In meinem Beitrag „Krise zum Mitmachen“ gehe ich grundsätzlich davon aus, dass die Soziologie nicht in der Krise ist und es der Soziologie nicht möglich ist, den Anspruch der Verbesserung der Gesellschaft zu erfüllen. Dazu beschreibe ich Krisen anhand der … Continue reading
(7) Krise zum Mitmachen – Von Nihal Kantekin
In meinem Beitrag „Krise zum Mitmachen“ gehe ich grundsätzlich davon aus, dass die Soziologie nicht in der Krise ist und es der Soziologie nicht möglich ist, den Anspruch der Verbesserung der Gesellschaft zu erfüllen. Dazu beschreibe ich Krisen anhand der … Continue reading →
Startschuss für Archivportal-D
Gestern wurde dem 84. Deutschen Archivtag das Archivportal-D der Öffentlichkeit übergeben. Das im Internet unter https://www.archivportal-d.de frei zugängliche Portal ermöglicht eine umfassende und kostenlose Recherche in Deutschlands Archiven. Archivbesuche und Forschungsreisen werden damit besser planbar und können effizienter gestaltet werden.
Kurz nach dem Start des Portals können Nutzer bereits auf über 5 Millionen Datensätze von mehr als 25 beteiligten Archiven zugreifen. Darüber hinaus stehen ihnen allgemeine Informationen zu weiteren 400 Einrichtungen zur Verfügung. Das große Interesse zahlreicher Archive, neue Inhalte für das Portal bereitzustellen, lässt einen schnell wachsenden Datenbestand erwarten.
Das Archivportal-D enthält Online-Findmittel verschiedenster Archivsparten. So kann nach staatlicher oder kommunaler Überlieferung sowie nach Kirchen- und Wirtschaftsarchiven gesucht werden – ebenso wie nach Orts- und Personenbezügen, Entstehungszeiträumen oder früheren Provenienzen, d.h. der Herkunft des Archivguts.
Vorträge 84. Deutscher Archivtag
Urkatastrophe oder Katalysator?
Die transregionale Perspektive zeigt: Der Erste Weltkrieg hatte viele Gesichter
Von Isabelle Daniel
„Wissen Sie, wie weit Sydney von Ypern entfernt liegt?“, fragt Christina Spittel in die Runde. Ypern, das ist im Ersten Weltkrieg der Schauplatz für den Einsatz von Giftgas des deutschen Heeres gegen die belgische Bevölkerung. In der Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg steht die belgische Kleinstadt sinnbildlich für eine entgrenzte und totalisierte Kriegsführung. Sydney wiederum ist 1914 die Hauptstadt eines kleinen Teils des riesigen britischen Imperiums, international und politisch ziemlich unbedeutend und vor allem weit, weit weg vom europäischen Schauplatz des Krieges: 16.000 Kilometer.
Hinter der Frage der Literaturwissenschaftlerin verbirgt sich jedoch eine andere, wichtigere: Warum nahmen mehr als 330.000 australische Soldaten freiwillig am Ersten Weltkrieg teil und kämpften an der Seite der britischen Armee? Christina Spittel forscht und lehrt an der University of New South Wales in Canberra, Australien, und ist zum zweiten WeberWorldCafé in das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin gekommen. Hier ist sie eine von 16 so genannten TischgastgeberInnen, die in kleinen Runden mit historisch Interessierten über die Erfahrungen von Zivilgesellschaften verschiedener Regionen im Ersten Weltkrieg sprechen. Acht – grob gezogene – Regionen mit jeweils zwei ExpertInnen sind beim WeberWorldCafé vertreten. „Narrating the First World War from Transregional Perspectives“: Der Titel des WeberWorldCafés hätte kaum allgemeiner ausfallen können. In diesem Fall ist das jedoch auch gut so. Denn transregionale Ansätze mit gleichzeitig zu eng gefasster Fragestellung führen allzu oft dazu, dass unterschiedliche historische Prozesse zwanghaft in dasselbe Muster gepresst werden. Das WeberWorldCafé verfolgte den spiegelverkehrten Ansatz: Die Fragestellung blieb bis zum Ende offen; Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen den Regionen wurden auf diese Weise eher zufällig erarbeitet. Bei einer Veranstaltung mit geschichtswissenschaftlichem Schwerpunkt ist das erfolgversprechend. Denn wo, wenn nicht in der Arbeit mit historischen Quellen, befördert der Zufall sonst die erstaunlichsten Ergebnisse zutage?
Der Erste Weltkrieg als Katalysator
Spittels Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ für die freiwillige Kriegsteilnahme australischer Soldaten hat etwas erschütternd Banales. Eingesetzt wurden die australischen Soldaten vor allem an der Westfront. Um die Truppen dorthin zu bringen, ließ die australische Militärführung Kreuzfahrtschiffe umbauen. Auf dem Weg nach Europa passierten die Schiffe den Suez-Kanal; im britisch kontrollierten Ägypten wurden die Australier vor ihrem Einsatz an der Front in Trainingslagern ausgebildet. „Für die australischen Soldaten war der Weltkrieg auch eine Weltreise“, sagt Spittel. „Er bot die einmalige Möglichkeit, England zu sehen.“ Der enorme Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Globalisierung, auf das Reisen und etwa auch den zivilen Flugverkehr wird in der Forschung wiederholt hervorgehoben. Und immer wieder wird die eine bemüht: Die Metapher, die den Ersten Weltkrieg zu einem Katalysator erhebt – einem Katalysator für technische, militärische, emanzipatorische, ja: moderne Entwicklungen. War das wirklich so? Lässt sich dem ersten totalen Krieg, mit seinem unermesslichen Ausmaß an Blutvergießen und Gewalt, nachträglich noch etwas Modernisierendes zuschreiben, eine Art Koselleck‘scher Sinn?
