recht groß. Zu groß für einen Monitor. Das aber ist Absicht. Es geht um eine Gesamtvisualisierung mit dem Potential für lokale Detailstudien.

Das Ding in meiner Küche

Das Ding im Besprechungsraum

Deshalb war das Ziel von Anfang an nicht eine Darstellung in den Grenzen eines Browserfensters. Tatsächlich sind die größeren Fassungen auch gar nicht vollständig in normalen Browserfenstern darstellbar, weil z.B. Firefox nur ein 7-faches Herauszoomen ermöglicht – und damit ist man immer noch nicht weit genug weg. Die Grafik ist trotzdem auf eine Breite von 210cm ausgelegt worden. Denn hier geht es nicht nur um die Digitalisierung einer materiellen Überlieferung, sondern auch um die Materialisierung digitaler Daten! Die Grafik funktioniert am Bildschirm als Werkzeug für Detailstudien. Hier offenbart auch jede Verbindungslinie beim onmouseover Start- und Endpunkt sowie die absoluten Fallzahlen. Für das Paradigma des Overview&Detail aber muss man seinen Schreibtischstuhl verlassen und die Maus loslassen. Ihre eigentliche heuristische Kraft entfaltet “die Tür”, wie wir den Ausdruck auf einer Forex-Platte nennen erst, wenn man sich vor sie stellt, sie abschreitet und vor- und zurücktritt. Erst diese körperliche Auseinandersetzung mit dem materiellen Objekt, sei es (derzeit, leihweise) in meiner Küche oder im Besprechungsraum des Instituts, entspricht der Informations- und Interaktionsintention der Visualisierung.

Die Menschen dahinter? Die Programmierung lag bei Ulrike Henny, ausgehend von und in einem Prozess der Konzeption und Diskussion mit anderen Kollegen vom CCeH. Wirklich “gemacht” haben aber vor allem die Daten, auf denen alles beruht, eine große Zahl ägyptologischer Fachwissenschaftler, zuletzt unter der Leitung von Marcus Müller, die alle Informationen in den letzten 20 Jahren zusammengetragen haben. Ohne diese Arbeit wüssten wir nichts und könnten nichts sehen.

Die Technik dahinter? Eine xQuery-Abfrage auf den Daten in einer XML-Datenbank (eXist) schreibt eine SVG …

Ausgangsdaten, lokales XML

xQuery schreibt …

… SVG (reduziert)

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1315

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Das nächste Kapitel aufschlagen! Die Digital Humanities auf den Hochschul- und Berufsinformationstagen (hobit) in Darmstadt

Was sind eigentlich diese Digital Humanities, was macht man da(mit) denn? Diese Fragen unserer “traditionell” ausgerichteten FachkollegInnen haben wir sicherlich alle schon häufig beantworten müssen. Nun, da die DH im Begriff sind, sich zu institutionalisieren, Professuren eingerichtet werden, Module, Schwerpunkte und Studiengänge entstehen, müssen wir auch die Fragen von SchülerInnen, Studieninteressierten und wissenschaftlichem Nachwuchs beantworten. Da an der TU Darmstadt zum einen bereits Erfahrungen in dem seit 2006/07 akkreditierten Masterstudiengang Linguistic and Literary Computing (LLC) bestehen, zum anderen konkrete Pläne zur Entwicklung eines BA-Studienganges Digital Philologies verfolgt werden, sollten Wege gefunden und Materialien konkret erprobt werden, diese Adressatengruppe zu informieren – im Idealfall zu begeistern! Eine weitere Überlegung war, dass Studierende nicht nur die InteressentInnen am besten informieren können, sondern dass es darüber hinaus zu den Berufs- und Schlüsselkompetenzen gehören muss, adressatenorientierte Info-Materialien zu erstellen. Im Rahmen des Seminars “Was sind Digital Humanities? Grundlagen, Voraussetzungen, Vermittlung” des laufenden Wintersemesters 2012/13 haben daher Studierende aus den Studiengängen Joint BA Germanistik, Master Germanistik und Master LLC verschiedene Materialien zusammengestellt, die über die Digital Humanities und entsprechende Studienmöglichkeiten an der TU Darmstadt informieren. Diese Materialien kamen gewissermaßen im Praxistest zum ersten Mal auf den Darmstädter Hochschul- und Berufsinformationstagen (hobit) zum Einsatz, wo die Seminar-Gruppe ebenfalls die Betreuung des Infostandes, der alle Studiengänge des Instituts für Sprach- und Literaturwissenschaft präsentierte, mitübernahm. Da die hobit von zahlreichen SchülerInnen der Rhein-Main-Region besucht werden, die sehr gezielte Fragen nach Ausbildungsinhalten, bedingungen und Berufsperspektiven mitbringen, bot sich eine ausgezeichnete Gelegenheit zum Praxistest. Flankiert wurden die Stand-Aktivitäten durch Vorträge der Lehrenden, die mit jeweils über 100 Interessenten gut besucht waren.

Konkrete Erfahrungen: 1. Bei der Erstellung 2. Auf der Messe 3. Lessons learned.

1. Bei der Erstellung: Eine Herausforderung des Seminars bestand darin, dass die 18 TeilnehmerInnen unterschiedliche Voraussetzungen in Bezug auf den Kenntnisstand zu den DH mitbrachten, da es polyvalent für unterschiedliche Module eingesetzt werden konnte. Im Joint BA Germanistik stand es für die Module Sprache in Texten sowie für den Optionalbereich zur Verfügung, im Master Germanistik deckte es die Felder Texte und Editionen, Angewandte Linguistik und Sprache im Beruf ab, und im Master LLC schließlich die Bereiche Texte und Editionen sowie die Projekte Corpuslinguistik oder Computerphilologie. Diese bewusst gewählte Zusammenstellung von Voraussetzungen und Anforderungen erwies sich jedoch wie erhofft als Vorteil für die Kreativität und die Möglichkeiten zur Zusammensetzung und Ausrichtung der Teams: In vier eng zusammenarbeitenden und ständig interagierenden Unter-Gruppen wurden folgende Materialien erstellt:

• Gruppe 1: Homepage- und Flyertexte – Salmana Iqbal, Christina Klingler, Nicole Volz, Nicole Woitzik
• Gruppe 2: Poster & Flyer – Sascha Bay, Florian Enders, Tim Feuerbach, Antoine McCracken
• Gruppe 3: Berufsperspektiven – Karla Ayllon, Raissa Breder-Bigoszewski, Lena Jungbauer, Sebastian Steinhaus, Nurhayat Yasar
• Gruppe 4: Filme, Präsentationen & Interviews – Leonie Blumenschein, Fenja Kastendiek, Nadezhda Petrova, Christopher Tauchmann, Livia Weber

In den ersten Sitzungen wurde geklärt, wo die notwendigen Sachinformationen eingeholt werden konnten, wo die Kompetenzen und Interessen der TeilnehmerInnen lagen und welche Materialien erstellt werden sollten. Die entsprechenden Gruppen fanden sich zusammen, erste Konkretisierungen der gemeinsam beschlossenen Ideen wurden in den Gruppen selbständig erarbeitet.

