Fit für Aufmerksamkeit?

Medialisierung von Fitness

Eine sehr allgemeine Definition von Fitness umschreibt den Begriff mit Anpassung. Meist wird damit Sport, Gesundheit und Wohlbefinden verbunden. Das vorliegende Working Paper zeigt, dass sich Fitness selbst auch angepasst hat – nämlich an die Logik der Massenmedien. Dies beginnt auf der Makro-Ebene mit dem Wandel des Fitnessbegriffs. Durch die begriffliche Abgrenzung vom gesellschaftlich weniger angesehenen Bodybuilding und dem Bedeutungsgewinn des Gesundheitsaspekts ist „Fitness“ heute in der Gesellschaft bekannt bzw. anerkannt und wird mit Gesundheit und Wohlbefinden assoziiert. Auch Fitnessstudios, vor 30 Jahren noch „Mucki Buden“, die wenig einladend, karg, schlecht ausgestattet und voll von männlichen „Pumpern“ waren, haben sich sowohl durch eine einladende und angenehme Atmosphäre als auch durch ein breites Angebotsspektrum zu regelrechten „Sporterlebniswelten“ entwickelt.  Aber auch auf der trainingsunabhängigen Ebene zeigen sich heute eine verstärkte Visualisierung, eine übersichtlichere und leichter verständliche Präsentation, sowie Inhalte, die originell aufbereitet sind. Der Kunde wird auf seinem Weg zum Traumkörper begleitet: Erfolgsgeschichten, Vorher-Nachher-Bilder, Online-Fitnessprogramme, die durch prominente Persönlichkeiten vermarktet werden.



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Quelle: https://medialogic.hypotheses.org/870

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Beerenkompott und Mammutbraten? Was ist dran an der sog. Paleo-Diät?

In den letzten Wochen erschienen gleich in zwei Internet-Satiremagazinen Beiträge zur sog. Paleo-Diät. Während die österreichische Tagespresse den Tod eines Anhängers dieser Ernährungsform betrauert, lobt der Postillion die Weiterentwicklung der Steinzeiternährung zur Paleo-Medizin.  Was auf den ersten Blick überzogen scheint, hat jedoch – wie bei Satire so oft – einen durchaus wahren Kern! Denn die Steinzeiternährung ist nicht wirklich das, was sie vorgibt zu sein.

“Paleo-Diät”. Einmal davon abgesehen, dass die Schreibweise mit „e“ statt „ä“ eine ziemlich schlechte Eindeutschung des englischen Begriffes “Paleo Diet” ist, scheint dieser Begriff vielen etwas zu versprechen: Gesundheit, Jugend, Wohlbefinden, Fitness. Die auch Steinzeitdiät genannte Mode in der Ernährung geht davon aus, dass der Mensch, um sich wirklich richtig zu ernähren, wieder zu jenen Nahrungsmitteln zurück muss, auf die sich sein Körper vor der neolithischen Revolution, d. h.

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Quelle: http://archphant.hypotheses.org/21

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Kulturgeschichte und chinesische Medizin


"Die Tradition der Chinesen dürfte in der ganzen Welt ohne Beispiel sein, den berühmtesten Ärzten in den größeren Städten des Landes überall Tempel zu erbauen, um die Erinnerung an sie wachzuhalten und sie zu verehren. In diesen "Tempeln der Medizinkönige" sind ihre Namen auf Tafeln verzeichnet, und die Menschen gingen bis zu Anfang dieses [d.i., des 20.] Jahrhunderts in die Hallen und brachten den Geistern der Ärzte Opfergaben." (yaowangmiao [藥王廟])[1]

Dieser Satz aus Manfred Porkerts Die chinesische Medizin regt dazu an, sich mit den kulturgeschichtlichen Aspekten der traditionellen chinesischen Medizin zu beschäftigen[2].

Vor allem die Verehrung des angeblich von 581 bis 682 lebenden Arztes Sun Simiao 孫思邈[3] scheint alle Dynastiewechsel des kaiserlichen China sowie alle Umbrüche des 20. Jahrhunderts überdauert zu haben.  Während der Qing-Dynastie (1644-1912) wurde Suns angebliche Heimatstadt in Yaowang Shan 藥王山 (d. i. "Medizinkönig-Berg") umbenannt [4]  Nach wie vor wird Sun Simiao beispielsweise in dem im Süden Beijings liegenden Baiyun Si  白雲寺 ("Tempel der Weißen Wolke") verehrt.[5]

Neben dem hier exemplarisch genannten (volks)religiösen Aspekt bieten sich für weitere Betrachtungen von "Wechselwirkungen" zwischen Medizin und Kulturgeschichte in erster Linie wohl die Bereiche Bildung/Buchdruck und Ernährung an. Da man von einer einführenden Darstellung zur Kulturgeschichte Chinas nicht unbedingt ein Kapitel über die traditionelle Medizin erwarten sollte, werden die "medizinischen" Aspekte wohl bei den genannten Bereichen in die Darstellung einfließen.

