Ein Frontispiz sagt mehr als … (IV): Martino Martini, Novus Atlas Sinensis (1655)

Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1905)[1] war voll des Lobes über Martino Martini, SJ (1614-1661)[2]:

In der That hat die ganze chinesische Missionsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts unter ihren hunderten von Sendboten einen einzigen Geographen aufzuweisen. Dies war Martin Martini, und er ist selbst während des achtzehnten Jahrhunderts nicht überboten, kaum erreicht worden. Nicht ein einziger Missionar vor und nach ihm hat so geflissentlich seine Zeit auf die Kenntnis des Landes verwendet, wie er.”[3]

Matini veröffentlichte 1655 seinen Novus Atlas Sinensis ((Zu den zahlreichen Ausgaben/Übersetzungen des Novus Atlas Sinensis s.  [Peter van der Krogt/Cornelis Koeman:]  Koeman’s atlantes Neerlandici. 2. The folio atlases published by Willem Jansz. Blaeu and Joan Blaeu. New ed., comp. by Peter van der Krogt   (‘t-Goy-Houten : HES Publ. 2000) pp. 295-315. Links zu einigen Digitalisaten → Bibliotheca Sinica 2.0.)). Das Werk enthält 17 Karten[4]und etwa 170 Seiten Beschreibungen. Richthofen meinte dazu:

Es ist die vollständigste geographische Originalbeschreibung von China, welche wir besitzen. Die Nachwelt hat wol über einzelne Gegenden sehr viel Besseres geliefert und auf compilatorischem Weg ist in unserer Zeit weit Vollständigeres über das ganze Land geschrieben worden; aber niemand hat Aehnliches in solcher Ausdehnung auf Grund eigener Beobachtungen gegeben, nicht weil es an reisenden Missionaren, sondern weil es unter denen, welche das Land in grösserem Umfang sahen, stets an Beobachtern der Natur gefehlt hat. Ueber die Beschreibung hinausgehend war Martini der erste, welcher nicht nur eine eingermassen correcte Gesammtkarte von China, sondern einen Atlas von Provincialkarten veröffentlicht hat.  Allerdings sind sie nicht das Resultat eigener Aufnahmen, sondern beruhen, wie Martini offen zugesteht, auf chinesischen Originalen. Aber auch diese waren längst den Missionaren zugänglich gewesen, jedoch nicht von ihnen benutzt worden, und Martini ist der Vater der geographischen Kenntnisse von China geworden, indem er den Atlas herausgab. Auch wäre wol dazu kaum ein Anderer fähig gewesen; denn man musste die chinesischen Karten verstehen, um sie in geeigneter Weise verwerthen und berichtigen zu können, und dazu wiederum in erster Linie Geograph sein und das Land aus eigener Anschauung kennen.[5]

Martini: Novus Atlas Sinensis

Novus Atlas Sinensis. By Martino Martini [Public domain], via Wikimedia Commons Ttitelversion 2:26B

Martini benutzte für seinen Atlas chinesisch Quellen, darunter eine Kopie eines (Manuskript)Atlas des Zhu Siben 朱思本 (kompiliert 1311/12) mit Anmerkungen aus dem Guangyutu 廣與圖 des Luo Hongxian 羅洪先 von 1555. Der Atlas, der bei Blaeu in fünf Sprachen – Latein, Französisch, Niederländisch, Deutsch und Spanischj – erschien, enthielt:

  • ein Vorwort mit Erläuterungen Martinis zur Arbeit mit den chinesischen Quellen
  • eine Karte von China (in den Grenzen der Ming-Zeit)
  • Beschreibungen jeder der 15 Provinzen, jeweils mit einer Karte der jeweiligen Provinz)
  • eine Beschreibung von Japan mit einer Karte
  • einen “Catalogus Longitudinum ec Latitudinum” (Liste von Orten mit geographischen Koordinaten)
  • ein Supplement “De Regno Catayo Additamentum Iacobus Golius Lectori”
  • “De Bello Tartarico Historia”, die Beschreibung der Eroberung Chinas durch die Mandschuren, die zuerst 1654 in Antwerpen erschienen war, ergänzt durch einen Brief von Francisco Brancaro, datiert Shanghai, 14.11.1651.

UB Heidelberg

Blaeu, Willem Janszoon; Blaeu, Joan ; Blaeu, Joan [Hrsg.]; Martini, Martino [Hrsg.]; Golius, Jacobus [Hrsg.]: Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: Mit schönen newen außführlichen Land-Taffeln in Kupffer gestochen, vnd an den Tag gegeben: Novus Atlas Sinensis Das ist ausfuhrliche Beschreibung des grossen Reichs Sina ([Amsterdam], [1655])
UB Heidelberg (Lizenz: Creative Commons-Lizenz cc-BY-NC-SA) | Titelversion 2:26A

 

 

Er erschien separat und wurde als sechster Band dem Theatrum Orbis Terrarum beigefügt, unterschieden nur durch den Titelkupfer. Später wurde der Novus Atlas Sinensis mit anderen Texten und Karten zu Asien zu Band 10 des Atlas Maior verbunden.

Die einzelnen Ausgaben[6] unterscheiden sich in der Aufmachung , in vielen Fällen fehlt ein Titelblatt i.e.S. und es gibt ‘nur’ einen Titelkupfer in zwei Variationen. Die Version 2:26A hat ein leeres Feld für den (Reihen-)Titel, die Version 2:26B ist ein ‘typischer’ Titel der jesuitischen China-Literatur.[7]

Gemeinsam ist beiden Versionen, dass auf dem Titel wenig Chinesisches zu sehen ist: Die Putti im Vordergrund halten eine Karte von China hoch, der Globus, mit dem die Gruppe im Vordergrund in der Mitte spielt, zeigt ganz Ostasien.