Es folgte eine Plenumsphase, in der die Ideen zur Diskussion gestellt, kritisch reflektiert, optimiert und untereinander abgestimmt wurden. In weiteren Iterationen wechselten sich Gruppenarbeitsphasen und Plenums-Rückkopplung ab. Viel Zeit wurde außerhalb der Seminarsitzungen investiert. Alle TeilnehmerInnen blieben dem Seminar treu, niemand sprang ab.

2. Auf der Messe.

Hobit Darmstadt 2013 – Stand des Instituts für Sprach- und Literaturwissenschaft

Realitätskonfrontation: Der Stand ist klein, eng, versteckt. Die Poster drängeln sich auf den erkämpften Stellwänden, der Bildschirm, auf dem der Film läuft, könnte größer sein, der Ton geht im Lärm des allgemeinen Messe-Gewirrs unter. Dennoch: Die Lust, mit der alles zusammengestellt wurde, wird deutlich, der Stand quillt über vor Material, Konventionelles (Bücher, Gummibärchen) mischt sich mit Originellem (Poster, Film, Quiz, Buttons …).

DH Darmstadt Buttons

Mit viel Aufregung und ein wenig Unsicherheit (Wieviele InteressentInnen werden vorbeikommen? Werden sie uns überhaupt finden? Wie spreche ich schüchtern vorbeischauende SchülerInnen an? Welche Fragen werden sie stellen? Weiß ich genug über unsere Studiengänge und Berufsperspektiven?) werden die ersten Gespräche geführt und Flyer verteilt, schließlich sogar gezielt SchülerInnen an den Stand gelockt. Zu den Stoßzeiten geraten wir in den Beratungsflow – die Zeit verfliegt, wir reden und reden. Bei Flaute (am Nachmittag) tauschen wir uns untereinander und mit den KollegInnen an den Nachbarständen aus. Was uns erstaunt (warum eigentlich?): Viele SchülerInnen erzählen uns, dass sie gerne und besessen lesen, gerne mit Sprache umgehen, dass sie daher den dringenden Wunsch verspüren, Germanistik zu studieren; viele finden die Digital Humanities aufregend, weil sie neu sind, die SchülerInnen äußern sich mutig und experimentierfreudig; sehr viele interessieren sich vor allem für konkrete Berufsperspektiven und wissen die Darmstädter Germanistik-Einbettung in das spezifische Umfeld einer technischen Universität, die Ausrichtung auf Angewandte Linguistik, Deutsch als Fremdsprache und Digital Humanities besonders zu schätzen, können die Rahmenbedingungen kritisch einordnen und würdigen.

3. Lessons learned: Man hat immer zu wenig Zeit. Die Materialien werden trotzdem fertig, denn alle geben 200%. Die Möglichkeit, nicht nur für die Schreibtischschublade der Lehrenden, sondern für einen praktischen Einsatz zu arbeiten, verbunden mit der Möglichkeit zu konkreter persönlicher Bewährung setzt Kreativität, Arbeitslust und Verantwortungsbewusstsein frei. Spaß!

Was haben die Studierenden (für die Digital Humanities und für ihre persönliche Bildung) erreicht?
• neues Wissen, Wissen recherchieren, bündeln, auswählen
• Texte adressatenadäquat konzipieren und schreiben
• Text- und Bildsprache reflektieren
• Verantwortung für gemeinsame Projektergebnisse übernehmen, Qualitätssicherungsprozesse
• Team- und Zeitmanagement, Organisation verteilter Arbeitsprozesse
• Berücksichtigung von Designvorgaben und Urheberrecht
• Softwarekenntnisse
• Kommunikationskompetenz (untereinander und nach außen), Umgang mit Kritik (äußern und annehmen, produktiv umsetzen)
• Vermittlungskompetenz, schriftlich und mündlich
• Selbstreflexion: warum studiere ich eigentlich Germanistik/LLC, was erwarte ich für mich und meine
Berufsperspektiven davon? Identifikation mit der Institution und der “Fachheimat”

Was haben wir als Lehrende und als VertreterInnen der sich entwickelnden und etablierenden Digital Humanities gelernt? Das Interesse für neue Studieninhalte und Studienfächer ist riesig – das bestärkt uns im Plan der Entwicklung eines BA-Studiengangs. Gute Beispiele, die veranschaulichen, was Digital Humanists machen, womit sie sich beschäftigen, sind wichtig, genauso wichtig ist aber auch die Zukunfts-, die konkrete Berufsperspektive – ich denke, damit können wir besonders gut punkten. Die Verbindung von Forschung, Abstraktionsvermögen, Theorie- und Modellbildung, die einhergeht mit der Rückbindung an die Praxis, an materielle Artefakte des kulturellen Erbes, an Werkzeuge, an konkrete Anwendungsmöglichkeiten – was die Digital Humanities ja auszeichnet –, stößt auf größtes Interesse und vermag zu überzeugen. Studierende als “Vermittlungsinstanzen” können Ängste der InteressentInnen gut abbauen (Ist die Informatik zu schaffen? Muss ich diesen oder jenen Leistungskurs belegt haben?). Die Digital Humanities haben sich hier als “junge”, offene, mutige Disziplin bestätigt.

Fazit: Im nächsten Jahr unbedingt wieder! Ein herzlicher Dank geht an alle TeilnehmerInnen des Seminars, alle HelferInnen, alle InteressentInnen und an die diesjährigen Organisatorinnen des Instituts-Messestandes Sandra Denzer und Lisa Rhein!

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1258

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TextGrid sucht Wissenschaftlich-technische/n Software-Architekt/in

Im Arbeitspaket “Betrieb und Softwarepflege Repository”, betreut von der SUB Göttingen, sucht TextGrid für den Bereich Technisches Qualitätsmanagement

eine/n wissenschaftlich-technische/n Software-Architekt/in in Teilzeit (75%, TV-L 13) .

Aufgaben sind u.a.

  • die innovative Weiterentwicklung der TextGrid-Middleware in Zusammenarbeit mit der GWDG, Weiterentwicklung der TextGrid Indizierungs-Infrastruktur für die Recherche in Bezug auf Ausfallsicherheit, Skalierbarkeit und Performanz
  • die wissenschaftliche Konzeption, technologische Begleitung und Dokumentation verschiedener TextGrid Publikations-Prozesse und -Workflows
  • und die Konzeption und Umsetzung von Monitoring-Konzepten für die TextGrid-Infrastruktur in Bezug auf Ausfallsicherheit, Skalierbarkeit und Performanz.

Vorausgesetzt werden u.a.