Die Ambivalenz des Moderne-Begriffs ist eines der wenigen Phänomene, die in den Diskussionen beim WeberWorldCafé immer wiederkehren. Da ist Valeska Huber vom Deutschen Historischen Institut in London, die zum Nahen und Mittleren Osten während des Ersten Weltkriegs forscht und zusammen mit Fatemeh Masjedi vom Berliner Zentrum Moderner Orient den Expertentisch „Near and Middle East“ betreut. Den Suez-Kanal beschreibt Huber als Mikrokosmos, in dem sich vieles von dem staut, wofür der Erste Weltkrieg – auch – steht: Sie zeigt ein Foto, eine Luftaufnahme einer Uferstelle im Suez-Kanal. Rechts auf dem Bild zu erkennen ist ein Lager für armenische Flüchtlinge, die dem Genozid entkommen konnten. Links daneben erstreckt sich ein großes Ölbecken. Das Foto ließe sich als der Inbegriff dessen bezeichnen, was mit der katalysierenden Wirkung des Ersten Weltkrieges gemeint ist. Als „modernes Flüchtlingslager“ bezeichnet Huber die Aufnahmestelle für die armenischen Flüchtlinge, deren Schicksal in der Türkei bis heute nicht adäquat aufgearbeitet wird. Die Installation erster Ölraffinerien und die Nutzung von Erdöl zu Kriegszwecken während des Ersten Weltkriegs markierten einen weiteren Aspekt, der die Verwobenheit des Ersten Weltkriegs mit der Moderne deutlich macht.
Der Erste Weltkrieg als Stagnation
Doch nicht für alle Regionen treffen diese Beobachtungen zu. Mancherorts war die Zerstörungswut so groß, dass zivilgesellschaftliche Errungenschaften der Vorjahre wenn sogar nicht ausgelöscht, so doch zumindest eingefroren wurden. Juliane Haubold-Stolle hat die Sonderausstellung „1914-1918“ im DHM mitkuratiert und ist Tischgastgeberin für die Region Westeuropa. Das vielzitierte Bild des Ersten Weltkriegs als Emanzipationsbeschleuniger weiß die Historikerin zu relativieren. „Frauenrechtsbewegungen gab es in West- wie Mitteleuropa schon vor dem Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg hat diese Prozesse eher stagnieren lassen als beschleunigt.“ Die Frage nach der Emanzipation – von Frauen, vor allem aber auch von Minderheiten – ist mit dem Ersten Weltkrieg eng verwoben. In vielen Ländern Europas nahmen beispielsweise Juden mit großem Engagement und den entsprechenden Verlusten am Ersten Weltkrieg teil – in der Hoffnung, dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Vor allem die deutschen Juden wurden dabei enttäuscht. Trotz der stetigen Patriotismusbeweise der jüdischen Gemeinden und Verbände zog das antisemitische Konstrukt vom „jüdischen Drückeberger“ seit 1915 immer weitere Kreise. Im Herbst 1916 schließlich gab das preußische Kriegsministerium den Eingaben antisemitischer Verbände nach und ließ das Drückeberger-Gerücht in der sogenannten „Judenzählung“ überprüfen – eine fatale Entscheidung, die von vielen jüdischen Soldaten als diskriminierend empfunden wurde. Vergleichbar ist – auf der anderen Seite der Welt – das Schicksal der Afroamerikaner. Sebastian Jobs, Historiker am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin zeigt ein Foto von aus dem Krieg nach New York zurückkehrenden afroamerikanischen Soldaten, die in der Heimat gefeiert werden. Dazu legt er eine Karikatur aus einer zeitgenössischen schwarzen Publikation, auf der es heißt: „You‘re in the army now, you‘re not behind the plow.“ Es ist eine Referenz auf die versklavten Schwarzen in den Südstaaten und will sagen: Die Tatsache, dass Afroamerikaner in der Army kämpfen, bedeutet das Ende der Geschichte der Sklaverei und eine Anerkennung für die afroamerikanische Bevölkerung. „Afroamerikanern war es zuvor verboten, Waffen zu tragen“, erklärt Jobs. Von vielen sei es als Privileg empfunden worden, im Krieg zu kämpfen. „Der Citizen Soldier hatte etwas Aufwertendes“, resümiert Jobs. Gleichwohl gab es keine gemischten US-amerikanischen Regimenter, und von einer afroamerikanischen Emanzipation konnte auch viele Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Rede sein.
In höchst dramatischer Weise vom Ersten Weltkrieg betroffen war der afrikanische Kontinent. Michelle Moyd von der Indiana University ist Kolonialhistorikerin und forscht zum damaligen Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf diese Region beschreibt Moyd als verheerend. Obwohl auch afrikanische Männer von der deutschen Kolonialmacht gezwungen wurden, im Krieg zu kämpfen – in erster Linie gegen die Kolonialarmee des britischen Empires – begann laut Moyd in den ehemals deutschen Kolonien erst Jahre 1918 der eigentliche Prozess, in dem über die Bedeutung dieses beispiellos brutalen Krieges reflektiert worden sei. „Für Deutsch-Ostafrika war der Erste Weltkrieg eine Art Verstärkung bereits zuvor gekannter Kämpfe – allerdings in einer völlig anderen Größenordnung.“ Das Fehlen einer gemeinsamen Fragestellung des WeberWorldCafés zum Ersten Weltkrieg mag kohärente Diskussionen an den verschiedenen Tischen verhindert haben. Dieser Zugriff ermöglichte aber ein Resümee, das der historischen Wahrheit vielleicht am nächsten kommt und das Moderator Sebastian Conrad von der Freien Universität Berlin treffend formulierte: „Aus einer globalen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg verbietet sich jede Generalisierung.“
Zur Autorin: Isabelle Daniel promoviert an der Technischen Universität Berlin zum Thema “Antisemitismus in den Medien der Weimarer Republik“ und hat das WeberWorldCafé als Science Reporterin begleitet.
Quelle: http://wwc.hypotheses.org/498
Kulturgeschichte Chinas im Netz (VI): Das China Online Museum
Trotz der sehr dürftigen Angaben unter Impressum/Kontakt bietet das China Online Museum zumindest einführende Bemerkungen zu den verschiedenen Gebieten der chinesischen Kunst(geschichte), etwa in Bronzekunst, Kalligraphie, Malerei, Keramik und Schnitzkunst. Orientieren sich die Texte an den Informationen aus dem Nationalen Palastmuseum in Taipei, aus der Encyclopaedia Britannica (!) und Wikipedia (!!!) so stammen die Bilder aus mehreren Museen der Volksrepublik China und der Republik China (Taiwan) sowie aus amerikanischen und japanischen Museen.[1]
Die Präsentation der Bronzegefäße erfolgt nach einer Einleitung in chronologischer Ordnung: a) Shang-Zeit (16.-11. Jh. v. Chr.), b) Zhou-Zeit (11.-3. Jh. v. Chr.), c) Qin- (221-207 v. Chr.) und Han-Dynastie (206 v.-220 n. Chr.).