Titel und Widmung sind in die geöffnete Tür rechts im Bild eingefügt – wobei unklar bleibt, auf welcher Seite dieser Tür zu China sich der Betrachter befindet …

  1. Zur Biographie: Uta Lindgren: „Richthofen, Ferdinand Paul Wilhelm Dieprand Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 543-544 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118745085.html.
  2. “Martin Martini” in: Louis Pfister: Notices biographiques et bibliographiques sur les jésuites de l’ancienne mission de Chine (1552-1773) Tome I, XVIe et XVIIe siècles (Shanghaï: Impr. de la Mission catholique 1932) 256-262.
  3. Ferdinand Richthofen: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien. Bd. 1 (Berlin: Reimer 1877) 674
  4. Scans: National Library of Australia
  5. Ferdinand Richthofen: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien. Bd. 1 (Berlin: Reimer 1877) 676
  6. Übersicht: [Peter van der Krogt/Cornelis Koeman:]  Koeman’s atlantes Neerlandici. 2. The folio atlases published by Willem Jansz. Blaeu and Joan Blaeu. New ed., comp. by Peter van der Krogt   (‘t-Goy-Houten : HESPubl. 2000) pp. 295-315.
  7. Zu den Versionen: Koeman, Atlantes Neerlandici. 2, 296.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/448

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Ein Frontispiz sagt mehr als 1000 Worte (III): Olfert Dapper: Gedenkwaerdig bedryf … (1670)

Nachdem die erste Gesandtschaft der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) 1655-1657 gescheitert war und Formosa/Taiwan 1661 an Zheng Chenggong 鄭成功 (1624-1662) [1] gefallen war, wurde 1666 eine zweite Gesandtschaft an den Hof des Kaisers von China ausgerüstet, die der VOC endlich einen Zugang zum chinesischen Markt eröffnen sollte. Die Gesandtschaft wurde von Pieter van Hoorn (als Gesandtem der VOC) und Constantijn Nobel (als Kaufmann) umfasste etwa 23 Personen [2], darunter Pieter van Hoorns Sohn Joan. Die Schiffe verließen am 3.7.1666 Batavia und erreichte Fuzhou 福州 am 5.8.1666. Am 20. 1. 1667 brach die Gruppe auf und reiste – teils auf Flussschiffen, teils über Land – nach Beijing, wo man am 20.6.1667 eintraf. Der  Kaiser empfing die Gesandtschaft am 7.7.1667 in Audienz, in den Wochen danach wurde die Gruppe durch Bankette unterhalten. Am 5.8.1667 verließ die Gesandtschaft die Hauptstadt, am 29.11.1667 verließen die Schiffe Fuzhou und erreichten am 9.1.1668 Batavia. [3]

Nur fünf Jahre nach Johan Nieuhofs Gezandtschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham erschien im selben Verlag eine Beschreibung der nchsten Versuche der VOC in China. Der Verfasser dieser Beschreibung war Olfert Dapper (1636–1689) [4]. Er hatte in Utrecht studiert, sich dann aber als sehr produktiver Autor einen Namen gemacht – beginnend mit einer fünfbändigen Historische Beschrijving der Stadt Amsterdam (1663). Zwischen 1668 und 1688 erschienen Reisebeschreibungen über Afrika, Südasien, China und das Mittelmeer, die rasch in andere europäische Sprachen übersetzt wurden. Dapper hat keine der Gegenden, die er beschrieb, selbst besucht; er arbeitete mit Material, das ihm zur Verfügung gestellt wurde.

Olfert Dapper: Gedenkwaerdig bedryf  (1670)

Olfert Dapper: Gedenkwaerdig bedryf [...]
(Amsterdam : J. van Meurs 1670) | Internet Archive

 Olfert Dappers Gedenkwaerdig bedryf der Nederlandsche Oost-Indische maetschappye, op de kuste en in het keizerrijk van Taising of Sina: behelzende het tweede gezandschap aen den onder-koning Singlamong en veldheer Taising Lipoui; door Jan van Kampen en Konstantyn Nobel. Vervolgt met een verhael van het voorgevallen des jaers zestien hondert drie ein vier en zestig, op de kust van Sina, en ontrent d’eilanden Tayowan, Formosa, Ay en Quemuy, onder ‘t gezag van Balthasar Bort: en het derde gezandschap aen Konchy, Tartarsche keizer van Sina en Oost-Tartarye: onder beleit van Zijne Ed. Pieter van Hoorn. Beneffens een beschryving van geheel Sina. Verciert doorgaens met verscheide kopere platen (Amsterdam: J. van Meurs 1670) enthält

  • die Beschreibung der Gesandtschaft unter Jan van Kampen und Constantijn Nobel zum Gouverneur von Fujian 1662-1663 (die Dapper als “Zweite Gesandtschaft” bezeichnet)
  • eine Beschreibung der Operationen Balthasar Borts an der Küste von China und auf Taiwan 1663/1664
  • die Beschreibung der Gesandtschaft unter Pieter van Hoorn und Constantijn Nobel nach Beijing 1666-1667 (die Dapper als “Dritte Gesandtschaft” bezeichnet)
  • eine Beschreibung von ganz China

Eine englische Version erschien 1671 in London, eine deutsche Fassung 1675 in Amsterdam bei Meurs. [5]

Die Frontispize der drei Versionen sind weitgehend identisch -  eine Collage aus Elementen,  die in den Illustrationen bei Nieuhof; Martini und anderen enthalten waren, kombiniert mit pseudo-asiatischen und/oder preudo-orientalischen Elemente.

Der Titel nimmt die Mitte der Darstellung ein – quasi als Inschrift des Sockels/Unterbaus eines Podests, auf dem unter einem Baldachin ein Mann mit untergeschlagenen Beinen sitzt. Auf ihn ist die Szene ausgerichet, die meisten anderen Figuren wenden sich ihm zu. Die Figuren rund um den Thron sind vornehm gekleidet, die Frauen mit Schmuck im Haar – die Dame links neben dem Titelschild schreibt mit einer Vogelfeder in ihr Notizbuch.

Im Vordergrund spielen sich brutale Szenen ab: Links hat ein Mann, dessen Haar zum Zopf gebunden ist, einen anderen am Haar gepackt und schickt sich an, diesem mit einer großen Schere das lange Haar zu schneiden.