  • Hochschulstudium der Informatik oder vergleichbare Qualifikation
  • Erfahrungen im Aufbau von (verteilten) Repositorien, z.B. mit Fedora, iRODS etc.
  • Erfahrungen mit Lucéne und SOLR
  • Programmierkenntnisse und grundlegendes Verständnis von Service-Architekturen wie z.B. SOAP und REST
  • Gute Kenntnisse in XML und verwandten Themen, wie TEI, XSLT, XPATH
  • Gute Kenntnisse in RDF
  • Sehr gute Kenntnisse in Linux

Bewerbungsschluss ist der 15.02.2013.

Stellenausschreibung und weitere Infos hier.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1304

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DH Summer School Bern 2013

 

 

 

 

 

Ab sofort kann man sich für die diesjährige DH Summer School in Bern (26.-29.06.2013) registrieren:

http://www.dhsummerschool.net/

Auf dem Programm stehen bislang folgende Plenary Sessions:

  • History and Futures of Digital Humanities (Susan Schreibman, Trinity College, Dublin)
  • Digital Textual Editing (Elena Pierazzo, King’s College, London)
  • Social Knowledge Construction and Creation in Literary Studies Environments (Ray Siemens, University of Victoria, Canada)
  • Digital Humanities and Cultural Criticism (David Berry, Swansea University)
  • Historical Data Representation and GIS (Frederic Kaplan, Ecole Polytechnique de Lausanne)
  • Quantitative research methods and network analysis (Claire Lemercier, SciencePo Paris)

Außerdem folgende Workshops / Tutorials:

  • Collaborative work practices in the Digital Humanities (Lynne Siemens, Victoria University)
  • Historical Sources Criticism in the Digital Age (Pascal Föhr, Basel University)
  • Introduction to Network Visualisation with GEPHI (Martin Grandjean, Lausanne University)
  • Multimedia Literacies (Claire Clivaz et al., Lausanne University)
  • Prototyping and Visualizing Virtual Places (Eric Champion, Aarhus University)
  • TEI and Musicology (Laurent Pugin & Claudio Bacciagaluppi, Bern University)
  • Zotero and Citation Management Softwares (Nicolas Chachereau, Lausanne University)

Eine unconference rundet das Programm ab.

Die Teilnehmerzahl ist auf 60 beschränkt!

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1284

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Der Hype um das Internet, die digitale Welt und der ganze Rest #rkb13

Die Titelgrafik der RKB-Tagung basiert auf einem Design von Moma Propaganda, São Paolo. www.momapropaganda.com.br

 

Die RKB-Tagung in München ist gerade vorüber. Wer nicht dabei sein konnte, hatte via Twitter und über hypotheses.org die Möglichkeit “live” dabei zu sein und auf dem neuesten Stand zu bleiben. Nun freut es umso mehr, dass sich die Süddeutsche Zeitung ausgiebig mit dem Thema der Wissenschaftskommunikation befasst (Ausgabe 29 vom 4.2.2013, S. 9).

Exempli gratia ist der Publikationsprozess, samt vorgelagerter Erarbeitung von Informationen, wobei die Reduktion auf den Begriff “filtern” eher zu pauschalisierend ist, bis zur Thesenentwicklung und anschließendem Schreibprozess. Schlagwörter wie “Open Access” dürfen in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Der Rückgriff auf die Infrastrukturen als Allheilsbringer der Geisteswissenschaften geht dann doch etwas weit. Hier werden wissensgenerierende Methoden zu stark mit dem Output der Wissenschaften verknüpft, mit dem Paper, mit dem Buch, mit der Online-Publikation. Denn auf einen solchen Output hinzuarbeiten, dürfte keinem Infrastrukturprojekt als Ziel dienen. Wenn dies so wäre, dann würden Infrastrukturen zu stark an einzelne Projekte und Forschungsvorhaben gebunden sein. Das dem nicht so ist, sollte klar werden, schaut man auf die heterogene Nutzerlandschaft, die gesamten Geisteswissenschaften.

Aber allein durch die Nutzung digitaler Tools wie Mendeley, Geobrowsern oder Visualisierungsumgebungen wie Gephi beginnt keine neue Epoche. Die Fragestellungen sind – ja, sie dürfen es auch explizit sein – die gleichen wie zuvor. Denn das bestätigen oder verwerfen alter Thesen ist ein guter Anfang um schließlich neue Fragestellungen zu entwickeln und diese auch an einer großen Masse an Daten überprüfen zu können. Erst an dieser Stelle kommt die Infrastruktur ins Spiel, deren Rolle zwar zentral ist, die aber den nach wie vor analogen Vorgang der Hypothesenbildung wenn überhaupt nur ein wenig unterstützen kann. Das bedeutet, dass das überaus kreative Vorgehen und Arbeiten in der Wissenschaft nach wie vor nicht von Maschinen ersetzt werden kann.

Der Spiegel schrieb im April 1957 im Zusammenhang mit Roberto Busas Corpus Thomisticus von “Text-Analyse durch Elektronen-Gehirne” (S. 62) und die innerkirchliche Diskussion – zu den vom Teufel persönlich entsandten Maschinen – blieb nicht aus. Vielleicht ist die aktuelle Diskussion davon nicht so weit weg. So klingt es zumindest etwas esoterisch, wenn vom “magischen [...] Vorsprung” durch Technik geschrieben wird; im SZ-Artikel und auch in den Tweets.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1248

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Happy Birthday! Ein Jahr DHd-Blog

Kaum zu glauben: Der DHd-Blog wird dieser Tage bereits ein Jahr alt. 131 Artikel, 194 Kommentare, rund 40 Autorinnen und Autoren haben seit  Januar 2012 den Blog zu einem etablierten Forum für die Digital Humanities in Deutschland gemacht – für aktuelle Themen und Entwicklungen, für Veranstaltungshinweise und Stellenanzeigen, für Information und Diskussion. Solche (virtuellen) Orte sind im deutschsprachigen Raum bislang noch spärlich gesät; an der Bündelung der Kräfte und Energien wird vielerorts gearbeitet. Dazu ist der Blog als gleichsam „überparteiliches“ Medium hervorragend geeignet. Er trägt dazu bei, den vielen Stimmen der deutschsprachigen Digital Humanities einen lebendigen Raum zu geben.

Herzlichen Dank deshalb an alle Beiträgerinnen und Beiträger für ein spannendes Jahr, verbunden mit der Aufforderung, auch in Zukunft zu berichten, zu diskutieren und zu informieren – kritisch, streitbar und anregend!

Das DHd-Blog-Team

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1241

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Lokführer- Stadtteilarchiv Ottensen

von Birgit Gewehr -

Auf dem Gleisdreieck Altona soll nach der Verlegung der Fernbahn nach Diebsteich eine neuer Stadtteil entstehen – das größte Neubauprojekt in Hamburg nach der Hafencity. Schon in seinem derzeitigen Planungsprozess stößt es auf großes, auch kritisches Interesse und wird ganz Hamburg in den nächsten Jahren sicherlich intensiv beschäftigen. Das Stadtteilarchiv Ottensen erarbeitet zur Zeit als Geschichtswerkstatt für Altona eine Ausstellung, zu der bemerkenswerten Geschichte dieses Ortes. Die Ausstellung: Achtung! Zug fährt ab. Geschichte des Eisenbahnknotens Altona – Arbeitsalltag, Nachbarschaft, Umbruch wird im Frühjahr 2013 eröffnet.

