Lebendige Musikgeschichte: Ein Besuch im Archiv des IMD

Im letzten Monat hatte ich die Gelegenheit, eine Woche lang im Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) zu recherchieren. Das IMD ist vor allem dafür bekannt, dass es die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ausrichtet, die seit 1946 alle zwei Jahre in Darmstadt stattfinden und seit über 65 Jahren ein wichtiges Zentrum der zeitgenössischen Musikproduktion darstellen.1 Denken wir etwa an das Wirken von Boulez, Stockhausen, Nono, Cage und Adorno in den 1950er Jahren, so lässt sich mit Recht sagen: In Darmstadt wurde Musikgeschichte geschrieben. Und diese Geschichte wird im Archiv des IMD gründlich dokumentiert.

Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD)

Das IMD ist ruhig und recht unscheinbar am Rand der Innenstadt Darmstadts gelegen, gut erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bibliothek enthält eine beeindruckende Sammlung von (ca. 40.0000) Partituren und wissenschaftlichen Publikationen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Archiv umfasst Zeitungsartikel, Fotos, Briefe (insbesondere von und an Wolfgang Steinecke), Programmhefte, Livemitschnitte von Vorträgen und Konzerten und viele weitere Dokumente zu den Darmstädter Ferienkursen und auch ganz allgemein zur (klassischen) Musik nach 1945. Anhand dieser Dokumente lassen sich eindrücklich Entwicklungen, Dynamiken und Konstellationen der Musikgeschichte nach 1945 nachvollziehen.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts (zur Idee des Fortschritts in der Musik in den 1950er Jahren) war die Pressesammlung von besonderem Interesse für mich. Hier verfügt das Archiv über eine beträchtliche und gut organisierte Zusammenstellung von Presseartikeln zu vielen wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts sowie durchschnittlich einen Ordner pro Ferienkursjahrgang mit Artikeln aus unterschiedlichen deutschen (teils auch ausländischen) Zeitungen. Die chronologische Sortierung ist für einen Forscher äußerst ergiebig, denn sie bietet die Möglichkeit, die Schwerpunkte der einzelnen Jahre und die Entwicklungslinien in der Musikkritik über einen größeren Zeitraum herauszuarbeiten.

Besonders angetan war ich von dem groß angelegten Digitalisierungsprojekt (http://www.internationales-musikinstitut.de/archiv/digitalisierung.html), welches das IMD 2010 mit Unterstützung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain in Angriff genommen hat. Bislang wurden Tondokumente, Briefe und Fotos digitalisiert, die nun in einer Datenbank vor Ort recherchier- und einsehbar sind. Eine Schlagwortsuche ermöglicht dabei das schnelle Auffinden von Dokumenten zu einem bestimmten Thema. So konnte ich zum Beispiel mit nur einem Klick eine Zusammenstellung aller Briefe aufrufen, in denen es um serielle Musik geht – eine Aufgabe, die ohne Digitalisierung mehrere Tage in Anspruch genommen hätte. Diese Datenbank soll zukünftig auch online verfügbar sein, sodass z.B. ein amerikanischer Musikwissenschaftler sich leicht über den Bestand des Archivs informieren kann, bevor er die weite Reise nach Darmstadt antritt. Dies erscheint mir insbesondere als eine gute Idee, da das Archiv unter Musikforschern eher weniger bekannt ist – was in einem gewissen Widerspruch steht zu seinem reichhaltigen und bedeutenden Bestand. Ein erklärtes Ziel des IMD bei dem Projekt ist auch die Ausbildung eines „Forschungsnetzwerkes zur Neuen Musik“ (Homepage), in Kooperation mit verschiedenen Universitäten. Während es auf Seiten der Komponisten, Musiker und Veranstalter schon ein elaboriertes Neue-Musik-Netzwerk gibt, ist das entsprechende Forschungsnetzwerk noch eher spärlich ausgebaut, daher kann man gespannt auf weitere Entwicklungen blicken.

Link zur Homepage des IMD: http://www.internationales-musikinstitut.de/

1Die Ferienkurse sind übrigens auch für Musikwissenschaftler offen und sehr lohnenswert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Neben Vorträgen und Seminaren zu Kompositionstechniken, Ästhetik, Werkanalyse, Musikgeschichte etc. besteht die Möglichkeit, an einer musikjournalistischen „Schreibwerkstatt“ teilzunehmen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/254

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Frisch gelesen und rezensiert: Martin Iddons „New Music at Darmstadt“

Faktenreich, anschaulich und stets mit kritischem Blick – diese Monographie von Martin Iddon (University of Leeds) liest sich wie eine spannende Chronik zu den Anfängen der Darmstädter Ferienkurse von 1946 bis 1961. Wie der Untertitel „Nono, Stockhausen, Cage, and Boulez“ schon verrät, wird diese Geschichte am Beispiel ausgewählter (zentraler) Personen erzählt. In der Einleitung werden die Anfangsjahre der geschichtsträchtigen Ferienkurse historisch aufgearbeitet: Iddon beschreibt das politische und kulturelle Klima zur Zeit der Gründung und beleuchtet wirtschaftliche Faktoren ebenso wie die Hintergründe der beteiligten Personen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im folgenden Hauptteil geht er auf die einzelnen Jahre mit ihren Schwerpunkten und besonderen Ereignissen ein. Dadurch entsteht nicht nur ein umfangreiches Bild der Ferienkurse, sondern auch ein lebendiger Eindruck davon, welche Themen diskutiert wurden und welche Musik im Vordergrund stand. Gestützt werden diese Eindrücke durch reiches Quellenmaterial, z.B. zahlreiche Korrespondenzen (insbesondere zwischen Wolfgang Steinecke und einzelnen Komponisten), Publikationen und Vorträge der Teilnehmer sowie Rezensionen in der Presse: Wie wurde das „Wunderkonzert“ 1952 aufgenommen? Welches Echo hat John Cage 1958 ausgelöst? All dies ist in „New Music at Darmstadt“ nachzulesen.