Rechts stehen zwei Figuren trumphierend über zwei am Boden liegenden Gestalten. Diese Figuren sind deutlich als Chinesen – genauer als Anhänger der gerade abgelösten Ming-Dynastie  markiert: dünnen Bärte, Kleidung und Kopfbedeckungen, aber auc die langen spitzen Fingernägel, die schon bei Gonzalez de Mendoza erwähnt wurden.

Der Herrscher/Würdenträger auf dem Podest weist große Ähnlichkeiten mit Nieuhofs “‘t Conterfeytsel vande oude onder-koning” (Nieuhof, nl. Ausg. 1665 p.  53, dt. Ausgabe 1666 p. 64.), der dann auch im Thesaurus exoticorum (1688) von E.W. Happel als “ein alter Vice-Roy von einem sinesischen Königreich” auftaucht (p. 25).Das Äffchen, das neben dem Vogelkäfig am Rand des Podests sitzt, erinnert an das in Kirchers China illustrata (p. 233)

Im Kontext China wirkt der Morgenstern/Streitflegel, auf den sich die Figur rechts im Vordergrund stützt (und der mitten in den Titel hineinragt) doch verwunderlich, denn die Waffe war in der Form in China unbekannt … [6]

Auch bei Dapper erscheint die Darstellung (ähnlich wie bei Nieuhof) gleichsam als Programm, das die Linie vorgibt: China wird nun von ‘Barbaren’ beherrscht, die das ‘Reich der Mitte’ überrannt hatten und sich nun kultiviert geben – und mit denen will man jetzt Geschäfte machen.

[1] Zheng Chenggong 鄭成功 (1624-1662) wird in europäischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts meist als Coxinga/Koxinga (Guoxingye 國姓爺 “der mit dem Kaiserlichen Familiennamen”) bezeichnet. Er hatte in den Wirren des Untergangs der Ming-Dynastie gegen die Qing-Dynastie gekämpft und mit seinen Piratenschiffen entlang der Küsten Fujians operiert. 1661 landete Coxinga bei  Lu’ermen, um die niederländischen Kolonien auf Taiwan anzugreifen. Am 1.2.1662 kapitulierte Gouverneur Frederik Coyett und übergab Fort Zeelandia an Coxinga. Dazu zuletzt: Tonio Andrade: Lost Colony: The Untold Story of China’s First Great Victory over the West (Princeton NJ:[] Princeton University Press 2011).

[2] J. van der Chijs (ed.): Dagh-register gehouden int casteel Batavia vant passerende daer ter plaetse als over geheel Nederlandts-India 1666-1667 (Batavia 1895), S. 78 f., vgl. Friederike Ulrichs: Johan Nieuhofs Blick auf China (1655-1657). Die Kupferstiche in seinem Chinabuch und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob van Meurs (Wiesbanden: Harrassowitz 2003) 107 Fn. 334.

[3] Friederike Ulrichs: Johan Nieuhofs Blick auf China (1655-1657). Die Kupferstiche in seinem Chinabuch und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob van Meurs (Wiesbanden: Harrassowitz 2003) 107, dazu J. van der Chijs (ed.): Dagh-register gehouden int casteel Batavia vant passerende daer ter plaetse als over geheel Nederlandts-India 1668-1669 (Batavia 1895), S. 2.

[4] Kurzbiographie, Bibliographie der Werke Dappers und der wichtigsten Titel über ihn:  “141 Dapper, Olfert” in:  E.O.G. Haitsma Mulier/G.A.C. van der Lem (ed.): Repertorium van geschiedschrijvers in Nederland 1500-1800. (Den Haag: Nederlands Historisch Genootschap 1990) 114-117. (Online: dbnl).

[5] Digitalisate der niederländischen und der deutschen Version: Bibliotheca Sinica 2.0, bibliographische Daten zur englischen Version: English Short Title Catalogue Reference Number R5629; Frontispiz und einige Abbildungen: Folger Shakespear Library.

[6] Das Prinzip der an einer Kette befestigten Kugel findet sich im Meteorhammer (liúxīng chuí 流星錘), einer Waffe, die aus zwei durch eine Kette verbundenen Metallkugeln besteht.

 

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/445

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Ein Frontispiz sagt mehr als 1000 Worte (II): Kircher, China monumentis … illustrata (1667)

Athanasius Kircher SJ (1602–1680) war Universalgelehrter und Vielschreiber.  Er hatte Interesse signalisiert, in die China-Mission zu gehen, dazu kam es allerdings nicht, er verbrachte den Großteil seines Lebens am Collegium Romanum und veröffentlichte ausführliche Werke zu einem breiten Spektrum an Themen. [1] Eines dieser Werke ist ein früher Klassiker über China: China monumentis, qua sacris qua profanis, nec non variis natrae et artis spectaculis, aliarumque rerum memorabilium argumentis illustrata.

Dafür, dass es “ein[es] der meistegelesenen Chinabücher der frühen Neuzeit”[2] war, gibt es nur wenige Ausgaben:

Die Ausgaben unterscheiden sich zum Teil beträchtlich voneinander – die Meurs-Ausgabe ist leicht gekürzt, die französische Ausgabe enthält am Ende des Buches einen “Dictionaire chinois & françois ” (324-267), ein Wörterverzeichnis ohne Schriftzeichen.

Dieser “Meilenstein in der europäischen Chinakenntnis” [4] basiert auf den Berichten und Briefen von Missionaren in Indien, Japan und China. Etwa zwei Drittel des Bandes ist der Nestorianerstele (“Pars I., Monumenti Syro-Sinici Interpretatio,” pp. 2-45), der Ausgabe Amsterdam, Janssonius à Waesberge 1667), dem Vordringen des Christentums in Asien (“Pars II., De Variis Itineribus In Chinam Susceptis,” pp. 46-128) und den Religionen Asiens (“Pars III., De Idololatria Ex Occidente primum in Persidem, Indiam, ac deindè in ultimas Orientis, Tartariae, Chinae, Japoniae Regiones successivâ propagatione introducta,” pp. 129-163)  gewidmet. Danach kommt ein Überblick zu Pflanzen und Tieren Chinas (“Pars IV., China Curiosis Naturae & Artis miraculis illustrata,” pp. 164-211), kurze Bemerkungen zur Architektur (“Pars V., De Architectonica, Caeterisque Mechanicis Artibus Sinensium,” 212-224) und abschließend ein Abschnitt zur chinesischen Sprache und Schrift (“Pars VI., De Sinensium Literatura, pp. 225-238).