Das Porträt des ehemaligen Lokführers Jochen Lawrenz gibt einen Einblick in seinen Arbeitsalltag im Bahnbetriebswerk Altona, seit seiner Eröffnung 1895 eines der größten und bedeutendsten in Deutschland. 1992 wurde es endgültig stillgelegt. An die Dampflokinfrastruktur erinnert heute noch der unter Denkmalschutz stehende Wasserturm.

 

Das Bahnbetriebswerk Altona mit den Lokomotivschuppen und Drehscheiben 1960 / Foto: Jochen Lawrenz
 
 

Schon als Kind zog es Jochen Lawrenz, Jahrgang 1935, mit Spielkameraden an den Bahnhof seines Heimatdorfes Steinbek bei Bad Segeberg, um die Lokomotiven zu sehen. „Ich habe als Schüler beim Bauern gearbeitet, in den Ferien, hab mir Geld verdient und hab mir die ersten Märklin-Modelle in einem Spielwarenladen in Altona in der Ottenser Hauptstraße gekauft.“ Entgegen dem Wunsch seiner Eltern strebte er einen technischen Beruf an. „Lokführer war für mich ein Traumberuf. Für meine Mutter war es eine Art Albtraum. Jeden Tag lag sie mir in den Ohren, wie gefährlich es auf der Lok ist und alle möglichen Unfälle wurden dramatisch geschildert. Mein Vater sah alles gelassener, schlug aber einmal vor, Uhrmacher zu werden, da sitzt man in der warmen Werkstatt oder bedient im Laden die Kundschaft. Konnte mich alles nicht reizen.“

„Wir mussten alle Drecksarbeiten durchlaufen.“ Ausbildung zum Lokführer

Wer Lokführer werden wollte, musste einen Gesellenbrief als Schlosser, Elektriker oder in einem ähnlichem metallverarbeitenden Handwerk vorlegen, gute Leistungen nachweisen und mindestens 21 Jahre alt sein. Jochen Lawrenz machte von 1954 bis 1957 im Bundesbahn-Ausbesserungswerk Glückstadt eine dreijährige Lehre als Maschinenschlosser.

„Dann war ich Lokführerbewerber und hatte mich natürlich für das Bahnbetriebswerk Hamburg-Altona beworben. Da wollten alle hin, weil die Schnellzüge hatten, weil das eine tolle Dienststelle war, das war das größte Betriebswerk in Norddeutschland.“ Doch im April 1957 kam er zum Bahnbetriebswerk (Bw) Hamburg-Eidelstedt. „Und da musste man alles mal durchlaufen, alle Drecksarbeiten. Anfangs hab ich mit meinem Kollegen Kokswagen abgeladen, einer hat immer geschaufelt und der andere hat die Kohlen unten in den Heizungskeller reingeworfen. Dann nach ein paar Tagen mussten wir mit drei Mann Dampflokomotiven putzen. Gearbeitet wurde wie am Fließband. Der erste Kollege entfernte den Ruß und Dreck mittels Bürste und Putzwolle. Der zweite ölte mit einer Zerstäubungsvorrichtung und Altöl den Kessel, das Führerhaus und die Seitenflächen des Tenders ein. Der dritte rieb dann mit Putzwolle alles blank.

 

Lokomotivführer Jochen Lawrenz auf einer Lok aus dem Bahnbetriebswerk Hamburg-Altona 1970 / Foto: Jochen Lawrenz
 
 

Als das dann durch war – wir mussten zwei große Lokomotiven sauber machen und eine kleine – wurden wir auf dem Ausschlackkanal beschäftigt: Lokomotiven ausschlacken, das war ganz schwere Arbeit. Da waren zwei Gleise, die waren gegeneinander aufgeständert und da unten schwamm Wasser in der Grube, das war in Altona ganz genauso. Die Rostfläche hatte bis zu viereinhalb Quadratmeter und in der Mitte war ein Teil absenkbar und dann fiel die ganze Schlacke raus auf eine schiefe Ebene unten ins Wasser rein und wurde da gelöscht. Das waren feste Leute; aber die jungen Leute, die Lokführer werden wollten, die liefen da mit und mussten mit Schichtdienst machen. Die Lok kam an, dann wurde der Wasserkran rumgedreht und der Deckel vom Tenderwassereinlauf oben aufgemacht und der Wasserkran aufgedreht. Dann ist man zur Rauchkammer vorne am Kessel gegangen, hat die große Tür aufgemacht und dann wurde die Rauchkammer leer geschaufelt – der ganze Ruß und Dreck, den der Funkenfänger festgehalten hat – damit das nicht aus dem Schornstein flog und Brände verursachte.“

Ab August 1958 begann seine einjährige Schlosserzeit an Dampflokomotiven im Rahmen der Lokführerlaufbahn. Jochen Lawrenz führte im Schichtdienst kleinere Reparaturen an den Loks durch. Nach einem Jahr folgte dann eine Zeit als Heizer im Rangierdienst oder im leichten Streckendienst auf der Dampflok und begleitend der Besuch der Heizerschule im Bw Eidelstedt. 1960 wurde Lawrenz zum Bw Husum versetzt. Von dort führten ihn viele Einsätze nach Altona. „Eigentlich hatten es mir von da an die großen und imponierenden Bahnanlagen des Bahnhofes und des Bahnbetriebswerkes Hamburg-Altona angetan.“

Nach einem Jahr Erfahrung als Schlosser und zwei Jahren als Heizer konnte er den fünfwöchigen Lehrgang an der Lokfahrschule in Eidelstedt besuchen und bestand im Mai 1961 die praktische und theoretische Lokomotivführerprüfung.