Der Bereich Kalligraphie widmet sich einerseits der Entwicklung der unterschiedlichen Schriftstile, den – in “De rebus sinicis” bereits ausführlich vorgestellten “Vier Schätzen des Studierzimmers”[2] – und über vierzig bedeutenden Kalligraphen, die zwischen dem 3. Jahrhundert nach Christus und der späten Kaiserzeit gewirkt haben. Dazu kommt noch eine Sammlung berühmter Kalligraphien.
Der Bereich Malerei ist ähnlich aufgebaut: Nach kurzen Bemerkungen zur Geschichte der chinesischen Malerei wird Leben und Werk von knapp achtzig bedeutenden Malern vorgestellt. Zudem werden auch Eindrücke von den wichtigsten Themen chinesischer Malerei vermittelt: Landschaften, Blumen, Vögel. Zudem werden berühmte Werke der chinesischen Malerei präsentiert.
Ähnlich wie im Fall der Bronzegefässe ist auch der Bereich Keramik chronologisch aufgebaut: Der Bogen spannt sich vom Neolithikum bis zur späten Kaiserzeit (Qing-Dynastie) – die Stationen dazwischen: Bronzezeit, Han-Dynastie, die Zeit der Sechs Dynastien, Tang-, Song-, Yuan- und Ming-Dynastie.
Nach den einzelnen Materialien ist der Bereich Schnitzkunst aufgebaut: Holz, Bambus, Elfenbein, Rhinozeroshorn und Siegelkunst.
Auf der Suche nach Bildmaterial zu den genannten Themen ist das China Online Museum als Einstieg durchaus nützlich. Unbedingt zu empfehlen ist allerdings der Besuch des Online-Angebots der einzelnen Sammlungen, die diesem “virtuellen” Museum zu Grunde liegen.
Die ersten fünf Teile dieser Serie:
Kulturgeschichte Chinas im Netz (I)
Kulturgeschichte Chinas im Netz (II)
Kulturgeschichte Chinas im Netz (III)
Kulturgeschichte Chinas im Netz (IV): Vier Jahre “Bibliotheca Sinica 2.0.”
Kulturgeschichte Chinas im Netz (V): Die “Stanford Encyclopaedia of Philosophy”
- Vgl. dazu die detaillierten Angaben am Fuß der Startseite.
- Vgl. dazu “Vier Schätze des Studierzimmers (V)”.
(6) Soziologische Kritik und gesellschaftsverändernde Praxis – Oder: Warum Soziologie sich so schwer tut, die Welt zu verändern – Von Andreas Stückler
Wer sich einigermaßen unvoreingenommen mit Gesellschaftskritik auseinandersetzt, wird vermutlich nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass gemessen an dem Raum, den Kritik heute in der Gesellschaft einnimmt, und an der Vielzahl an kritischen Äußerungen, die sich gegenwärtig auf den verschiedensten Ebenen … Continue reading
Das Projekt “Skopje 2014″. Oder: Wie ein Land seine Zukunft verbaut
Wie ein Land seine Zukunft verbaut: das Projekt Skopje 2014
von Ulf Brunnbauer
Im Februar 2014 wurde Igor Ivanovski, Mitglied des Exekutivrates der Sozialdemokratischen Partei Makedoniens (SDSM), der größten Oppositionspartei des Landes, zu beinahe 5 000 Euro Schadenersatz wegen übler Nachrede verurteilt, die er der Kulturministerin Elizabeta Kančevska-Milevska zahlen musste. Ivanovski hatte im November 2010 das Projekt „Skopje 2014“ als „klassische Geld-Waschmaschine“ bezeichnet, da die Unterlagen von Ausschreibungen und Vergaben für das Bauprojekt auf mysteriöse Weise verschwunden wären. Die Kulturministerin, deren Amt für eine Reihe der Bauten von Skopje 2014 zuständig ist, wies den Vorwurf kategorisch zurück und verklagte Ivanovksi; das der Regierung willfährige Gericht folgte dem Begehren.1
Screenshots aus der offiziellen Simulation zur Vorstellung von „Skopje 2014“ (Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=iybmt-iLysU).
Dieses Gerichtsverfahren verdeutlicht nicht nur die Defizite, die in Makedonien hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz bestehen, sondern auch die absolute Ernsthaftigkeit, mit der die seit 2008 regierende nationalistische VMRO-DPMNE (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei der Makedonischen Einheit) ihr Lieblingsprojekt „Skopje 2014“ verfolgt. Kritiker werden ignoriert oder mundtot gemacht – denn immerhin handele es sich, so die Regierung, bei „Skopje 2014“ um das zentrale nationale Projekt, das die Makedonier mit Stolz und die Welt mit Bewunderung füllen soll. Beeindruckend ist dieses 2010 offiziell verlautete und 2014 bereits weitgehend realisierte Projekt in der Tat, wiewohl in anderer Weise, als von der makedonischen Regierung – genauer gesagt: ihrem ethnisch makedonischen Teil2 – intendiert: Es gibt in Europa kein vergleichbar ambitiöses Projekt zur Transformation des Zentrums einer Haupt- bzw. Großstadt. Höchstens zentralasiatische und arabische Autokratien haben in ihrer Geschmacklosigkeit und Dimension Vergleichbares zu bieten, mit dem Unterschied, dass dort die Bauqualität wenigstens überzeugt: Die geschätzten 500 Millionen Euro Gesamtkosten für „Skopje 2014“ in einem so armen Land wie Makedonien könnten besser investiert werden, gleichzeitig reichen sie nicht aus, um wenigstens solide geschmacklos zu bauen. Insofern besteht, so kritische Kommentatoren des Projekts, die Hoffnung, dass das nächste große Erdbeben „Skopje 2014“ wieder zur Geschichte machen werde.
