Auf dem 65. Westfälischen Archivtag in Münster wurde der Bereich Archiv 2.0 zwar nicht explizit thematisiert, wohl aber an etwas versteckter Stelle angesprochen – und zwar auf dem Diskussionsforum “Verzeichnest du noch oder gefällst du schon? Archive als Anbieter digitaler Dienstleistungen”. Im Folgenden sei mein eigenes Impulsreferat dokumentiert:
„Diese Verzeichnung gefällt mir! Das Archiv 2.0 als Anbieter digitaler Dienstleistungen“
Am 13. März 2013 stieg weißer Rauch über der sixtinischen Kapelle in Rom auf und ein neuer Papst war gewählt worden.
Was hat das zu tun mit uns als Archiven oder gar unserem heutigen Archivtag?
Vielleicht soviel, dass es ein Archivar war, der das „Habemus Papam“ verkündete, nämlich der Kardinalprotodiakon Jean-Louis Tauran, der von 2003 bis 2007 das Vatikanische Geheimarchiv leitete. Es war das Schweizerische Bundesarchiv, das diese Nachricht publik machte.
Vielleicht aber auch soviel, dass Päpste – oder besser: der schriftliche Nachlass päpstlichen Handelns – für die allermeisten Archive kein unbekanntes Thema sind. Vielerorts bilden Papsturkunden den Grundbestand der Alten Abteilungen, lässt sich mittelalterliche Geschichte insbesondere durch Papsturkunden rekonstruieren. Aus Anlass der Papstwahl berichtete beispielsweise das Österreichische Staatsarchiv über die Tagebücher des Erzbischofs von Wien, der 1655 nach Rom reiste um am damaligen Konklave teilnahm. Im Vergleich dazu brandaktuell war die Mitteilung des Stadtarchivs Linz am Rhein, dass in seinen Beständen die Erteilung des apostolischen Segens an die Bürger der Stadt direkt nach der Wahl des nunmehr emeritierten Papstes im Jahr 2005 vorhanden sei.
Und auch die us-amerikanischen National Archives nahmen das Ereignis zum Anlass, auf eine umfangreiche Fotosammlung zu den Begegnungen von Päpsten und Präsidenten der vergangenen Jahrzehnte zu verweisen.
Warum sind diese Informationen für uns heute interessant? Weil alle diese Archive ihre Rolle als digitale Dienstleister ernst genommen haben und ihre Nutzer mit aktuellen archivnahen Informationen versorgt haben – und gemacht haben sie das über den in diesem Fall wohl bequemsten virtuellen Weg: nämlich über das soziale Netzwerk Facebook.
Das „gefällt mir“ kann ich da als Nutzer sagen – und ich bezweifle, dass auch nur eins der genannten Archive für diese nette kleine tagesaktuelle Aufmerksamkeit irgendwie seine Kernaufgaben vernachlässigt hätte. Das ist es nämlich, was die Leitfrage unserer Diskussion hier impliziert: „Verzeichnest du noch oder gefällst du schon?“
Hier scheinen zwei Aspekte gegeneinander zu stehen
- Auf der einen Seite die eigentliche Arbeit eines Archivs, seine Kernaufgaben (wofür hier die Verzeichnung sinnbildlich steht): eine anspruchsvolle, eine fordernde, bisweilen eine mühselige, vielleicht auch ungeliebte Arbeit; ist ein laufender Meter Verzeichnungsarbeit geschafft, warten schön die nächsten fünf. Dank und Lob für eine erfolgreiche Verzeichnungsarbeit erhält man nicht.
- Ganz anders dagegen dieses ominöse „gefällst du schon?“: Gefallen, wollen wir das? Wir sind doch das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft. Wir erinnern an Geschichte, an Politik, an Herrscher, an wichtige Geschehnisse, an mitunter schreckliche Untaten. Wir sind seriös, wir sind staatstragend, wir sind eine Behörde. Da müssen wir doch keinem gefallen. Und außerdem sind wir Monopolisten: Wer unsere Dokumente einsehen will, der muss schließlich zu uns kommen, egal ob wir ihm gefallen oder nicht. Und letztendlich: Bei Facebook wissen wir doch alle: das ist bloß Spielerei, irgendwas für Teenies und allenfalls noch für Studenten, da kann ja jeder alles reinschreiben und morgen kann das alles wieder weg sein, außerdem steht da sowieso nichts Wichtiges, denn das Wichtige wird nämlich gedruckt.
Dieser Gegensatz aber scheint mir an den gegenwärtigen und vor allem an den zukünftigen Arbeitsrealitäten von Archiven vorbeizugehen:
- Die archivische Arbeit wird sich zunehmend in den digitalen Raum verlagern, durch Digitalisate, durch Online-Publikationen, durch virtuelle Lesesäle – entsprechend notwendig wird es sein, die Strukturen zu besitzen, um diese digitalen Inhalte zu bewerben und direkt den Interessenten zuzuleiten
- Die technischen Mittel für einen virtuellen Auftritt – für die Präsentation von Archivalien und Beständen, für Kommunikation und Interaktion mit den Nutzern, für den fachlichen Austausch mit den Kollegen – stehen längst bereit: Soziale Netzwerke, Sharing-Plattformen, Blogs, Micro-Blogs, Foren, Wikis u.v.a.m.
- Wir Archivare müssen nur bereit sein, diese technischen Mittel zu nutzen – oder wie es ein niederländischer Kollege (wo sie uns in diesen Belangen tatsächlich Lichtjahre voraus sind) formulierte: „It’s not about technology, it’s about attitude!“
Zu den Möglichkeiten, einer archivischen Nutzung von sozialen Medien (= Archiv 2.0) möchte ich schließlich 4 Thesen formulieren:
1) Die Nutzung von sozialen Medien ist für einen wachsenden Teil der Bevölkerung alltägliche Normalität. Die deutschen Archive haben noch keine Antwort auf diese neue Mediennutzung gefunden und stehen der Entwicklung weitgehend passiv gegenüber.
2) Die archivische Nutzung von sozialen Medien erlaubt eine unkomplizierte und unmittelbare Vermittlung archivischer Anliegen: Präsentation von Archiv und Beständen, Kommunikation und Interaktion mit den Nutzern, Mitteilung von Neuigkeiten, Publikationen, Veranstaltungen u.v.a.m.
3) Die archivische Nutzung von sozialen Medien erlaubt einen intensivierten fachlichen Austausch ohne auf punktuelle Ereignisse wie Archivtage oder auf persönliche berufliche Netzwerke angewiesen zu sein. Fragen und Probleme können unkompliziert und unmittelbar unter Einbeziehung aller Interessenten thematisiert werden.
4) Die archivische Nutzung von sozialen Medien verlangt einen Bewusstseinswandel: weg von hierarchischem, beständeorientiertem, reaktivem Denken und hin zu kommunikativem, kollaborativem, nutzerorientiertem Denken.
Andernorts funktioniert der archivische Umgang mit den sozialen Medien bereits – daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen!
(Bastian Gillner)