„Die 1084 war ein sehr guter Dampfmacher.“ Auf einem Probezug nach Altona

1962, mit 24 Jahren, begann Jochen Lawrenz auf der Lok zu fahren, zunächst als Lohnempfänger und dann verbeamtet als Reservelokführer auf Probe. Erst ab dem 27. Lebensjahr konnte man Beamter auf Lebenszeit werden. Seine Heimatdienststelle war das Bahnbetriebswerk Husum. Er fuhr die Strecken von Husum nach Altona, Westerland, Bad St. Peter-Ording, Lübeck, Rendsburg und Kiel und zurück; oft machte er Dienst auf „Rundfahrten“, die in Altona endeten.
„Die Pausen waren schön in Altona, die hatten eine tolle Kantine, da war immer Leben, die war auch nachts auf, eine eigene Kantine im Bahnbetriebswerk, neben dem Lokrundschuppen. Oben waren die Übernachtungsräume; da war auch ein Übernachtungswärter, der einen empfing und einem ein Zimmer gab, er hat die Leute auch geweckt. Im Laufe der Zeit wurde er eingespart, da kriegte das Personal von der Lokleitung einen Wecker.“

Am 28. August 1967 hatte Jochen Lawrenz Dienstschicht auf der Strecke von Kiel nach Altona. Er fuhr mit einer ölgefeuerten Dampflok der Baureihe 01, der 01 1084, die vor einem Probezug aus 13 neuen Wagen aus dem Ausbesserungswerk Neumünster eingesetzt wurde. Lawrenz war als Reservelokführer und Heizer dem Hauptlokführer Hans Heinrich Hansen – im Führerstand rechts auf der Lok – zugeteilt. „Nachdem Hans-Heinrich und ich die Lok kurz angeguckt hatten und der Kesseldruck noch bei 10 atü stand, gingen wir erst einmal zum Mittagessen in die Kantine… Der Kesseldruck war nun auf achteinhalb gefallen. Mit dem Zünden der Ölfeuerung warteten wir aber lieber noch ein wenig, um den Kesseldruck noch weiter absinken zu lassen. Durch Dampfverbrauch nach Abstellen von Luftpumpe, Lichtmaschine und Hilfsbläser kamen wir rasch auf rund 5 atü runter. Jetzt erst öffnete ich die Feuerkastentür und warf brennende Putzwolle vor den Brenner. Der Saugzug des warmen Kessels fachte sofort die Flammen an. Nun die Klappe wieder zu, Verriegelung davor, Brennerdampf auf und dann das Öl. Wumm – und die Brenner tosten. Der abgesunkene Kesseldruck bot die Gewähr dafür, dass die Feuerung nun ausreichend brennen konnte, um die Ausmauerung der Feuerbüchse richtig warm zu bekommen, möglichst hell glühend. Nur so konnte man nach der Abfahrt Spitzendruck liefern. Ganz allmählich stieg bei geringem Brenndampfdruck der Zeiger des Kesseldruckmanometers auf 8 atü, und dann sollte es schon losgehen. Mittels Achtungspfiff holte mein Meister den Drehscheibenwärter aus der Bude, die Scheibe wurde uns vorgedreht und dann vorsichtig den Regler auf, Zylinderhähne auf, und unter lauten Zischen setzte sich die Maschine in Bewegung.“

 

Eine Altonaer 03er Lok, gebaut in den 1930er Jahren, auf der Drehscheibe in Altona, 1967 / Foto: Jochen Lawrenz

 

Nachdem Jochen Lawrenz auf dem Abstellbahnhof Kiel-Ost die Lok an den Zug gekuppelt hatte, ging die Fahrt los. „Der Kesseldruck war inzwischen auf 11 atü gestiegen, die Bremsprobe wurde mittels Handzeichen ausgeführt… 13 Wagen hatten wir am Band, 463 Tonnen Zuggewicht. ‚Gottverdammich’, bemerkte Hans-Heinrich, ‚dor kömmt sacht bös an rieten [reißen]!’ Inzwischen hatte ich den Heißdampfbrenner voll losgedreht, sowie auch die Nassdampfbrenner, um einen noch höheren Brennerdruck zu erhalten und damit ein Optimum an Öl möglichst rauchfrei verbrennen zu können. Die vordere Luftklappe hatte ich bereits vorhin im Bw vor dem Zünden richtig geöffnet und so stieg der Kesseldruck unmittelbar vor der Abfahrt langsam auf 16 atü an, so dass die Kesselsicherheitsventile bereist anfingen unruhig zu werden. Bereits um zwei Minuten war die planmäßige Abfahrtszeit überschritten. Dann endlich „Ausfahrt frei“ … Vorsichtig öffnet Hans-Heinrich den Reger, schließt die Zylinderhähne, und die Maschine reißt am Zughaken, um dann einen Moment zu verharren, dann erst setzt sich der Zug in Bewegung. Es ist immer wieder ein imponierender Vorgang, diesen Moment höchster Kraftanstrengung zu erleben… Die 1084 war ein sehr guter Dampfmacher und ein guter Schnellläufer bei hohem Leistungsvermögen.“ Sie erreichten ihr Ziel, den Abstellbahnhof Hamburg-Langenfelde, sogar „zwei Minuten vor Plan“. Von dort fuhr die abgekoppelte Lok ins Bahnbetriebswerk Altona. „Die Lok wurde auf dem Ausschlackkanal mit Heizöl betankt, und gleichzeitig nahmen wir Wasser. Bereits vorher hatte ich die Schlepp- und die vordere Kuppelachse abgeölt, weil man beim Wasserfassen da nicht mehr herankam. Das Abölgeschäft war natürlich nicht jedermanns Sache, aber auch das gehörte wie selbstverständlich dazu und musste in Kauf genommen werden. Nach Abschluss aller Arbeiten und Meldung einer Reparatur nahmen wir unser vom Lokleiter zugeteiltes Übernachtungszimmer in Beschlag, wobei der Führer ganz wie auf der Lok das rechte Bett und der Heizer das linke Bett nahm. Solche Marotten pflegten wir gerne.“

„Altona hatte imposante Anlagen!“

Jochen Lawrenz wohnte in Lübeck, war „beheimatet im Bw Eidelstedt, aber große Teile seines Berufslebens spielten sich im Bw Altona ab. „Wer in Altona war, der wusste, dass er auf einer tollen Dienststelle ist.“ Seit der Eröffnung 1895 war das Bahnbetriebswerk Altona eines der größten und bedeutendsten in Deutschland und die wichtigste Dienststelle für den Fernreiseverkehr im Hamburger Raum. Dort wurden die Züge unterhalten, bevorratet und eingesetzt. Den Bahnhof Altona liefen sehr viele Reisezüge an, die hier endeten oder „Kopf machten“, die Fahrtrichtung wechselten und neu bespannt weiterfuhren. Das Betriebswerk war technisch immer auf der Höhe seiner Zeit, über die Jahrzehnte wurden zahlreiche Umbauten durchgeführt.