Postkarte „Skopje 2015: Wir haben es geschafft!“ (Quelle: https://antroponovicke.wordpress.com/tag/projekt-skopje-2014/)
„Skopje 2014“ wurde vor vier Jahren von der Regierung lanciert, um der Hauptstadt ein klassizistisches Antlitz zu verleihen und sie mit historischen Monumenten, die bislang eher spärlich gesät waren, zu saturieren. Das Projekt umfasst die Errichtung von circa 20 neuen Gebäuden (Ministerien, Verwaltungs- und Kultureinrichtungen), über 40 Denkmäler für diverse Heroen der (vermeintlichen) makedonischen Geschichte sowie neue Fassaden im Stile des Manierismus. In Bezug auf das äußere Antlitz der Bauten kann man konstatieren, dass sich offensichtlich nicht nur die Geschichte, sondern auch Baustile als Farce wiederholen. Kritiker bezeichnen das ganze Projekt als nationalistischen Kitsch, der teuer sei und auf äußerst intransparente Weise entstehen würde (die Aufträge wurden auf zweifelhafte Weise vergeben). „Skopje 2014“ fügt sich ein in andere obskure Evokationen von ethnischem Nationalismus in Südosteuropa, wie z. B. Andričgrad in der Republika Srpska, wo am 28. Juni 2014 das Attentat auf Franz Ferdinand nachgespielt wurde (siehe: http://ostblog.hypotheses.org/221). Die unmittelbare Intention der makedonischen Regierung ist klar: „Skopje 2014“ soll die nationale Identität der Makedonier nicht nur repräsentieren, sondern zementieren, angesichts der inneren und äußeren Hinterfragungen der nationalen Eigenständigkeit der Makedonier. Diese Anfeindungen existieren keineswegs nur in der Phantasie der makedonischen Regierung, sondern sind real – insbesondere Griechenland mit seiner schon lange nicht mehr nachvollziehbaren Weigerung, die Republik Makedonien unter deren verfassungsmäßigen Namen anzuerkennen, stellt einen wesentlichen Baustein der nationalen Identität der Makedonier – nämlich den Namen ihrer Nation – in Frage. Diese griechische Obstruktion ist nicht nur nomineller Natur, sondern zeitigt reale Folgen: Solange die Republik Makedonien ihren Namen nicht ändern, legt Griechenland gegen die Mitgliedschaft Makedoniens in die NATO sowie die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Makedonien sein Veto ein (Makedonien genießt seit 2005 den Status eines offiziellen EU-Beitrittskandidaten und die EU-Kommission empfiehlt seit Jahren die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen).
Angesichts der Plumpheit der Ästhetik der neuen Gebäude, Fassaden und Denkmäler – der Architekt und Kritiker Nikos Čausidis spricht von einem „zeitgenössischen eklektischen pseudoklassizistischen Anachronismus“3 – fällt es nicht schwer, die semantische Botschaft von „Skopje 2014“ zu dechiffrieren. Ziel ist es wohl, so zu bauen, dass auch der letzte Depp weiß, was gemeint ist. Zudem scheint der Kitsch dem Ministerpräsidenten, der seinen Amtssitz mit Replikaten griechischer Skulpturen schmückt, tatsächlich zu gefallen, was viel über seine Feinsinnigkeit aussagt; unwillentlich zeigt er damit seine Verbundenheit mit der Formensprache des sozialistischen Realismus, obwohl er sich als tapferer Antikommunist versteht. „Skopje 2014“ sollen jenes architektonische Erbe marginalisieren, das das bisherige Stadtbild von Skopje bestimmt, von dem sich die nationalistische Regierungspartei aber distanzieren will: das osmanische sowie das sozialistische. Beide Perioden – die lange osmanische Herrschaft sowie die kommunistisch-jugoslawische Periode (1944-1992) –werden von der VMRO-DPMNE und ihren Hofhistorikern als dunkle Zeit der Unterdrückung und Überfremdung beschrieben. Dem stellen sie ein heroisches Narrativ des andauernden Freiheitskampfes entgegen, das in „Skopje 2014“ seine bauliche Manifestation findet. Mit den neo-klassizistischen und neo-barocken (bzw. was die Architekten der Bauwerke jeweils dafür halten) Gebäuden wird nachträglich eine Bauperiode geschaffen, die in Skopjes Stadtbild gar nicht vertreten ist. Damit hofft die Regierung, ihrer Hauptstadt ein europäisches Antlitz zu verleihen, stellen ihrer Meinung nach ja weder Islam noch Kommunismus Teile des europäischen Erbes dar. Deren in Skopje so stark präsenten architektonischen Hinterlassenschaften gelten der Regierung als Erinnerungsorte an eine Zeit, an die man eben nicht erinnert werden möchte.
Die mnemonische Intention von „Skopje 2014“ wird besonders deutlich in der Vielzahl von neuen Denkmälern, die nun zentrale Plätze der Stadt (verun-)zieren. Alleine am Hauptplatz „Ploštad Makedonija“ tummeln sich Aleksander der Große, Kaiser Justinian I., Zar Samuil, Goce Delčev, Dame Gruev, die Attentäter von Saloniki aus dem Jahr 1903 (die sog. „Gemidžii) und Metodija Andonov-Čento. Dieses Potpourri von historischen Persönlichkeiten sagt eigentlich schon alles über die erwünschte Botschaft aus – auch, gegen wen sich diese geschichtspolitische Manifestation richtet:
- „Skopje 2014“ dient der Verfestigung – im Wortsinne – der in den letzten Jahren durch die Regierung sowie diverse Intellektuelle heftig propagierten Idee, die heutigen Makedonier würden von den antiken Makedonen abstammen. Philipp II. und Alexander der Große werden fest in das Pantheon der makedonischen Heroen eingegliedert; Humangenetiker versuchen sogar, einen DNA-Beweis für die Abstammungskontinuität zu erbringen (oder wenigstens nachzuweisen, dass sich die DNA der antiken Makedonen radikal von jener der heutigen Griechen unterscheidet). Dabei sind Alexanderdenkmäler gar nicht der Gipfel des antikisierenden Obskurantismus: Das Oberhaupt des in Pakistan lebenden Stammes der Hunza, die sich in ihrem eigenen Herkunftsmythos auf verbliebene Truppenteile Alexanders zurückführen, wurde 2008 von Premier Gruevski und einer Garde von antik gekleideten Soldaten in Skopje empfangen. Die anti-griechische Stoßrichtung der Antikisierungspolitik ist offenkundig (im Übrigen wurden sowohl der Flughafen in Skopje sowie die Autobahn gen Süden in „Aleksander Veliki“ umbenannt). So wird das am Balkan (und nicht nur dort) populäre Streben nach Autochthonität und Kontinuität befriedigt, selbst wenn diese Maßnahmen materielle Einbußen nach sich ziehen.