Kircher: China illustrata (1667) | © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel <http://diglib.hab.de/drucke/gv-2f-5/start.htm>

Kircher: China illustrata (1667) | © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.
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Der Inhalt – und die Frage, ob China illustrata tatsächlich ein Meilenstein ist – wird noch ausführlicher zu besprechen sein, hier soll zunächst nur ein Blick auf das Frontispiz.

Auf den ersten Blick ist hier nur wenig Chinesisches, das Sujet ist rein europäisch – nnd arbeitet so die Rolle der Societas Jesu in China heraus.

Neben zahlreichen Putten sind vier männliche fiugren abgebildet, die zum Teil durch Attribute, zum Teil aus dem Text des Bandes identifizierbar werden:

Ricci und Schall von Bell werden von Strahlen aus dem Strahlenkranz um das Christusmonogramm IHS be/erleuchtet. Auf einem Podest stehen links und rechts Säulenhallen, der Blick auf die Landschaft im Hintergrund wird von der China-Karte verdeckt, im Vordergrund links liegen astronomische Werkzeuge und Geräte, darunter Zirkel,  Kompass, Armillarsphäre und Winkelmaß. Auf den Setzstufen des Podests finden sich der Name des Verfassers und der (Kurz-)Titel.

Chinesisches bzw. direkte Bezüge auf China beschränken sich auf die Umrißkarte im Zentrum des Bildes (die Ricci, Schall von Bell und ein schwebender Putto hochhalten) und die Kleidung der beiden Missionare. Die Darstellungen sind vereinfachte (verkleinerte und spiegelverkehrte) Varianten von ganzseitigen Abbildungen von Ricci und Schall von Bell m Buchinneren. Ricci erscheint schlicht gewandet wie ein konfuzianischer Gelehrter, Schall von Bell im zeremoniellen Gewand eines Mandarins dargestellt, komplett mit Mandarin-Tuch (bŭzi 補子 [11]) und Hut.

Das Frontispiz hat wenig Bezug zum Inhalt des Werks, es handelt sich vielmehr um eine Glorifizierung des Wirkens der Societas Jesu in China.

[1] Kurzbiographie: Fritz Krafft: „Kircher, Athanasius“. In: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 641-645 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118562347.html, Werk und Literaturverzeichnis: Gerhard Dünnhaupt: Athanasius Kircher S.J. (1602–1680). In: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Bd 3 (Stuttgart: Hiersemann 1991) 2326–2350.

[2] Hartmut Walravens: China illustrata. Das europäische Chinaverständnis im Spiegel des 16. bis 18. Jh. (=Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 55; Weinheim 1987) 96 f.

[3] Links zu Digitalisaten : Bibliotheca Sinica 2.0.

[4] Hartmut Walravens: China illustrata. Das europäische Chinaverständnis im Spiegel des 16. bis 18. Jh. (=Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 55; Weinheim 1987) 96 f.

[5] Zur Biographie: Cándido de Dalmases SJ, Ignatius von Loyola; Versuch einer Gesamtbiographie (München: Neue Stadt 2006).

[6] Kurzbiographie: Claudia von Collani: “Franz Xaver”. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 14 (Herzberg: Bautz 1998) Sp. 269–272.

[7] Liam Matthew Brockey: Journey to the East. The Jesuit Mission to China 1579-1724. (Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2008) 32 f.

[8]Kurzbiographie: Walter Demel: “Matteo Ricci”. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Bd. 8 (Herzberg Bautz 1994), Sp. 181–185.

[9] Zur Praxis des lingchi: Timothy Brook/Jérôme Bourgon/Gregory Blue: Death by a Thousand Cuts (Harvard University Press 2008).

[10]  Zur Biographie: Claudia von Collani: SCHALL, Johann Adam S. von Bell. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) Bd. 8 (Herberg: Bautz 1994) Sp. 1575–1582; Hartmut Walravens: „Schall von Bell, Johann Adam“. In: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 551-552 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118606387.html

[11] Dazu: Schuyler Cammann: “The Development of the Mandarin Square”. In: Harvard Journal of Asiatic Studies Vol. 8, No. 2 (August 1944), pp. 71-130.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/455

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Ein Frontispiz sagt mehr als 1000 Worte (I): Johan Nieuhof: Gezandtschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham (1665)

Die Serie “Ein Frontispiz/Bild sagt mehr als 1000 Worte” hält Beobachtungen bei der (ersten) Sichtung von vor 1700 publizierten Texten zu China fest.

In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts unternahm die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) große Anstrengungen, das portugiesische Monopol in Macau (Aomen 澳門) zu brechen, 1603 und 1607 scheiterten Versuche, Macau einzunehmen. In den 1620ern versuchte man erneut, Macau zu erobern und sich auf den Pescadoren festzusetzen. Während diese Versuche scheiterten, gelang es 1624, auf Formosa einen Stützpunkt einzurichen (Fort Oranje (ab 1627: Fort Zeelandia; [heute Anping 安平/Distrikt Tainan 臺南]) der bis 1661 gehalten werden konnte. Um Zugang zum China-Handel zu bekommen, schickte die VOC wiederholt Gesandtschaften nach Beijing, die erste war 1655-1657 unter Pieter de Goyer (fl. 1655-1657) [1] und Jacob de Keyser (fl. 1655-1657). Hofmeister, vor allem aber als Zeichner und Schreiber dieser ersten Expedition war Johan Nieuhof (auch Joan Nieuhoff, 1618-1672 [2])