Die Ausschlackungsanlage war dreigleisig – „ein Riesenbetrieb“, wie Lawrenz betonte. „Altona hatte imposante Anlagen.“ Das Gleis des linken Ausschlackkanals wurde zu seiner Zeit schon als Dieselloktankstelle genutzt. Beim Ausschlacken fiel die glühende Schlacke in einen mit Wasser gefüllten Schlackensumpf unter der Lok und wurde sofort abgelöscht. 1955 war ein neuer Wasserturm nah der Entschlackungsanlage gebaut worden. Jochen Lawrenz erinnert sich an die Einfahrt in Altona: „Die Fahrt endete ja quasi am Prellbock in Altona in der Halle. Meistens Gleis 6, 8, 9. Entweder der Zug ging weiter nach Hannover oder Osnabrück, der kriegte eine neue Altonaer Lok, oder er endete in Altona, dann wurde mit einer Rangierlok der Train [der Zug] abgezogen, entweder er ging nach Langenfelde oder zum Schäferkamp. Man fuhr mit der Lok langsam rückwärts hinterher bis ans Ausfahrsignal und dann kriegte man Licht, zwei weiße Lichter, und dann waren die Weichen Richtung Bahnbetriebswerk gestellt, Richtung Ausschlackkanal, und denn ging das los: Rauchkammer reinigen, Ausschlacken, Wasser nehmen. Bei den ölgefeuerten Loks wurde nur Wasser genommen und Öl gebunkert. Das Lokpersonal hat dann schon angefangen die Lok abzuölen. Vor dem Ausschlacken, schon beim Reinfahren nach Hamburg-Altona, hatte der Heizer ein Reservefeuer angelegt, das blieb liegen und alles andere wurde beim Ausschlacken rausgeschmissen. Während der Ausschlackung hat man Papierkram gemacht oder sich mit der Lok beschäftigt, alles mal abgeklopft, ob alles in Ordnung war, schon mal eine Bremsprüfung gemacht. Die Ausschlackung dauerte zehn Minuten.“

Die Großbekohlungsanlage mit ihrem riesigen Kohlenlager und einem Portalkran war Anfang der 1950er Jahre erneuert worden. Die großen Schlepptender der Dampflokomotiven wurden hier aus einem Kohlewiegebunker mit sechs paarweise eingesetzten Schüttbehältern beladen.„Dann wurde langsam an die Kohle gefahren.“ Jochen Lawrenz erinnert sich an einen Vorfall auf der Bekohlungsanlage: „Man muss nun wissen, man war ja nicht alleine. Da waren auf beiden Seiten manchmal vier, fünf Loks hintereinander, die alle noch behandelt werden wollten. Mit dem Kohlen-Viez musste man sich gut stehen, wenn man einigermaßen gute Kohlen haben wollte. Man fuhr langsam unter die Bekohlungsanlage und da war die Kabine, wo der Kohlenlader drin war. Es fand ein Blickkontakt statt; der Kohlenlader guckte einen an, das hieß: Hast du Zigaretten oder ´ne Zigarre? Wenn der Lokführer dann Zigaretten rüberlangte oder ein Bier, dann hat der Kohlen-Viez gute Kohlen gegeben. Wir waren mal mit der P8 hinter einer Bebraner 01 und der Bebraner Lokführer hat gar nicht darauf reagiert, der wusste vielleicht auch nichts von diesen Feinheiten. Da wies der Kohlenviez ihn etwas weiter vor unter eine andere Kohlentasche. Eine Riesenstaubwolke – nur ‚Blumenerde’ kam runter, nur Kohlenstaub, nur Dreck! Stückarme Kohle nannte sich das amtlich. Der Bebraner Lokführer war außer sich. Der hatte einen F-Zug, der durchlief bis Treuchtlingen [hinter Nürnberg], der konnte so eine Scheißkohle nicht gebrauchen. Der ist runter von der Lok, zur Lokleitung, hat gesagt, was anliegt: ‚Abladen!’ Die Kohle nimmt er nicht! Die zwei, drei Mann in der Lokleitung haben sich bedeckt gehalten, sie wollten den Kohlenlader, den Kollegen, vielleicht nicht in die Pfanne hauen. ‚Ich möchte zum Chef!’ Er hat sich den Weg zeigen lassen zum Dienstellenleiter. Der Chef kam mit ihm und hat angeordnet: ‚Abladen’. Dann ging die Maschine auf die Drehscheibe und auf das Kohlenladegleis neben der Kohlenbühne und dann haben sie mit dem großen Kohlegreifer versucht abzuladen. Nur kriegt man mit dem Greifer schlecht Kohlen vom Tender. Dann wurde der Kohlengreifer auf die Erde abgesenkt neben dem Tender, zwei, drei Arbeiter wurden geholt, und die haben den Tender leer geschaufelt, durch die Tür durch, immer in den Greifer rein. Und da muss ich sagen, die Lokführer damals, das waren gestandene Leute!“

Sand gegen das Durchtrehen der Räder und zur Verkürzung des Bremsweges

Anfang der 50er Jahre war eine moderne Luftdruckbesandungsanlage mit hochgelegenem Behälter an den Drehscheibenzufahrtsgleisen gebaut worden. „Nach dem Kohlenladen wurde Sand genommen. Der Sandkasten war in der Regel auf dem Kessel, der Sand war dadurch immer trocken gehalten. Wenn eine schwere Anfahrt war, musste mit ganz viel Gefühl Dampf gegeben werden, und ein erfahrener Lokführer merkte, wenn die Räder durchtrampeln wollten, zum Beispiel wenn die Schienen durch Laubfall sehr glitschig waren. Dann betätigte er die Sandstreueinrichtung und streute mittels Druckluft Sand vor die Räder und die Reibungskraft zwischen Rad und Schiene wurde erhöht. Und Sand wurde auch bei Notbremsungen gestreut, um die Haftkraft zu erhöhen und den Bremsweg möglichst zu verkürzen.“

Das Bw Altona war ausgestattet mit einem kleinen und einem großen Halbrundlokschuppen mit insgesamt 54 Schuppengleisen und zwei miteinander verbundenen Drehscheibenkreisen. An der Nahtstelle der Lokschuppen stand das Gebäude der Lokleitung.

„Nun ging es weiter auf Hand- und Lichtzeichen des Drehscheibenwärters, auf die rechte oder linke Drehscheibe. Die Lok wurde so gedreht, dass sie rückwärts auf ein freies Gleis in den Schuppen fahren konnte. Die großen Loks gingen meistens nach rechts, die P8en [die Dampflokomotiven P8 der Preußischen Staatseisenbahnen, die noch bis 1974 eingesetzt wurden] nach links, weil die Gleise kürzer waren … Manchmal standen sie drei, vier Stunden. Die Schuppenfeuerleute haben die Lokomotiven überwacht, sind alle drei, vier Stunden rauf und haben was aufgeworfen oder Wasser gepumpt. Die Lokomotiven liefen nach einem festen Umlaufplan, weitgehend nach wirtschaftlichsten Gesichtspunkten. Die Umlaufpläne wurden von der Eisenbahndirektion, der Oberlokleitung, gemacht und die Dienstpläne von den Heimat-Bahnbetriebswerken. Das lief reibungslos. Die Loks liefen rund um die Uhr, die fuhren tagsüber die Reisezüge und nachts die Güterzuge.“