- Neben der Herstellung einer Kontinuitätslinie in die Antike geht es um die Erfindung eines ethnisch makedonischen Mittelalters. Dazu werden Persönlichkeiten, die in Makedonien wirkten, in das nationale Meisternarrativ integriert. Zar Samuil, eigentlich ein bulgarischer Herrscher, verkörpert die staatliche Tradition; wie andere südosteuropäische Nationen wollen sich auch die Makedonier auf ein mittelalterliches Staatswesen beziehen können, in dessen durch die osmanische Eroberung unterbrochene, aber nicht ausgelöschte Tradition sie sich und ihren modernen Staat stellen. Es gibt für Nationen nichts Schlimmeres als ihr junges Alter zuzugeben. Hier ist es wie bei Cognac: je älter desto besser. Die auf der gegenüberliegenden Vardarseite stehenden Heiligenstatuen für Kyrill und Method sowie Naum und Kliment wiederum illustrieren die Bedeutung des christlichen Erbes. Sie stehen zudem für die sich selbst zugeschriebene Kulturträgerrolle der Makedonier, haben doch diese angeblich makedonischen Mönche die Grundlagen slawischer Kultur und Schriftlichkeit gelegt.
- Die Vielzahl von über die Stadt verstreuten Denkmäler für nationale „Erwecker“ und „Befreier“ aus dem neunzehnten Jahrhundert manifestiert das Bestreben, auch über eine ordentliche Befreiungsgeschichte zu verfügen. Unterstellt wird dabei, dass diese Helden – von Goce Delčev bis Krste Misirkov – für ein unabhängiges Makedonien als Nationalstaat der Makedonier gekämpft hätten, selbst wenn manche dieser historischen Persönlichkeiten sich zeitlebens als Bulgaren verstanden und die Vereinigung eines von den Osmanen befreiten Makedoniens mit Bulgarien anstrebten. Sowohl was die Darstellung des Mittelalters als auch des 19. Jahrhunderts angeht, ist evident, dass die makedonischen Denkmalmacher (ebenso wie die Historiker des Landes) Ereignisse und Persönlichkeiten aus einem bulgarischen Narrativ herauslösen und in eine makedonische Meistererzählung integrieren wollen; die Motivlage dafür liegt natürlich in der in Bulgarien bis heute dominanten Meinung begründet, bei den Makedoniern handele es sich „eigentlich“ um Bulgaren. Jedenfalls schafft es Makedonien mit diesen Denkmälern, einen weiteren Nachbarstaat nachhaltig zu verstimmen.
- Einige Denkmäler (wie jene für Čento und die erste ASNOM-Versammlung von 1944) repräsentieren eine partielle Aneignung der kommunistischen Periode. Trotz des ostentativen Antikommunismus der VMRO-DPMNE soll das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, schließlich sind die offizielle Affirmation der makedonischen Nation und die Schaffung einer makedonischen Staatlichkeit (als Teilrepublik Jugoslawiens) Ergebnisse kommunistischer Politik. Ein besonders geeigneter Erinnerungsort für diese partielle Appropriation der jugoslawischen Zeit stellt Metodija Andonov-Čento dar: Der ehemalige Partisanenführer und erste Präsident von ASNOM (Anrifaschistischer Rat zur Nationalen Befreiung Makedoniens, faktisch das Parlament) fiel 1946 aufgrund seines Unabhängigkeitsstrebens und seiner großmakedonischen Ambitionen bei der kommunistischen Führung in Belgrad in Ungnade, die ihn ins Gefängnis werfen ließ. Mit ihm lässt sich somit sowohl der Gründung des Staates als auch der durch Tito vermeintlich oktroyierten Beschränkungen der nationalen Affirmation erinnern und gleichzeitig ein offiziell immer geleugneter Anspruch auf außerhalb der Landesgrenzen gelegene Gebiete der historischen Region Makedonien wenigstens andeuten.
- Auf den ersten Blick evident ist auch die ethnische und konfessionelle Exklusivität des Projekts. Die Denkmäler zeigen angebliche ethnische Makedonier und ihre vermeintliche Vorfahren; das muslimische Erbe wird konsequent ausgespart, obwohl Muslime heute rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung Makedoniens ausmachen. „Skopje 2014“ ist mithin ein an die Spitze getriebenes Vorhaben zur Ethnisierung und Christianisierung des urbanen Raumes einer multi-ethnischen und multi-konfessionellen Stadt. Skopje soll klar als makedonisch markiert werden; dieses Ziel ist Ausdruck der massiven Überfremdungsängste weiter Teile der ethnisch-makedonischen Bevölkerung, die eine albanische Dominanz fürchtet. Seit der Dezentralisierung im Zuge des sog. Ohrider Rahmenabkommens, mit dem der bewaffnete Konflikt von 2001 beendet werden konnte, herrscht ein massiver Kampf zwischen Makedoniern und Albanern um die Kontrolle von Gemeinden. Zudem sieht die Dezentralisierung weitreichende Rechte für ethnische Minderheiten vor, die mehr als 20 % der Bevölkerung einer Gemeinde ausmachen. In Skopje, dessen Randbezirke und Vororte teilweise eine albanische Mehrheit aufweisen, möchte die VMRO-DPMNE keine Zweifel daran aufkommen lassen, wem die Stadt „gehört“. Nicht zufällig steht eine riesige Philipp-Statue am linken Ufer des Vardars, d. h. im orientalisch geprägten Teil des Stadtzentrums; dort sind auch eine Reihe von Verwaltungsgebäuden sowie das neue Museum für den nationalen Befreiungskampf entstanden. Um die anti-albanische Stoßrichtung des Projekts noch deutlicher zu machen, gibt es auch ein Denkmal für die 2001 im Kampfe gegen die albanische Guerilla gefallenen makedonischen Sicherheitskräfte. Als Kompensation – schließlich sitzt eine albanische Partei mit in der Regierung – dürfen sich die Albaner auf einem Platz im alten Marktviertel austoben, wohin das unvermeidliche Skanderbeg-Denkmal verlegt werden soll.