Zwei Schiffe der VOC, die Koudekerke und die Bloemendaal verließen Batavia am 19.7.1655 mit Kurs Guangzhou 廣州, die Koudekerke erreichte den Hafen von Guangzhou am 4.9.1655, die Bloemendaal am 05.10.1655. Von Guangzhou aus machte man sich im März 1656 auf die etwa 2400 km lange Reise nach Beijing 北京, wo die Gesandtschaft am 16.7.1656 eintraf und rund drei Monate blieb. Am 16.10.1656 verließ die Gesandtschaft Beijing und erreichte, kam am 28.1.1657 Guangzhou und kehrte von dort nach Batavia zurück. Das Ziel der Gesandtschaft, der freien Zugang zum chinesischen Markt, wurde nicht erreicht – die Niederländer ‘durften’ alle acht Jahre eine Handelsdelegation in Verbindung mit einer Tributgesandtschaft nach China schicken und nur in dieser Zeit in Guangzhou Handel treiben. [3]

Nieuhofs Het Gezandtschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen Keizer van China, die 1665 in niederländischer Sprache erschien [4], gibt eine ausführliche Beschreibung dieser Reise – und darüber hinaus  eine Beschreibung des Landes und seiner Geschichte. Der Band wurde – wie Nieuhofs andere Bücher – von seinem Bruder Hendrik auf der Basis von Joans Skizzen und Aufzeichnungen herausgegeben. Das Besondere an diesem Band sind die etwa 150 Abbildungen, die darin enthalten sind – und die einen ‘authentischen Blick’ auf China versprachen. Nicht zuletzt die Abbildungen machten  den Titel  schnell zu einem ‘Bestseller’, es gab nicht nur mehrere Ausgaben in niederländischer Sprache, sondern auch Übersetzungen ins Deutsche, ins Englische, ins Französische und ins Lateinische, u.a.:

Von den beiden englischen Ausgaben und der in Antwerpen 1666 veröffentlichten Ausgabe abgesehen, erschienen alle Versionen bei Jacob van Meurs [5]. Die Frontispize dieser Ausgaben unterscheiden isch nur durch den in dem in eine Art Vorhang eingefügten Titel in unterschiedlciehn Sprachen.

Das Frontispiz kann als Programm für Nieuhofs Bericht und Beschreibungen gelesen werden für einen der ersten Texte eines ‘Augenzeugen’, der außerhalb katholischer Missionarskreise stand: Oben steht – klein und unauffällig ins Bild gefügt – der Titel, zusammen mit den drapierten Stoffbahnen bildet er gleichsam den Theatervorhang, der sich vor einem seltsamen Schauspiel hebt.

Im Zentrum der Komposition – quasi auf der Bühne – entfaltet sich die Szene, die den größten Teil der Darstellung einnimmt. Da sitzt der Kaiser auf einem mit geflügelten Drachen reich verzierten Thronsessel. Er hat eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere ruht auf einem Globus. Der Globus zeigt Teile Zentralasiens, Indien, Südostasien, China, Japan und den Umriss Westaustraliens (soweit er von den Fahrten des Dirk Hartog (1616), des Frederick de Houtmann (1619) und des Abel Tasman (1644) bekannt war – der Norden Asiens und der Pazifik verlieren sich im Schatten.

Der Kaiser ist ein junger Mann, seine Gesichtszüge sind ebenmäßig, er trägt einen kleinen Kinnbart und einen Schnurrbart. Die Augenbrauen über schmalen, gerade stehenden Augen zeigen einen eleganten Schwung. Auf dem Kopf trägt er eine Art Kappe mit zwei Pfauenfedern, die nach rechts unten (vom Betrachter aus gesehen) hängen. Er trägt ein langes Kleid aus einem gemusterten Stoff, das mit drei Knöpfen geschlossen (Knopfleiste vom Halsansatz bis unter den Arm) wird, und eine lange Kette aus großen Perlen mit einer Quaste.

Rund um den Thron stehen Diener /einer hält einen Schirm über den Kaiser), Bewaffnete und Würdenträger – direkt rechts und links neben dem Thron zwei Beamte mit langen Perlenketten. Alle tragen Kopfbedeckugnen, bei einigen hängt im Rücken der Zopf herunter.

‘Realistischer’ Blick?

Im Vordergrund – also vor der Bühne im Parterre – , finden sich vier weitere Figuren – ohne Kopfbedeckungen, eher ärmlich gekleidet. In der Mitte liegt eine Gestalt in einem einfachen langen Kleid mit einem sehr dicken Holzbrett um den Hals auf dem Boden. Die Arme der Figur, die zu Füßen des Liegenden sitzt, und die der Figur ganz links sind durch Ketten gefesselt. Alle drei haben dichtes Haar, das am Oberkopf zu einem Zopf zusammengebunden ist. Ganz anders erscheint die Figur rechts außen,  die zwar ebenfalls nur in Tücher gehüllt ist, aber wirres Haar und einen wirren Bart trägt.

‘Realistischer’ Blick auf China?

  • Die ab 1645 proklamierten Gesetze (tifaling  剃髮令 “Haarschneidedekrete”) befahlen den Han-Chinesen, den Großteil des Kopfes kahl zu scheren und das verbleibende Haar zum Zopf (bianzi 辮子) zu flechten. Die Durchsetzung stieß auf großen Widerstand, eine flächendeckende Umsetzung gelang erst in den 1660ern, also nach Nieuhofs Aufenthalt in China. Ausgenommen von dieser Regelung waren buddhistische Mönche, die vollständig kahl geschoren waren, und daoistische Priester, die Haar und Bart nicht schoren.