 

  1. Manfred Porkert: Die chinesische Medizin (Düsseldorf, 2. Aufl. 1989) 287.
  2. Zu berühmten chinesischen Ärzten vgl. die sehr kurzen biographischen Angaben unter "Famous Chinese Physicians of the Past" auf den Seiten des Institute for Traditional Medicine, Portland, Oregon
  3. Zu Leben und "Nachleben" Suns vgl. Paul U. Unschuld: "Der chinesische "Arzneikönig" Sun Simiao. Geschichte - Legende - Ikonographie. Zur Plausibilität naturkundlicher und übernatürlicher Erklärungsmodelle." In: Monumenta Serica 42 (1994) 217-257.
  4. Vgl. dazu Iiyama Tomoyasu, Macabe Keliher (trans.): "Maintaining Gods in Medieval China: Temple Worship and Local Governance in North China under the Jin and Yuan" In: Journal of Song-Yuan Studies 40 (2010) 79 Anm. 11. Anm. d. Übers.
  5. Vgl. etwa Volker Scheid: Chinese Medicine in Contemporary China. Plurality and Synthesis (Durham 2002) 17.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1512

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Vom Essen und vom Trinken in China (IV): “Alles, was man essen kann”

In „Alles, was man essen kann“ ging Waverly Root (1903-1982) wiederholt auf Nahrungsmittel und auf Speisen ein, die entweder aus China stammen oder hauptsächlich mit China assoziiert werden.[1] Die folgende Zusammenstellung entsprechender Bemerkungen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Gemüse

Zum Chinakohl und seinem “Verwandten” Pak-Choy schreibt Root: “[...] ersterer ist ein Kopfkohl mit wirsingähnlicher Blattstruktur, doch von länglicher Form und von zartgelber bis weißlicher Farbe, letzterer ein Blätterkohl mit weißen, fleischigen Stengeln und hell- bis tiefgrünen Blättern von weicher und glatter Struktur.” (S. 172). An anderer Stelle (S. 269) weist Root darauf hin, dass Pak-Choy nichts anderes als “weißes Gemüse” (baicai 白菜) bedeutet.
Zu Brokkoli meint Root, dass dies “eines der wenigen westlichen Gemüse” sei, “die von den Chinesen angenommen wurden.” Außer den Chinesen würden es allein die Italiener verstehen “Textur und Aroma zu bester Geltung” zu bringen. (S. 33). Spinat wurde schon 647 n. Chr. in chinesischen Werken erwähnt (S. 345).
In seinen Erläuterungen zur Süßkartoffel (chines. hongshu 紅薯) beschreibt er einen für die frühneuzeitliche Verbreitung von Nutzpflanzen “typischen” Weg: “China erhielt die Batate vermutlich über spanische Händler, die sie von den Philippinen mitbrachten, und Japan erhielt sie von China.” (S. 350).

Obst

Root stellt die Frage, ob die Birne nicht aus China stammt, nachdem sie dort schon für die Zeit um 2100 v. Chr. als Grabbeigabe nachgewiesen werden konnte. (S. 27). Im Gegensatz dazu ist der Granatapfel (shiliu 石榴) in China nicht vor 100 v. Chr. bezeugt (S. 90). Ein chinesischer Reisender des 7. Jahrhunderts erwähnte die Mango (S. 230).  Die Papaya erreichte China nicht vor dem 19. Jahrhundert (S. 270).