Neue Verwaltungsgebäude am linken Ufer des Vardars
Die „Porta Makedonija“
Das archäologische Museum
Zar Samuil
Das Museum des Kampfes für die makedonische Staatlichkeit Eigenständigkeit und für die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation und für die Opfer des Kommunismus
Das Außenministerium
„Die Verteidiger Makedoniens“: Denkmal für die 2001 gefallenen Sicherheitskräfte
Neben der wenig subtilen nationalen Botschaft der Bauten und Denkmäler zeichnet sich das ganze Vorhaben durch eine Maskulinitätssemantik aus, die an das heroische Zeitalter eines urtümlichen, kämpferischen Nationalismus erinnert. Frauen finden sich bis auf eine Ausnahme keine: Ein an Kitsch kaum zu überbietender Brunnen zeigt die „Mütter Makedoniens“ – gemeint ist wohl Olympia, die Mutter Alexanders, die zu sehen ist, wie sie mit diesem schwanger geht, ihn dann säugt und aufzieht. Das ist der Platz der Frauen im Kampf der Nation: Helden in die Welt zu setzen und groß zu ziehen. Eine Reihe dieser Helden sind beritten – nicht nur Alexander der Große, sondern auch Nationalrevolutionäre des 19. Jahrhunderts, die man noch nie auf einem Pferd sitzend dargestellt gesehen hat. Gezückte Pistolen und Gewehre im Anschlag finden sich ebenso wie Schwert, Lanze und Schild. Philipp, Alexander und andere thronen auf hohen Piedestalen, Philipp II. mit in die Höhe gereckter Faust, Alexander mit gezogenem Schwert. Es scheint, als stecke der makedonische Nationalismus noch in seiner phallischen Phase – was seine nicht eingestandene Unsicherheit erklärt, die in Übersprungshandlungen wie den genannten Denkmälern resultiert. Eine 2013 veröffentlichte Studie erbrachte tatsächlich einen hohen Grad der Unsicherheit und Selbstzweifel bei den Befragten bezüglich der nationalen Identität.4
„Reiter auf Pferd“ (Alexander der Große);
Vasil Čokolarov, Christo Uzunov
„Die Mütter Makedoniens“
Bei so viel ostentativ vorgetragenem nationalem Heroismus stellt sich die Frage, ob sich hinter der grandiosen Fassade nicht eine große Portion Selbstzweifel verbirgt; eine souveräne nationale Identität, die ins sich ruht, kann sich über sich selbst lustig machen und bedarf nicht der permanenten Evokation in der Außenwelt in Form eines Themenparks – sie ist vielmehr vollkommen verinnerlicht. Die Botschaft der Denkmäler und Gebäude kommt hingegen mit der Faust ins Auge; sie ist so platt, so ohne Ironie und Ambivalenz, dass sich ein Mangel an Selbstsicherheit vermuten lässt. Das „Museum für den Kampf für die makedonische Staatlichkeit und Eigenständigkeit und die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ verdeutlicht diese Vermutung am besten: Die Ausstellung ist nur mit Führung zu besichtigen, wobei die Führer keinen Zweifel an der Herrlichkeit und Würde des makedonischen Unabhängigkeitsstrebens lassen; Fotos im Museum zu machen, ist untersagt – weshalb hier leider die eigens (u. a. von russischen Malern) angefertigten Ölgemälde, die das Leid und den Befreiungskampf der Makedonier illustrieren, sowie die Wachsfiguren zur Darstellung historischer Szenen nicht gezeigt werden können. Offensichtlich sind sich die Macher der Ausstellung ihrer Sache nicht ganz so sicher und wollen es nicht der Vorstellungskraft der Museumsbesucher überlassen, welchen Reim sie sich auf das Gezeigte machen; dem grundsätzlichen Problem, dass die Autoren einer Botschaft die Rezeption nicht vorbestimmen können, versucht die Regierung durch extreme Image-Kontrolle zu begegnen. Die wohlmeinende Deutung von „Skopje“ als humorvoll übersteigertes Kommentar auf virulenten Nationalismus am Balkan scheidet somit als Interpretationsmöglichkeit aus. Premierminister Gruevski und Konsorten verstehen keinen Spaß.
Erreicht „Skopje 2014“ seinen Zweck? Wie es scheint, durchaus: Während viele (aber nicht alle) Intellektuelle das Projekt kritisieren und sich ausländische Journalisten darüber lustig machen, kann die VMRO-DPMNE auf den Zuspruch der Wähler bauen. Sie hätte die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 wohl auch deutlich gewonnen, wenn diese fair gewesen wären (u. a. hat die Regierung die meisten Medien auf Linie gebracht). Der lautstarke, pubertäre Nationalismus, wie durch „Skopje 2014“ evoziert, kann an in der Bevölkerung weitverbreitete Antipathien anknüpfen, richtet er sich doch gegen Griechenland und die Albaner. Die politische Konsolidierungsfunktion nach innen, um VMRO-DPMNE zur konkurrenzlosen Stimme der ethnischen Makedonier zu machen, scheint das Projekt zurzeit erfüllen zu können. Selbst wenn einem großen Teil der Makedonier das Aussehen von „Skopje 2014“ nicht gefällt (laut einer Umfrage von 2013: 40 %) und die Mehrheit es für zu teuer hält5 , so ist vielfach die Meinung zu hören, dass die aktuelle Regierung wenigstens etwas baut – im Gegenzug zur Stagnation der Jahre zuvor. Die Propagierung der Kontinuität mit den antiken Makedoniern zeigt bereits Wirkung: Bei einer im September 2013 durchgeführten repräsentativen Umfrage rangiert bei der Frage nach der für die Formierung der makedonischen Identität wichtigsten historischen Persönlichkeit unter den ethnischen Makedoniern Alexander der Große bereits auf Platz 3 (12 %), nach Gove Delčev und den Heiligen Kyrill und Method, aber deutlich vor Tito.6
Auch nach außen geht die Rechnung bisher auf: „Skopje 2014“ und andere identitätspolitische Initiativen vertiefen die Kluft zu Griechenland und sorgen regelmäßig für Streit mit Bulgarien. Eine EU-Integration wird somit immer unwahrscheinlicher; und an einer solchen können Premier Gruevski und seine Partei kein Interesse haben, denn ihr autokratischer Klientelismus verträgt sich nicht mit einer EU-Mitgliedschaft. Gleichzeitig kann Gruevski rhetorisch das Ziel des EU-Beitritts beschwören, weiß er ja, dass Griechenland verlässlich sein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erheben wird. „Skopje 2014“ ist darüber hinaus Teil einer Strategie des nation branding, das die heutigen Makedonier zu den einzigen legitimen Erben des antiken Makedonien erklärt. Die Betonung der Antike und des Christentums – so auch in dem häufig auf CNN zu sehenden Tourismuswerbeclip „Macedonia Timeless“ (siehe: http://www.youtube.com/watch?v=X4o-HYI34C8) – verankert Makedonien fest in einer europäischen Tradition und präsentiert Makedonien als authentischen Sachwalter dieses Erbes. In einer Zeit, in der Nationalstaaten zu Marken werden, um damit Touristen und Kapital anzulocken, setzt die makedonische Regierung ganz auf den Wiedererkennungswert antiker und christlicher Symbolik. Mit der Anlockung von Kapital aus dem Ausland klappt es noch nicht richtig, aber immerhin kommt eine steigende Zahl von Touristen nach Makedonien: Stolz berichtete vor kurzem die regierungsnahe Tageszeitung „Dnevnik“, dass die Zahl der ausländischen Touristen, die Skopje besuchten, von 127 266 im Jahr 2009 auf 163 623 im Jahr 2013 gestiegen ist.7 Ob dies die materiellen und politischen Kosten von „Skopje 2014“ kompensieren kann, sei dahingestellt.