    Diese Veränderung beschreibt Nieuhof im Abschnitt über das Aussehen der Chinesen (dt. Ausg. S. 289, frz. Ausg. S. 47 , nl. Ausgabe (1665) S. 57, engl. Aus. (1669) S. 209)
  • Die Figur mit dem Halsbrett findet sich bei Nieuhof noch einmal in der ‘Beschreibung Chinas im Kapitel über Gaukler und Bettler  (frz. Ausg. S. 36, nl. Ausgabe  (1665) S. 36, dt. Ausg. (1666) S. 267); in der englischen Version (1669) ist die Abbildung spiegelverkehrt (S. 171)). Allem Anschein nach findet sich nur in der deutschen Version eine kurze Beschreibung der  Szene:”Unter andern Possen und Triegereyen / womit die Bettler in ·Sina· den Leuten das Geld vexieren / habe ihch auchzum offtern in unterschiedenen Städten und Dörffern / gesehen / daß sie den Hals durch einen grossen viereckten Stein / der ihren gantzen Leib wol zuschmettern konte [sic!] / gesteckt / und also auff der Erden gelegen; massen im beygefügten Kupffer recht lebendig abgebildet.” (S. 268)Bei dem ‘Stein’ handelt es sich um den sogenannten “Kang” (frz. cangue, von port. canga ‘Joch’, chin. mujia 木枷  oder jiasuo 枷鎖) wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert zur Bestrafung eingesetzt (ähnlich dem in Europa verbreiteten Pranger). Der Apparat bestand aus zwei Teilen, die zusammen ein schweres, flaches Brett mit einem Loch in der Mitte bildeten. Die Öffnung war so bemessen, dass der Delinquent atmen und schlucken konnte, aber mit seinen Händen nicht an den Mund kam (und daher beim Essen Hilfe brauchte).  Je nach Schwere des Verbrechens war das Halsholz unterschiedlich schwer, das jeweilige Strafmaß war seit dem Da Ming lü 大明律 von 1397 geregelt. Darstellungen dieser Bestrafung sind in der westlichen China-Literatur sehr häufig. [8]

Die Darstellung ist Programm: Einerseits wird in dem Band ausführlich die Gesandtschaft, die vor allem mit Beamten und Würdenträgern zusammentraf beschrieben, andererseits gibt es auch Informationen über ‘das gemeine Volk’ und dessen Sitten und Gebräuche. Anders als bei (in den nächsten Posts dieser Reihe zu diskutierenden) Texten von – in der Regel – jesuitischen Autoren fehlen hier sämtliche Bezüge auf göttliche Allmacht und/oder religiöse Symbole.

[1] Zur Biographie: “Goyer [Pieter de]” in Van der Aa e.a., Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Deel 7 (1862), 328.

[2] Nieuhof verbrachte den größten Teil seines Lebens fern seiner niederländischen Heimat: im Dienst der Geoctroyeerde West-Indische Compagnie (WIC) 1640-1649 in Brasilien, danach im Dienst der VOC – und später als Privatmann – auf dem indischen Subkontinent, auf Ceylon, in China und auf den Molukken.

[3] Dazu (mit Literaturhinweisen und kursorischen Verweisen auf Quellen im VOC-Archiv) Friederike Ulrichs: Johan Nieuhofs Blick auf China (1655-1657). Die Kupferstiche in seinem Chinabuch und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob van Meurs. (=SInologica Coloniensia 21, Wiesbaden: Harrassowitz 2003) 10 f.

[4] Links zu zahlreichen Digitalisaten → Bibliotheca Sincia 2.0.

[5] Zur Biographie: “Moers [Jacob van]” in: A.J. van der Aa, Biographisch woordenboek der Nederlanden. Deel 12. Tweede stuk. J.J. van Brederode, Haarlem 1869.

[6] S. Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Tokyo/Rutland/Singapore: Tuttle 2008) S. 257.

[7] H. S. Brunnert/V. V. Hagelstrom: Present day political organization of China (New York : Paragon (s. l. s. a.; Vorwort datiert “Foochow, 1911″), Nr. 950, S. 498.

[8] Zwei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert: Plate 13 in Mason/Dadley (engr.): The punishments of China (1804) und eine Photographie von John Thomson (Nr. 13, Abb. unten links) in Bd. 3 seiner  Illustrations of China and Its People (1874). Der Mann mit dem Halsbrett findet sich in einer der in den 1980ern von Leonard Blussé (wieder)entdeckten Skizzen. R. L. Falkenburg bezeichnet diese Skizze als Darstellung von “bedelaars en acrobaten (afb. 13)”, also “Bettlern und Akrobaten” ohne weiter zu kommentieren. Vgl.R. L. Falkenburg: “Johan Nieuhofs beelden van China” in:  L. Blussé and R. Falkenburg (ed.):  Johan Nieuhofs beelden van een Chinareis, 1655-1657 (1987) 63, Abb. S. 70 unten. (Online: Leiden University Repository)

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/428

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Mind the gap(s): Raum und Zeit

Der visuelle Kanon, der ‘China’ und ‘Chinesisch-Sein’ markiert, ist äußerst langlebig. China-Bilder (im Wortsinn), die von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung längst überholt sind, bleiben lange im kollektiven Bewusstsein hängen, wie etwa die nebelverhangenen Bilder von den Schluchten des Changjiang 長江 (die durch den Drei-Schluchten-Staudamm überflutet wurden) und viele andere.

Ein Grund für die nur zögernde Aktualisierung dieser Bilder dürfte der Nimbus des Exotischen sein, der allem Chinesischen anzuhaften scheint und der unabhängig von der medialen Präsentationsform ist. Dieses rätselhafte China wird in Text und Bild dargestellt, in Dokumetationen ebenso wie in rein fiktionalen Darstellungen.

Fast alle ‘klassischen’ Comics-Serien haben zumindest eine China-Episode. [1]auch unter Les aventures de Tintin [dt. Tim & Struppi] gibt es mit Le lotus bleu [dt. Der blaue Lotus] einen China-Band. Le lotus bleu, das 5. Album der Reihe, erschien zunächst im Petit Vingtième, einer Beilage zur konservativen Zeitung  Le Vingtième Siècle, in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Die einzelnen Abschnitte der  Serie – unter dem Titel “Tintin en Extrême-Orient” – erschienen zwischen 9. August 1934 und 17. Oktober 1934.  Als Album (in Farbe) erschien die Geschichte in stark überarbeiteter Form 1946.