„Der Bremsweg ist schon mal vier-, fünfhundert Meter – das ist kein Auto!“

Die Lokomotiven fuhren normalerweise mit 135 km/h und zogen bis zu 15 Wagen. „Der Bremsweg ist dann schon mal vier-, fünfhundert Meter – das ist kein Auto!“ Jochen Lawrenz erklärt, dass Lokomotiven zur Sicherheit mit der „Induktiven Zugbeeinflussung“ ausgestattet waren. „Man fuhr nach Signal. Die Induktive Zugbeeinflussung, die „Indusi“, war für den Notfall. Vorsignal zeigt Warnstellung am Hauptsignal an – dann musste man beim Vorbeifahren am Vorsignal die Wachsamkeitstaste drücken, dann erschien über dem Bestätigungssignal am Wachsamkeitsmesser eine gelbe Lampe und die brannte 21 Sekunden und in 21 Sekunden musste unter 95 km/h runtergebremst werden. Wenn man das nicht schaffte, dann gab es eine volle Zwangsbremsung.“

An der Abzweigstelle Rainweg in Altona Nord ereignete sich am 4. November 1954 ein schwerer Unfall. Eine den Altonaer Bahnhof verlassende Dampflok 01 108 fuhr übers Signal und geriet in die Flanke der Vorspannlok des De 5136 aus Uelzen, die freie Fahrt auf dem Gleis Eidelstedt-Hamburg hatte. Beide Loks stürzten um. Die Zuglok des 5136 entgleiste, die aus Altona kommende Lokomotive fiel sich einmal überschlagend die Böschung hinunter in die Holtenaustraße. Jochen Lawrenz berichtet: „Die Lok habe ich da unten noch liegen sehen, mit den Rädern nach oben. Der Heizer war schwer verletzt, anschließend querschnittsgelähmt. Der Lokführer war auch schwer verletzt. Er hatte ganz klar das Halt zeigende Signal überfahren … Er hatte die Indusi nicht eingeschaltet.“

Erst ab 1972 wurden die Strecken nach und nach mit Funk ausgestattet und der Lokführer konnte bei Gefahr im Führerstand alarmiert werden. „Man hatte früher Knallkapseln, verplombt, auf jeder Lok, um sie im Notfall auf die Schienen zu legen. Ein Gegenzug fuhr dann drüber, bekam drei harte Schläge und der Lokführer hielt sofort an. Die Streckenläufer hatten auch Knallkapseln. Ich bin mal mit einer P8 auf dem Hindenburgdamm über Knallkapseln drübergefahren. Ein Streckenläufer hatte einen Schienenbruch festgestellt … Das knallte aber! Der ganze Führerstand war blau vom Pulverqualm!”

 

Bahnunfall 1958: eine vom Bahnhof Altona kommende Lok kollidierte mit einem Triebzug
auf dem Bahndamm Höhe Harkortstraße / Foto: Jochen Lawrenz
 
 
„Mit drei Achsen entgleist“

Die Fahrt von Altona nach Husum am 26. März 1964 auf der Lok 03 061 – Jochen Lawrenz war noch Heizer und dem Hauptlokführer Erwin Vogt zugeteilt – wurde „eine Dienstschicht, die uns fast nur Ärger eingebracht hatte. Der Eilzug E 1777 stand schon vor der Bahnhofshalle, die Zuglok hatte die Drehscheibe verlassen und sollte auf den Zug vorsetzen. Der Auftrag vom Posten kam per Handbewegung und Lautsprecherdurchsage ‚Lok für 1777 kommen’. Meister Vogt öffnete den Regler und die Zylinderhähne, und, laut zischend und einige Male schleudernd wegen der gerade in diesem Bereich außerordentlich schmierigen Gleise, setzten wir vor. Oben am Stellwerk RI angekommen, dreht der Wärter die Weiche in Richtung Aufstellgruppe, und per Handsignal ‚Kommen’ fuhren wir an unserem Zug vorbei. Wir sahen auch das hochstehende Gleissperrsignal, auf das wir langsam zurollten in der Erwartung, dass der Weichenwärter vom Stellwerk AL das Sperrsignal freigab. Und dann plötzlich bäumte sich unsere Lok vorne etwas auf, es krachte und knirschte, die Maschine schüttelte sich und – wir waren entgleist. Etwa 10 Meter vor dem hochstehenden Gleissignal lag eine Gleissperre mit dem dazugehörenden tiefliegenden Signal. Diese ‚hinterlistige’ Gleissperre hatten wir nicht gesehen, und so waren wir prompt ‚über den Hund gefahren’. Vor Schreck sprangen wir von der Lok und stellten fest, dass beide Laufachsen und die erste Kuppelachse entgleist waren. Die Treibachse stand oben auf dem ‚Hund’. Mein Meister blieb ganz gelassen, denn er konnte das wegstecken. Nur an seiner Zigarre kaute er unentwegt. ‚Tcha’, war sein Kommentar, ‚dann müssen wir uns wohl eine neue Maschine holen.’“

„Hässlich war das, wenn starker Wind war, wenn einem die Schlacke, der ganze Dreck in die Augen, in die Nase kam. In Westerland auf Sylt war das schlimm, da war alles im Freien. Ich habe oft was ins Auge gekriegt. Schutzbrillen? Ja, Brillen mit klaren Gläsern, die hätte ich mir kaufen sollen, aber… hatte ja keiner! Die Autozüge Niebüll-Westerland – da wurde rückwärts mit 80 gefahren, da flog einem der ganze Dreck entgegen! Wir kriegten von der Dienststelle Motorradbrillen, die waren unangenehm, wenn es im Sommer warm war.“

Der Dampflokbetrieb war mit sehr viel Dreck, Öl, Qualm verbunden. Jochen Lawrenz ist klar: „Da würden heute die Umweltschützer große Augen machen.“ Doch es ging auch anders: „In Hamburg-Altona war ich mal an meinem freien Tag als dritter Mann nach Westerland auf der Lok. Die 41er war am Zug und der Heizer hat das Feuer aufgebaut und es qualmte. Da hat der Weichenwärter vom Stellwerk gleich über Lautsprecher durchgerufen: ‚Lok 41 210, bitte sofort das Qualmen einstellen!’ Man hat schon darauf geachtet, dass nicht der ganze Bahnhof vollgequalmt wurde. Und das war ja auch hinzukriegen. Da wurde der Bläser ein bisschen weiter aufgemacht und die Feuertür auf, dass mehr Verbrennungsluft rein kam, und dann war der Qualm weg.“

„Ich habe bis 1972 nur auf Dampf gefahren.“ Das Ende der Dampflokzeit

Ab Ende der 1950er Jahre kamen die Dieselloks V 200 und V 60 im Bw Altona zum Einsatz – der erste Strukturwandel. Jochen Lawrenz liebte jedoch die Herausforderung, die die Dampflok stellte. „Mit Diesellok und E-Lok ist nur das Bremsen quasi das Gleiche geblieben, alles andere ist doch angenehm. Das Aufschalten, alles geht automatisch; drehen die Räder durch, wird über Elektronik Sand gestreut; die Höchstgeschwindigkeit wird vorher eingestellt, der macht nur einen Hebel nach vorne, alles andere macht die Maschine … Aber in der Leistung kamen diese damals modernen Dieselmaschinen nicht an die Baureihe 01 10 heran, auch wenn das unsere Bundesbahnführung nicht recht wahrhaben wollte … Dennoch war es wesentlich leichter als auf der Dampflokomotive, das ist gar keine Frage. Ich erinnere mich noch genau, als die V 200 im Kommen war und die ersten handverlesenen Lokomotivführer darauf ausgebildet wurden, dass keiner sich mehr nach der Dampflokomotive sehnte. Mein Herz hat jedoch stets der Dampflokomotive gehört.”