Bei allen Ideosynkrasien verweist „Skopje 2014“ auf generalisierbare Entwicklungen am Rande von EU-Europa: In von mangelnden Chancen auf baldige EU-Mitgliedschaft und den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogenen Gesellschaften greifen Regierungen auf Formen und Inhalte eines romantischen Nationalismus zurück, der aus der Zeit gefallen scheint (das ungarische Beispiel zeigt, dass auch EU-Mitgliedsländer von offiziellem Obskurantismus nicht gefeit sind). Identitätspolitik soll nach innen die Unterstützung der Bevölkerung für Regierungen, die ansonsten wenig zu bieten haben, konsolidieren und nach außen hin die jeweilige Nation als klar identifizierbare Marke positionieren (Makedonien erlebt dabei, was es heißt, die „Markenrechte“ auf die Vergangenheit eines trotz allem mächtigeren Staates, der von dem für sich beanspruchten antiken Erbe enorm profitiert, herauszufordern). So übersteigerte und beinahe hilflos wirkende nationalistische Inszenierungen wie von „Skopje 2014“ entwerfen ein Zerrbild von Europa, das Antike und Christentum betont, um Islam und Kommunismus zu exkommunizieren. „Skopje 2014“ sollte daher nicht bloß als Absonderlichkeit eines wenig wichtigen Landes und Ausdruck einer balkanischen Neigung zum nationalistischen Exzess gelesen werden, sondern als reale Manifestation dessen, was die extreme Rechte auch anderswo in Europa anstrebt: ein selbstbezüglicher Nationalismus als Antwort auf die Globalisierung, garniert mit Autokratie und Anti-Pluralismus.
Fotonachweis: alle Fotos, soweit nicht anders angegeben: Ulf Brunnbauer (2013)
- „Osnoven sud. Ivanoski kaznet so 300.000 denari“, http://dnevnik.mk, 20.2.2014.
- Seit 2008 bilden die VMRO-DPMNE und die größte albanische Partei, Demokratischen Union für Integration (DUI), eine Koalitionsregierung; unausgesprochene Grundlage der Übereinkunft ist die Nichteinmischung in die Belange der jeweils anderen ethnischen Gruppe – und die Aufteilung der Pfründe des Staates unter den Parteigängern der beiden Regierungsparteien.
- Nikos Čausidis: Proektot Skopje 2014 – skicii za edno naredno istražuvanje. Skopje 2013, 76.
- Institut of social sciences and humanities, Skopje: Skopje 2014 Project and ist Effects on the Perception of MAcedonian Identity Among the Citizens of Skopje, 2013, http://www.isshs.edu.mk/index.php?newsinfo=77.
- Laut dieser Umfrage („Skopje 2014 Polly by ISSHS) stößt „Skopje 2014“ bei 28 % der Befragten auf Gefallen und 22 % gefällt es zumindest teilweise. Siehe http://infogr.am/skopje-2014-poll-results-by-isshs?scr=web.
- http://infogr.am/skopje-2014-poll-results-by-isshs?src=web.
- „Raste brojot na turisti vo Skopje“, http://dnevnik.mk, 5.7.2014.
Foto-Challenge
Die besten Ideen entstehen doch oft in geselliger Runde bei einem Glas Wein. Das hat sich auch am Freitag Abend wieder einmal gezeigt. Es begann alles mit der Feststellung, dass man mit den absurdesten Dingen Aufmerksamkeit und Förderung bekommen kann … Weiterlesen →
Quelle: http://dss.hypotheses.org/1425
Lazarus Bendavid ›annotiert‹
Früher mit »spitzer Feder«, heute mit »Annotator« ?
[→ abstract] Als ich 2013 einen Vortrag Jüdische Bibliophilie vorbereitete,1 stieß ich in der herausragenden Sammlung DigiBaeck auf die Selbstbiografie von Lazarus Bendavid. 2 Das eher bescheiden daherkommende (weil schon ältere) Digitalisat hatte zwar vom äußeren Anschein her weniger mit meinem damaligen Thema zu tun, es weckte aber mein Interesse — trotz oder gerade wegen des Fragezeichens in den Metadaten: »With manuscript additions and corrections by the author (?)«. Schaut man sich das genauer an, kommt man zu dem Schluss: Es kann sich nur um die »Fahnen«3 der 1806 publizierten Autobiografie Bendavids4 handeln, denn im schließlich gedruckten und veröffentlichten Exemplar, das ich per Fernleihe aus der SUB Göttingen beschaffen und einsehen konnte,5 finden sich diese von Hand angebrachten Korrekturanweisungen durchgängig umgesetzt.
Es ist naheliegend, dass Bendavid als Autor selbst die Fahnen korrigiert hatte, weitere Evidenz verschaffte der Vergleich der Handschrift mit seinen wenigen erhaltenen, ebenfalls digitalisierten Briefen.6 Bendavid erweist sich hier jedenfalls als durchaus geübter Redakteur, dem Fachsprache und -zeichen hinsichtlich Typografie, Drucksatz und -korrektur offensichtlich geläufig waren. Daraus ist ein Beitrag für die Zeitschrift »Kalonymos« entstanden.7
5. Bendavids eigenhändige Korrekturen in den (digitalisierten) Fahnen (PDF) seiner Selbstbiografie — Warum nicht direkt dort annotieren ?
Annotationen können, darum geht es mir hier, nach langer Zeit noch oder wieder von Interesse oder Bedeutung sein, und die Fahnen der Autobiografie sind ein augenfälliges Beispiel dafür. Und es gibt Bedarf, diesen Annotationen weitere hinzuzufügen. Auf Anhieb wird vielleicht nicht jeder lesen können, was Bendavid auf S. 66 notierte (Abb. 5): »Sollte es nicht möglich seyn, diesen Hurensohn8 hinüber zu bringen. Ich glaube es geht, wenn Sie so setzen, wie ich gezeichnet habe.« Der Korrekturbogen enthält zudem großflächige Streichungen, die sich ebenfalls nicht von selbst erschließen.