Das Buch ist 2013 in der Reihe „Music Since 1900“ (ehemals „Music in the Twentieth Century“) der Cambridge University Press erschienen. Kommen wir nun zu den wesentlichen Thesen: Im ersten Teil „The accidental serialists“ weist Iddon glaubwürdig nach, dass es eine „Darmstädter Schule“ im Sinne einer einheitlichen kompositorischen Schule nicht gegeben hat. Zudem vollzieht er nach, wie die Idee einer „Darmstädter Schule“ überhaupt entstand: Das Bild einer seriell komponierenden, an Anton Webern orientierten Gruppe von jungen Komponisten wie Stockhausen, Bruno Maderna, Luigi Nono, Karel Goeyvaerts und Pierre Boulez wurde (bewusst) konstruiert von Akteuren des Musiklebens wie Wolfgang Steinecke und Herbert Eimert. Von der Presse wurde die Idee einer solchen Schule gerne aufgenommen, durch die es endlich gelang, die „schrägen“ jungen Komponisten einzuordnen. Mit dieser Re-Konstruktion hinterfragt Iddon einen Begriff, der für die Musikgeschichtsschreibung nach 1945 nicht wegzudenken ist. – Ist diese Idee einer „Darmstädter Schule“ seit 1953 vorhanden und ab 1955 verbreitet, so kündigt sich 1957 schon ihre Auflösung an: In dem Jahr, wo das Moment des Zufalls in der Musik (Aleatorik) zunehmend thematisiert wird.

Im zweiten großen Teil „Chance encounters“ beleuchtet Iddon die Umstände von Cages Besuch in Darmstadt 1958 und legt besonderes Augenmerk auf seine Rezeption. Dabei deutet er darauf hin, dass Cages Konzept von „indeterminacy“ (Unbestimmtheit) oft als Improvisation missverstanden wurde. Eine weitere Fehldeutung entstand durch die Übersetzung von Cages Vorlesungen durch Heinz-Klaus Metzger, der den eher spielerischen Charakter des Originaltextes in einen kämpferischen umwandelte und so seine eigene Deutung von Cage als Klassenkämpfer untermalte. Von der vermeintlichen Einheit der Darmstädter Komponisten konnte 1959 keine Rede mehr sein: Die Einstellungen zur Musik und zu kompositorischen Herangehensweisen prallten stark aufeinander – etwa bei Stockhausen und Boulez, oder Stockhausen und Nono – und das Gefühl der Kollegialität ließ stark nach. Cage war dabei, so Iddon, weniger der Grund als vielmehr ein Katalysator für die Unstimmigkeiten, die schon länger vorhanden waren und nun erst an die Oberfläche traten. Der eigentliche Konflikt, den Cage auslöste, war kein kompositionstechnischer, sondern ein musikästhetischer: „The fundamental distinction, then, was not between serial method and chance operations at all, but rather between Europeans, who wanted to be ‘composers’ through the operations of their wills and compositional desires, and Americans, who were willing to allow music to occur unpurposively.“1

Von besonderem Interesse für mich waren die ästhetischen Dispute, die Iddon nachzeichnet und in einen Zusammenhang stellt, von der Auseinandersetzung zwischen Adorno und Metzger (zum Altern der neuen Musik) über die Vorträge von Boulez (1957), Nono (1959) und Stockhausen (1959, 1960) bis hin zu Adornos revidierter Sichtweise in „Vers une musique informelle“ (1961). Dabei lässt Iddon nie aus zu fragen, auf welche Werke und Komponisten sich die Kritik in den Texten beziehen könnte. Im abschließenden Kapitel ergreift der Autor einen interdisziplinären Ansatz: Er verwendet die Theorie des Fremden in der Gesellschaft des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman, um die Rezeption von Cages Musikästhetik in Darmstadt in soziologischer Hinsicht zu kategorisieren, nämlich als Assimilation (bei Stockhausen und Metzger) und Exklusion (bei Ernst Thomas). Dieses 300-seitige Buch kann ich jedem Musikwissenschaftler empfehlen, der sich mit der Neuen Musik nach 1945 beschäftigt. Es regt dazu an, tradierte Begriffe der Forschung kritisch zu prüfen, ihrer Konstruktion nachzugehen und damit Mechanismen der Musikgeschichtsschreibung freizulegen.

1Martin Iddon, New Music at Darmstadt. Nono, Stockhausen, Cage, and Boulez, Cambridge 2013 (Music Since 1900), S. 215.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/86

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