Der Geschichte der Jujube (shazao 沙棗) in China widmet Root breiten Raum (S. 131):

“[...] in China werden Jujuben seit mindestens 4000 Jahren kultiviert, und die Jujube hat einen festen Platz in der klassischen chinesischen Küche. Im Mittelalter war eine der ‘acht Köstlichkeiten’ Chinas Spanferkel mit einer Füllung von Früchten, die in den Übersetzungen als Datteln bezeichnet werden. [...]“

Einen handfesten politischen Grund hatte die Umbenennung der Frucht des Chinesischen Strahlengriffels. Diese erhielt den Namen Kiwi “als man feststellen mußte, daß in Amerika McCarthys das Wort ‘chinesisch’ nicht viel verkaufsfördernder war als Begriffe wie ‘kommunistisch’ oder ‘Weltrevolution’ [...] (S. 161)

Sowohl “die große Zahl wilder Varietäten” als auch “die große Zahl spezifischer Schädlinge und Krankheiten der Pflanze”, die es in Südchina legen den Schluss nahe, dass die Süßorange aus dieser Gegend stammt (S. 264). Melonenkerne, so Root, galten im China des 2. Jh. v. Chr. als “beliebte Näscherei” (S. 240).

Ausführlicher als dem Vorkommen der Orange in Südchina widmet sich Root der Bedeutung des Pfirsichs für die Kultur(geschichte) Chinas. In Dichtung und Malerei gilt der Pfirsich als Symbol der Unsterblichkeit – ein typisches Geburtstagsgericht trägt den Namen ‘Pfirsich des langen Lebens’ (shoutao 壽桃). In alter Zeit nahm man auch an, “daß der Genuß von Pfirsichen später einmal den Leichnam vor Verwesung bewahrt.” (S. 282)

Der Kumquat (S. 189 f.; chinesisch jinju 金橘) widmet Root einen eigenen Eintrag. Die Litschi (chines. lizhi 荔枝), “die zusammen mit der Frühlingsrolle und dem rätselhaften Gericht namens Chop-Suey[2] für jedermann im Westen die chinesische Küche repräsentiert” (S. 211), erwähnt er dagegen nur en passant.

Nüsse

Gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. scheint der Walnussbaum nach China gekommen zu sein. (S. 375)
Nur ihrem deutschen Namen nach – botanisch gesehen zählt sie zu den Hülsenfrüchten – sei hier auch die Erdnuss erwähnt, die frühestens im 17. Jahrhundert nach China gelangte. (S. 62)

Fleisch

“Die Zeitungsente ist kein Vogel, sondern eine Schimäre, und der 2 CV gehört zu den Dingen, die selbst ein Chinese nicht essen würde, obwohl er weder ein Tisch noch ein Flugzeug ist.” (S. 54)[3]

Wie dieses und andere Beispiele[4] zeigen, bringt Root in seinem Text auch gängige Vorurteile unter. Zum Verzehr von Schweinefleisch bringt er eine Beobachtung von Owen Lattimore, die die mit einem mongolischen Vorurteil schließt: “Wer Schweinefleisch ißt, fängt an zu werden ‘wie die Chinesen’.” (S. 335).

Im Zusammenhang mit dem Ursprung des Fasans weist Root auch auf den Bericht des Marco Polo hin. (S. 71).

Neben Schweinefleisch und Geflügel zählt Lamm in China “zu den köstlichsten Feiertagsspeisen”, vor allem im Norden und Nordwesten des Landes (S. 200).

Eine besondere Spezialität der nordchinesischen Küche ist die Lammfleischsülze, deren Gelatine aus den Lammfüßen gewonnen wird, ebenso wie die Franzosen sind auch die Chinesen Meister im Verwerten aller Teile ihres Schlachtviehs.” (S. 200 f.)

Während Tigerfleisch „seit der Zeit der Peking-Menschen von der Speisekarte verschwunden“ (S. 355) wäre, hätten Chinesen – nach den “Indianern”, aber vor den Arabern – Kamelfleisch gegessen (S. 139). Nicht nur in der römischen Antike – auch im “alten China” wurden Kraniche zum Verzehr zubereitet (S. 177).

Fisch

Sowohl im Zusammenhang mit dem Fisch im Allgemeinen (S. 75) als auch mit dem Karpfen (S. 146) weist Root darauf hin, dass die Chinesen auf den der Bewässerung der Reispflanzen dienenden Terrassen auch Fischzucht betrieben hätten.