Warum jedoch das Erkannte und Entzifferte nicht gleich dort, direkt in der Quelle anmerken? Und an den Fahnen die Notiz anbringen, dass und wo die regulär erschienene Fassung zu finden ist. Und dort notieren, dass es weitere digitalisierte Dokumente in anderen Sammlungen, die ein Licht hierauf werfen, und eben auch Sekundärliteratur dazu gibt. Und all das möglichst sofort mit anderen Forschern teilen!
Mir scheint, dass Martin Raspe exakt dieses Szenario (auch) adressiert hat. »Eine Online-Ressource sollte den Benutzer durch „backlinks“ zu den referenzierenden Stellen in Werken / Datenbanken verweisen können.«9 Und mir scheint, dass das Softwareprojekt Annotator ein vielversprechender Ansatz ist. Die Abbildungen in diesem Blogbeitrag illustrieren, wie das funktionieren kann. Ein sogenanntes »Bookmarklet« (Abb. 6) erlaubt es, Annotationen scheinbar direkt auf den (ja tatsächlich nicht editierbaren, ›fremden‹) Webseiten anzulegen10 (hier Digibaeck, Göttinger Digitalisierungszentrum, Jewish Theological Seminary sowie Leopold-Zunz-Archiv, Abb. 1–4) und führt sie unter dem eigenen Account zusammen (Abb. 6). Annotationen können — müssen aber nicht — geteilt werden (Abb. 4). Statt also die Publikation, die diese Zusammenhänge herstellt, kennen zu müssen, findet der Leser deren Anmerkungen und Fußnoten jeweils an die referenzierten Quellen ›angeheftet‹ und zugleich zentral ›verwaltet‹ — ein Netz über dem »Netz«. Das Plug-in-Konzept lässt hoffen, dass auch Bildformate — die ja in digitalen Sammlungen vorherrschen, wenn man von den Metadaten absieht — sowie PDFs unterstützt werden.
Dies ist nur ein Szenario dieses faszinierenden Konzepts. Die maßgeblich von der Open Knowledge Foundation entwickelte Software wird von etlichen Projekten weiter vorangetrieben. Gerade auch wegen der vielfältigen Anwendungsperspektiven und des generischen Charakters hat eine Arbeitsgruppe von DARIAH-DE (der ich angehöre) nun eben diesen Annotator zur Integration in die »Digitale Infrastruktur für die Geisteswissenschaften« ausgewählt und Anregungen zur Anpassung im Rahmen einer geisteswissenschaftlichen Forschungsumgebung formuliert und veröffentlicht.11 Man darf gespannt bleiben auf die Weiterentwicklung dieser für die Geisteswissenschaften äußerst attraktiven Technik.
Lazarus Bendavid (1762–1832) (Wikimedia Commons, public domain)
Abstract: There are some old and rare sources concerning the Jewish philosopher Lazarus Bendavid. These are now digitized and available on the web. By means of the software Annotator a connection between these digital documents can be made and shared with other readers. The paper illustrates this approach. With respect to the various possible use cases a working group of DARIAH-DE has published a proposal to integrate »Annotator« into the Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities.
- Jüdische Bibliophilie und ihre Schätze im Web, Vortrag im Seminar »Buch im Judentum | Judentum im Buch. Bibel – Bibliotheken – Bibliophilie«, Steinheim-Institut, 14. Mai 2013.
- Fahnen der Selbstbiografie von Lazarus Bendavid auf DigiBaeck http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=135737
- »Korrekturbogen« insbesondere in Zusammenhang mit den klassischen Druckverfahren.
- Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographieen. Herausgegebenen von Moses Samuel Lowe. Zweite Sammlung. Berlin: J.F. Starcke und Leipzig: J.G. Mittler 1806.
- Dem ›Medienbruch Fernleihe‹ konnte ich übrigens für die Zukunft abhelfen, indem ich das Göttinger Exemplar als »Digiwunschbuch« (gegen eine angemessene Gebühr) digitalisieren ließ. URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN756272378
- Teilnachlass von Lazarus Bendavid, Leopold-Zunz-Archiv http://www.jewish-archives.org/
- Harald Lordick: Porträt eines Typografen — Eine aufschlussreiche Quelle zu Lazarus Bendavid und Moses Samuel Lowe, in: Kalonymos 2013, Nr. 2, S. 7-11 http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2013_2.pdf#page=7 Vgl. auch „Großartig urbane Bildung“. Der Aufklärer Lazarus Bendavid, in: Kalonymos, 15 (2012), H. 3, S. 6–10 (mit Beata Mache) http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2012_3.pdf#page=6 (Vor wenigen Jahren noch hätte man für die erforderlichen Archiv- und Bibliotheksrecherchen weit reisen müssen, wenn man die genannten Raritäten und Unikate überhaupt in die Hand bekommen hätte — wenn das kein der Digitalisierung zu dankender Fortschritt ist!)
- Es muss eigentlich ›Hurenkind‹ heißen (Bezeichnung aus der Setzersprache für eine als Satzfehler geltende alleinstehende Zeile am Seitenbegin). Nebenbei ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig bei Digitalisierungen das Bereitstellen von Seitenabbildern ist. Denn ob ein beanstandeter Umbruch tatsächlich korrigiert worden war, das war keiner der sekundären Textfassungen der »Selbstbiografie«, online oder gedruckt, anzusehen — nur dem Originalband selbst.
- Martin Raspe: Perspektiven der Forschung – PDF? Digitale Bildwissenschaft zwischen gestern und morgen http://www.digitale-kunstgeschichte.de/w/images/0/01/Raspe-PerspektivenDerForschung-PDF.pdf. Vortrag in der Sektion »Bedrohte Besitzstände, verlorene Werte? Die Geisteswissenschaft von der Kunst und die neuen digitalen Verfahren«, DHd 2014. http://www.digitale-kunstgeschichte.de/w/images/0/01/Raspe-PerspektivenDerForschung-PDF.pdf#page=23
- Webseitenbetreiber können Annotator selbstverständlich auch direkt einbinden und die Annotationsfunktion damit ihren Lesern anbieten.
- Vgl. »DARIAH-DE annotation service« https://dev2.dariah.eu/wiki/x/Sg8CAg (DARIAH-DE (BMBF), Cluster 6 »Annotationen«).
Quelle: http://djgd.hypotheses.org/360