Der blaue Lotus wird häufig als Wendepunkt in der Arbeit Herge’s bezeichnet – in mehrfacher Hinsicht: Häufig genannt wird  die Abkehr von der Reproduktion populärer Vorurteile [2] und die Hinwendung zu einer differenzierteren Darstellung. Dieser Aspekt wird explizit thematisiert: In einer Szene rettet Tim einen chinesischen Jungen aus einem reißenden Fluss – und der Junge frage, warum Tim ihn gerettet habe.[3] Tim antwortet “Tous les blancs sont pas mauvais, mais les peuples se connaissent mal.”  .[4]

Hergé greift ein Anfang der 1930er sehr aktuelles Thema – die Mandschurei-Krise – auf und ergreift für die chinesische Seite Partei. Das China, für das er Partei ergreift, ist allerdings nicht das China der 1930er, sondern das China der späten Qing-Zeit. Das China, das gezeigt wird, ist nicht das mondäne Shanghai der 1930er Jahre mit all seinen Widersprüchlichkeiten (das Mao Dun 矛盾 (1896-1981) in Ziye (1933, dt. “Shanghai im Zwielicht”) so einprägsam dargestellt hat), sondern ein sehr traditionelles/traditionalistisches China: Tim erwacht in traditionellen Gebäude [四合院 sìhéyuàn] mit Gitterwerk an den Fenstern und Rollbildern an den Wänden. Die Möbel sind vorwiegend an den Wänden entlang aufgestellt, zahlreiche ‘chinesische Vasen’ in allen Größen schmücken die Räume (Petit Vingtième n°47 du 22 novembre 1934/Album S. 18 f.). Sein Gastgeber, Wang Jen-Chie erscheint in der Kleidung eines chinesischen Gelehrten (Petit Vingtième n°48 du 29 novembre 1934/Album S. 19) – in einem knöchellangen Kleid, darüber eine ärmellose Weste mit Stehkragen und Knebelverschlüssen, das Haar unter einer kleinen schwarzen Kappe, weiße Socken und schwarze Stoffschuhe an den Füßen.

Die Shanghaier Straßenszenen, die Hergé entwirft, entsprechen dem Bild, das von frühen Bildpostkarten und frühen Fotografien vertraut ist – und diese Bilder sind durchaus langlebig: sehr belebte Straßen, von Läden gesäumt, die mit auffälligen Aufschriften und Fahnen Werbung machen, mächtige Stadtmauern mit wuchtigen Tortürmen, deren Dächer apotropäische Figuren (yánshòu 檐獸) tragen.

Dossier: La Chine, lointaine et proche - Sur fr.tintin.com

Quelle: http://fr.tintin.com/news/index/rub/100/id/3711/0/la-chine-lointaine-et-proche

Die elektrische Beleuchtung und die zahlreichen Strommasten und elektrischen Leitungen erscheint vor diesem Hintergrund besonders auffällig, gehörten aber seit den 1880ern zum Stadtbild in Shanghai. [5] In den 1930ern standen die Stadtmauern von Shanghai , die in Le Lotus Bleu immer wieder auftauchen,lange  nicht mehr, diese waren 1912 unter Gouverneur Chen Qimei zerstört worden. [6]

Dass Hergé zwischen dem Modernen und dem Alten schwankt, erscheint wenig verwunderlich – hatte er doch nur eingeschränkt Zugang zu dokumentarischem Bildmaterial und musste mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand auskommen.

Umso verwunderlicher erscheint es, dass Versatzstücke aus Le Lotus Bleu fast siebzig Jahre später wieder verwendet werden. Der Kanadier Guy Delisle (*1966) verarbeitet in der Graphic Novel Shenzhen (2000, dt. 2006) seinen Aufenthalt in Shenzhen 深圳市. Delisle kam Ende 1997 für drei Monate in die Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, um für ein Trickfilmstudio Arbeiten zu überwachen. In tagebuchartigen Szenen beschreibt Delisle seine Wahrnehmung des ‘chinesischen Alltags’, den Umgang mit kulturellen Besonderheiten und interkulturellen Missverständnissen.

Guy Delisle: Shenzhen

Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
Comic Salon Erlangen 2008 | Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
- Ausstellung: Guy Delisle – Lost in Translation
Copyright: Guy Delisle: Shenzhen. Seite 103 – Reprodukt

In einem ganzseitigen Panel (p. 103) werden Versatzstücke aus Le Lotus Bleu kombiniert zu einer Staßenszene: das Werbebanner und das Geschäftsschild aus dem oben besprochenen Panel [7], ein Rikschaläufer (vgl. Le Lotus Bleu Petit vingtième n°36 du 6 septembre 1934 [Panel unten rechts]/Album S. 7) und ein Lastenträger, der an einer langen Schulterstange schwere Lasten transportiert.

Die Banner über Geschäftseingängen gehören weiter zum Straßenbild [8], Rikschaläufer allerdings weniger und alte Männer in langen Gewändern sieht man ebenfalls selten …

Mind the gap(s) …

  • wenn ein Comic der 1930er mit Elementen aus dem China der 1900er/1910er Jahre arbeitet und
  • eine Graphic Novel im Jahr 2000 die Boomtown Shenzhen mit dem visuellen Vokabular der 1930er darstellen will.


[1] Die große Ausnahme ist Asterix, der kleine Gallier kam nie nach China.

[2] Die ersten Bände, vor allem ‘Tim & Struppi. Im Kongo’ erzählen von rassistischen Vorurteilen geprägte Geschichten, die den westlichen Imperialismus und Kolonialismus positiv herausstreichen.

[3] Erstfassung: Le petit vingtième No. 22 du 30 mai 1935 und Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 44 f.

[4] Erstfassung: Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 45 f.

[5] S. dazu: Frank Dikötter, Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in China (Columbia University Press, 2007) 133 und 135.

[6] Heute steht nur ein kleiner Rest, der als Museum genutzt wird [Dàjìng Gé Pavillon 上海古城墙和大境阁).

[7] Der Bezug ist eindeutig, Form (farblich abesetzter Rand mit Bogenkante) und Aufschrift des Banners sind identisch.

[8] Vgl. Moving Cities | Shenzhen

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/128

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Wenn Bilder wandern …. Oder: Von der Schwierigkeit, Karikaturen zu übersetzen

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

Seit mehr als 10 Jahren präsentiert das am Massachusetts Institute of Technology angesiedelte Projekt Visualizing Cultures, das in die Open Courseware-Initiative eingebettet ist, Module zur Geschichte Ostasiens und fördert bei regelmäßigen Konferenzen die Vernetzung von ForscherInnen unterschiedlichster Disziplinen, die mit Bildquellen arbeiten.