Reis und Getreide

Im Zusammenhang mit Gerste (S. 87) und Hirse (S. 109) erwähnt Root die “fünf heiligen Kulturpflanzen Chinas”: Gerste noch Reis, Sojabohne, Weizen und Hirse. Für den Norden Chinas nennt Root den Weizen als “Hauptnahrung – meist in Form von Nudeln, aber auch als Brot.” (S. 376) In Süd- und Zentralchina ist der Reis das wichtigste Nahrungsmittel (S. 301):

Die französische und die chinesische Küche werden gern miteinander verglichen, was Raffinement und Einfallsreichtum betrifft, doch nichts erhellt den Unterschied zwischen beiden Mentalitäten schlagender als die Verwendung der gleichen Metapher: In China sagt man von einer Mahlzeit ohne Reis, sie ähnele einer einäugigen Schönheit, in Frankreich sagt man das von einer Mahlzeit ohne Käsegang. (S. 304)

Der Mais kam offensichtlich Mitte des 16. Jahrhunderts nach China: 1550 als eine der Tributgaben genannt, wird er 1555 in einer Lokalmonographie aus der Provinz Henan erwähnt. (S. 223).

Gewürze

Einige der Gewürze, die in der chinesischen Küche Verwendung finden, handelt Root im Zusammenhang mit dem Fünf-Gewürze-Pulver ab, “sofern es sich um das chinesische Gewürz handelt, Pfeffer oder Szechuanpfeffer, Sternanis, Fenchel, Zimt und Nelken [...] (und außerdem nicht selten getrocknete Mandarinenschale, obgleich diese es zu einem Sechs-Gewürze-Pulver macht) [...]” (S. 81)

Eier

Root erwähnt, dass sich in China Taubeneier “großer Beliebheit” erfreuen. Die “‘hundert-’ oder ‘tausendjährigen’ Eier der chinesischen Küche sind Enteneier (die bis zu 100 Tage alt sein können)” (S. 48)[5]

„Besonderheiten“

Zum Schluss dieses Beitrags noch einige weitere Hinweise, die Root auf die chinesische Esskultur gibt: so erwähnt er, dass die Blätter der Chrysanthemen-Blüten in China “getrocknet als Teebestandteil” (S. 37) genossen werden. Über den Götterbaum schreibt er, dass “dessen Blätter in China zu Zeiten des Überflusses Seidenraupen und zu Zeiten des Mangels Menschen” ernährt haben. (S. 88) Die Heuschrecke sei in China auch unter der Bezeichnung “Strauchkrabbe” bekannt (S. 102 und 180). Unter “Lo” erwähnt Root nicht nur die Longan, “eine subtropische Frucht, die aussieht, wie eine lockere Traube gelblicher Weinbeeren und [die] in China als ‘Drachenaugen’ [chines. longyan 龍眼] bezeichnet [wird]“, sondern auch, dass Rhizome und Samen der Lotospflanze “von heutigen Chinesen gegessen” werden. (S. 214). Root schreibt, dass die früheste Beschreibung des Rharbarbers aus China stamme: “Sie nennt die Pflanze ein medizinisches Kraut, und das blieb sie die nächsten  4500 Jahre, in denen ihre Wurzel als Abführmittel benutzt wurde.” (S. 306). Während Root im Eintrag “Vogelnester” (S. 371) keinen Hinweis auf die chinesische Küche gibt, sei am Ende dieses Beitrags noch der “Wolkenohrpilz” (mu’er 木耳) erwähnt, “den man nur in China frisch essen kann, in welcher Form er sehr viel besser mundet als in der anderswo gebräuchlichen getrockneten”. (S. 380)

  1. Waverley Root: Alles, was man essen kann. Eine kulinarische Weltreise von Aakerbeere bis Zwiebel. Bearbeitet und aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz (Frankfurt a. M. 2002 [deutsche Erstausgabe unter dem Titel Das Mundbuch (Frankfurt a. M. 1994); amerikan. Original: Food. An Authoritative and Visual History and Dictionary of the Foods of the World (New York 1980]).
  2. zasui 雜碎, i.e. “verschiedene Reste”
  3. Vgl. dazu: “Die Kantonesen essen alles, was am Himmel fliegt, außer Flugzeuge.” Ostasienlexikon, Ostasieninstitut der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.
  4. So etwa die Erwähnung des für das 2. Jh. v  bezeugten Verzehrs von Hundeleber (S. 210) oder die eher vagen Angaben zu Schlangenfleisch (S. 329).
  5. Zu den Kiefernblüteneiern oder Tausendjahreiern vgl. Ostasieninstitut der Hochschule Ludwigshafen: Ostasienlexikon, Art. “Tausendjährige Eier”.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1256

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aventinus antiqua Nr. 23 [27.03.2014]: Ernährung und Gastronomie in einer antiken Stadt am Beispiel dreier Quellen [=historia.scribere 1 (2009), S. 611-623]