Von einer Romantisierung der Dampflokzeit hält Jochen Lawrenz allerdings nichts. „Das war saure Arbeit, das war harte Arbeit! Das war nicht mal eben so! Ich habe ja bis 72 nur auf Dampf gefahren, und ich habe viele begeisterte Eisenbahnfreunde, Dampflokfans, mitgehabt, und denn habe ich immer gesagt, Leute, wenn ihr diese ganze Arbeit über Jahre machen solltet, Sommer wie Winter, und Heiligabend und die Familie ist zu Hause – wir haben vier Kinder – und rund um die Uhr, da würde manch einer von euch abspringen. Meine Frau ist eine richtige Eisenbahnerfrau, das ganze Leben richtete sich nach meinem Dienst. Wenn ich vormittags von der Nachtschicht kam und die Kinder kamen von der Schule, da war Hallo! Wenn ich am Tage schlafen musste, hatte meine Frau alle Hände voll zu tun, um die vier Kinder ruhig zu halten – ich musste um 20 Uhr wieder zum Dienst. Das war für meine Frau auch nicht immer einfach.“

Als es mit den Dampflokeinsätzen bei der Bundesbahndirektion Hamburg endgültig vorbei war, ließ sich Jochen Lawrenz zum Bw Lübeck versetzen und machte dort eine Diesellokausbildung. Auf der Dampflok fuhr er nur noch Sonderfahrten für Eisenbahnfreunde. Der zweite Strukturwandel der Elektrifizierung kostete das Bahnbetriebswerk Altona die Existenz. Eine zusätzliche Rolle spielte, dass das Bw Altona nicht von LKWs mit Großbauteilen beliefert werden konnte. Um 1965 wurde zunächst ein kleiner Teil der Gleisanlagen des Bahnbetriebswerkes elektrifiziert und für E-Loks erreichbar. 1967 erfolgte der Abriss der Bekohlungsanlage. Die wenigen kohlegefeuerte Dampfloks fuhren nun zum Bahnbetriebswerk Eidelstedt, um ihre Vorräte zu ergänzen. Mit der 1965 fertig gestellten Elektrifizierung der Strecke von Hamburg nach Hannover und drei Jahre später auch nach Osnabrück verloren die Dampfloks des Betriebswerks Altona ihre wichtigen Personenzugleistungen nach Süden. Noch bis 1972 wurden aber Züge mit Dampflokomotiven auf der Marschbahn nach Westerland/ Sylt, Kiel und Flensburg eingesetzt. Seit der Elektrifizierung der Hauptstrecke nach Kiel im Jahre 1995 werden die von dort kommenden Züge vielfach über Hamburg-Dammtor zum Hauptbahnhof geleitet und enden nicht mehr in Altona. Im Jahr 1982 wurde der Doppelringlokschuppen für die Neutrassierung der S-Bahngleise abgerissen. Nach der Auflösung des Bahnbetriebswerks Altona als eigenständige Dienststelle 1983 übernahm das Bahnbetriebswerk Eidelstedt dessen Funktion. Die Drehscheiben wurden um 2000 entfernt. Heute erinnern nur noch der unter Denkmalschutz stehende Wasserturm und die Reste der ehemaligen Triebwagenhalle an dieses einst bedeutende Bahnbetriebswerk, in dem mit der 05 002 die schnellste Dampflok der Welt zu Hause war.

Seit 1999 in Pension, ist Jochen Lawrenz heute Zeitzeuge und selbst engagierter Archivar und Geschichtsschreiber in Sachen Eisenbahn. Die aktuelle Bahnpolitik kritisiert er: „Die Loks sind heute unwirtschaftlich, nicht ausgelastet. Wo sind heute die Güter? Auf der Straße. Eine Lok und ein Lokführer befördern 2000 Tonnen. Wie viele Lastwagen brauchen Sie dafür?!“ Als Pensionär immer noch in der Gewerkschaft der Lokomotivführer, ist er stolz, dass die Lokführer mit ihrem Streik den umstrittenen Bahnchef Mehdorn „zu Fall gebracht haben“. Er bedauert sehr, „dass die Bahn an die Wand gefahren wurde“, wie er sagt, dass weite Teile des Streckennetzes stillgelegt wurden. „Dieser Bahn weine ich keine Träne nach.“

Zur Autorin:

Birgit Gewehr ist Historikerin und freie Mitarbeiterin im Stadtteilarchiv Ottensen. Sie war an mehreren Ausstellungs- und Publikationsprojekten zur Geschichte Altonas beteiligt, z. B. ist sie Autorin des Buches “Stolpersteine in Hamburg-Altona. Biographische Spurensuche”. Zur Zeit forscht sie zur Historie des Altonaer Bahngeländes.

Quellen:

  • Interview 15.9.2009 in Lübeck mit Jochen Lawrenz, Bestand Stadtteilarchiv Ottensen
  • Aufsätze und Manuskript von Jochen Lawrenz zu seinem Werdegang und Berufsleben, Bestand Stadtteilarchiv Ottensen
  • Matthias Fuhrmann, Deutsche Bahnbetriebswerke (Bw Hamburg-Altona), Verlag Geramond, Garching-Hochbrück, Ergänzungsausgabe 2009
  • Uwe Jens Jansen, Die Eisenbahn in Hamburg, Hamburg 1999

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=729

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Wegen Überfüllung geschlossen?

Achtung, es folgt ein mehr oder weniger überflüssiger Bericht zur aktuellen Befindlichkeit – nicht seriös!
Zugegeben, die Überschrift trügt: der Lesesaal meiner Lieblingsbibliothek (HLB in Wiesbaden) ist noch nicht wegen Überfüllung geschlossen, aber gut Platz findet man inzwischen kaum noch. Woher kommen eigentlich diese ganzen Leute? Und was arbeiten die alle hier? Ich dachte, als hipper Student geht man dafür ins Starbucks (oder bin ich da falsch informiert?). Da trauere ich doch schon manchmal den Zeiten der wenigen Besucher hinterher, Altersdurchschnitt 70 (aber erst, wenn drei Mittzwanziger da waren) und regelmäßige Hustenanfälle. Gut, recht überlegt, ist es mir vielleicht doch so, mit all den Studenten und ohne die Viren, etwas lieber – wenn nur mehr Platz wäre.

Quelle: http://csarti.net/2013/01/wegen-uberfullung-geschlossen/

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