Visualizing Cultures was launched at MIT in 2002 to explore the potential of the Web for developing innovative image-driven scholarship and learning. The VC mission is to use new technology and hitherto inaccessible visual materials to reconstruct the past as people of the time visualized the world (or imagined it to be). [Quelle: http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/home/index.html]

Jedes Modul stellt Bildmaterial zu einem bestimmten Ereignis in den Mittelpunkt – wobei die Bildmaterialien, die vorgestellt werden, von Gemälden und Zeichnungen über Landkarten und Pläne zu Photographien, von Plakaten über Propoaganda-Postkarten zu Karikaturen reichen – wie beispielsweise:

Eines der Module beschäftigt sich mit der Kaiserinwitwe Cixi (Cixi 慈禧, 1835-1908). In The Empress Dowager and the Camera. Photographing Cixi, 1903-1904 bespricht David Hogge im Abschnitt Cixi’s Image Problem einige Karikaturen, um die Wahrnehmung der Kaiserinwitwe zu veranschaulichen. Unter diesen Karikaturen finden sich auch Beispiele aus österreichisch-ungarischen satirisch-humoristischen Periodika, so aus dem “Floh”, der “Germany” zugerechnet wird und aus dem “Kikeriki”.

Aus den verwendeten Karikaturen und deren Präsentation wird ersichtlich, wie komplex der Umgang mit der Quellengattung Karikatur ist – und warum es mitunter unumgänglich ist, auf das Original zurückzugreifen.

MIT Visualizing Cultures | Karikatur aus dem 'Kikeriki'Eine Karikatur (s. Abbildung links) aus dem “Kikeriki” [Bild cx235 (mit Quellenangabe, Vergrößerung])  ist besonders interessant. Thema das Schicksal der ausländischen Diplomaten in Beijing 北京 während der Yihetuan-Bewegung (義和團運動 Yihetuan Yundong, Boxer-Krieg, häufig auch “Boxer-Aufstand”) im Sommer 1900.

Die Karikatur hat hier keinen Titel, der Blocktext ist in französischer Sprache:

“Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria)  “Cette bonne impératrice de Chine garde soigneusement dans le plus intime de son palais, les représentants des puissances. Alors! que signifie?”

In der Präsentationwird eine englische Übersetzung beigefügt:

“This good empress of China carefully guards in the innermost part of the palace the representatives of the Powers. So! what does that mean?”

Die Frage ist nicht unberechtigt – denn die ganze Sache erschein bei genauer Betrachtung durchaus mysteriös …

Als Quelle wird lediglich “Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria) angegeben.  Das kann nicht sein, denn der 12. Juni 1900 war ein Dienstag. Der “Kikeriki”, eines der bedeutendsten satirisch-humoristischen Periodika des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts, erschien wöchentlich am Dienstag und am Sonntag (s. Jahresübersicht Kikeriki 1900) – allerdings liegt der ‘Fehler’ schon in der Vorlage, die wohl einem französischen Sammelband mit China-Karikaturen oder Karikaturen zu ‘la guerre de Boxeurs’ entnommen wurde, das allerdings im Quellenverzeichnis nicht genannt wird.

ANNO | Kikeriki, 5.8.1900, S. 4 Das Original (s. Abb. rechts) findet sich auch in der Nummer  62 vom 5. August 1900 auf Seite 4 – dort mit einem deutschen Text:

Neuesten Nachrichten zufolge befinden sich die europäischen Gesandten unter dem Schutz der Kaiserin Tsu-tsi [i.e. Cixi] derzeit sehr wohl. [oberhalb der Karikatur]
- Aber so! [unterhalb der Karikatur]

Die Karikatur ist die sehr drastische Umsetzung der Interpretation der sehr widersprüchlichen Nachrichten aus China, denn einerseits gab es die offizielle Mitteilung, dass es den Gesandten gut geht, andererseits kamen zahllose Gerüchte darüber, dass die Gesandtschaften niedergebrannt und alle Gesandten gefangen genommen oder gar ermordet worden wären. Im Zentrum thront eine weibliche Figur, die durch Kleidung, Frisur und (über)lange Fingernägel als ‘Chinesin’ markiert und durch den Blocktext als Cixi identifiziert wird. Sie ‘bewacht’ einen Käfig mit der Aufschrift “Gesandtschafts-Palais”. In diesem Käfig sind eine ganze Reihe von Figuren gefangen, die durch Kleidung/Uniform, Kopfbedeckungen und Frisuren als Ausländer markiert und durch den Text als diplomatische Vertreter identifiziert sind. Zu erkennen sind (v. l. n. r.) Russland, Spanien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien und das Deutsche Reich. Rechts neben dem Käfig ist ein rauchender Ofen mit der Aufschrift “Englische Gesandtschaft” zu sehen. Im Bildhintergrund links ist ein als chinesisch markiertes Gebäude mit der Aufschrift “Kaiserpalast” zu sehen.

Ohne den Text wäre das eines von vielen [1] kaum verhüllt rassistischen und Chinesen-feindlichen Bildern (Karikaturen und Bildwitzen) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Blocktext erlaubt eine Einordnung, er setzt einen Rahmen, der zwar am in der manifesten Feindbild nichts ändert, für die Deutung der Karikatur aber zwingend notwendig ist. Durch die Übersetzung und die damit verbundene Verfremdung in der im Visualizing-Cultures-Modul präsentierten Version (die allem Anschein nach aus einem französischen Sammelband von Karikaturen stammt) wird die Bedeutung verändert, die Pointe ist verloren. Aus einer pointierten Karikatur wird eine platte Feindbilder verstärkende Zeichnung von begrenzter künstlerischer Qualität …

[1] Die Karikatur ist eine von mehr als dreihundert zum Thema China, die zwischen 1894 und 1917 im Figaro, im Kikeriki, im Floh, in den Humoristischen Blättern und in den (N)euen Glühlichtern erschienen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/68

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