Die vorliegende Arbeit untersucht unter dem Aspekt des Lebens in einer antiken Stadt die Ernährung und Gastronomie anhand von Quellen. Hierfür werden drei Texte herangezogen, die Informationen über verschiedene Gerichte sowie mit Mahlzeiten verbundene Bräuche und Sitten enthalten. http://bit.ly/1m8OBb2

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/03/5004/

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Vom Essen und Trinken in China (III): China in der “Kulturgeschichte des Essens und Trinkens”

Die lose Serie zum Essen und Trinken in China kommt – nach einer allgemeinen Einleitung und einem Beitrag zu den Stäbchen – natürlich nicht an der “Kulturgeschichte des Essens und Trinkens”[1] von Gert von Paczensky und Anna Dünnebier vorbei. Bei der Lektüre wird man – anders als bei Werken, die sich ausschließlich der chinesischen Küche widmen[2] – schon von vornherein auf eine Fülle von Verbindungen, Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen Entwicklungen in China und anderen Teilen der Welt aufmerksam gemacht. Im Zusammenhang mit “heißen” und “kalten” Speisen etwa (S. 539-541) wird auch auf ähnliche Theorien bei Hippokrates und bei dessen “neuzeitlichen” europäischen Nachfolgern eingegangen.

An mehreren Stellen des Buches ziehen die beiden Autoren zudem Parallelen zwischen den Entwicklungen und Leistungen der chinesischen und der französischen Küche/Kochkunst/Gastronomie: seien es die ältesten erhaltenen Herdstellen (Zhoukoudian bei Beijing und Terra Amata bei Nizza, jeweils eine halbe Million Jahre alt; vgl. S. 17), sei es im Zusammenhang mit ihrer Bewunderung für Paul Bocuse und die französische Gastronomie, “die auf ihrem höchsten Niveau allen anderen außer vielleicht der chinesischen überlegen ist” (S. 572). Auch die Pionierrolle beider Länder für die Enstehung von Restaurants wird vermerkt, wären diese doch “nur an zwei Stellen der Welt entstanden [...] in China im 10. und in Frankreich im 18. Jahrhundert” (S. 145; zu Restaurants in China auch S. 151-153).

Im Zusammenhang mit chinesischen Kochbüchern erwähnen die Autoren neben den Ausführungen des Liji 禮記 (d. i. “Buch der Riten”, S. 59)  unter anderem die von Yuan Mei 袁枚 (1716-1798) verfasste”Speiseliste des Gartens des Beliebens” (Suiyuan shipu 隨園食譜 beziehungsweise Suiyuan shidan 隨園食單)[3]

Dem Leser wird vor Augen geführt, dass es in China traditionell wenig Nahrungstabus gab (S. 309). Der Verzehr von Käse wurde lange Zeit abgelehnt, da man diesen als “verfaulte schleimige Absonderung aus den Eingeweiden eines Tieres” (S. 396) sah. Während festgehalten wird, dass in China und in Korea nach wie vor Hundefleisch gegessen wird (S. 555) und im südchinesischen Guangzhou “süße Käfer als Konfekt” (S. 558) gereicht werden, werden Ratten ausdrücklich im Zusammenhang mit “Notnahrung” erwähnt (S. 427). Ausführlich widmen sich die Autoren dem Thema Hunger – sowohl den Hungersnöten des kaiserlichen China (S. 408 f.) als auch der Hungerkatastrophe der Jahre 1959-1961, bei der “nicht weniger als 30 Millionen Menschen umgekommen sind.” (S. 442)

Die im 11. Jahrhundert erfolgte Einführung neuer Reissorten aus Südostasien, die statt einer nun zwei Ernten pro Jahr erlaubte, bezeichnen die Autoren als “grüne Revolution” (S. 472) – um die Zeitenwende hatte Reis als “das Getreide der Wohlhabenden” (S. 39) gegolten. Daran kann man auch die weite Verbreitung von Nudeln, (gefüllten) Teigtäschchen und -bällchen ermessen (S. 386). In diesem Zusammenhang räumen die beiden Autoren auch mit dem weitverbreiteten Irrtum auf, dass die Nudeln erst von Marco Polo nach Europa gebracht worden wären (S. 560 f.)

Die technischen Voraussetzungen für das Kochen – wie Herd und Wok (S. 383-386) – werden ebenso thematisiert wie Fragen der Etikette (S. 359-362, 369 und 378), die Veränderungen für die Esskultur durch die Einführung von Tischen und Stühlen anstelle der vorher benutzten Matten (S. 339 f.) sowie die Bedeutung der Essstäbchen (S. 348-351). Auch die Geschichte der Konservierung von Nahrungsmitteln wird von den Autoren erörtert. Seit der Antike waren auch in China während des Winters große Lager mit Eisblöcken angelegt worden, um dann während der warmen Jahreszeit verderbliche Speisen zumindest eine Zeitlang aufbewahren zu können (S. 392), auch chinesisches “Sauerkraut” (S. 131 und 398) wird wiederholt erwähnt. Die Bedeutung des Salzes für die kulinarische und kulturelle Tradition Chinas wird jedoch fast mit Stillschweigen übergangen – lediglich das im 11. Jahrhundert entwickelte Tiefbohrverfahren zur Gewinnung unterirdischer Salzlake wird erwähnt (S. 103).

Wie schon der Titel verrät, kommt natürlich auch das Trinken in diesem Band nicht zu kurz. Neben einer ausführlichen Würdigung des Tees (S. 518-529) wird wiederholt das Thema Alkohol und Alkoholkonsum angesprochen: Neben dem Hinweis, dass Ostasiaten jenes Gen fehle, das für den schnellen Abbau von Alkohol im Blut sorgt (S. 179), erfahren wir Näheres über die Bierkultur im traditionellen China (S. 196 und 200-202) und dass China “ein Sonderfall in der Weingeschichte” (S. 220) sei, da Weintrauben erst sehr spät für die Weinherstellung verwendet wurden. Dafür war das Angebot an Reisschnäpsen reichlich: für das 13. Jahrhundert sind für die damalige Hauptstadt, das heutige Hangzhou, 54 Varianten bezeugt. (S. 237)

Am Schluss dieser Nachlese soll einer der von den Autoren bemühten chinesischen Gewährsleute zu Wort kommen. Der Gelehrte, Literat und Kalligraph Huang Tingjan 黃庭堅 (1045-1105) mahnte bereits zu bewusster Ernährung: “Ißt man den ganzen Tag lang, ohne sich über die Herkunft der Speisen im Klaren zu sein, so ist man ein Dummkopf.” (S. 360)

  1. Gert von Paczensky, Anna Dünnebier: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens (München: btb Taschenbuch, 1997 [zuerst München: Knaus 1994]). Vgl. dazu die “Stimmen zu “Leere Töpfe, volle Töpfe – die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens”
  2. Vgl. zuletzt etwa Thomas O. Höllmann: Schlafender Lotos – trunkenes Huhn. Kulturgeschichte der chinesischen Küche (München 2010).
  3. Suiyuan 隨園, der “Garten des Beliebens” in Nanjing war das Anwesen von Yuan Mei. Die Autoren verweisen auf: Wolfram Eberhard: Die chinesische Küche. Die Kochkunst des Herrn von Sui-yüan, Sinica, Jg. 1940, S. 190-228.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1017

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Vom Essen und vom Trinken in China (II): Essstäbchen

Bisweilen als das zweifellos typischste Zubehör der chinesischen Küche bezeichnet[1], reicht die Verwendung  von Stäbchen  bis in vorgeschichtliche Zeit zurück. Seit rund zweitausend Jahren werden sie auch beim Essen verwendet – chinesische Gerichte werden traditionell klein geschnitten aufgetragen. Für die Stäbchen gab es im Laufe der Zeit unterschiedliche Begriffe – darunter auch den Begriff kuaizi 快子.  Erst im 20. Jahrhundert wurde dabei dem Zeichen kuai 快 (“schnell”) auch der Bestandteil für “Bambus” (zhu 竹) hinzugefügt, sodass daraus kuaizi 筷子 wurde.[2].  Diese Essstäbchen sind

„ein vielseitiges, in ihren Konsequenzen als technische Weichenstellung für die materielle Kultur Chinas erst wenig erforschtes Instrument. Mit Stäbchen zelebrieren Menschen aus China bewußt oder unbewußt ihr Chinesisch-Sein.“[3]

A Pair of Chopsticks

Ein Paar Essstäbchen – Foto: Georg Lehner 

Heute meist aus Bambus, Holz und – in den letzten Jahrzehnten – zunehmend aus Kunststoff hergestellt, wurden im Laufe der Geschichte auch Luxusausführungen aus Jade, Elfenbein, Achat, Gold oder Silber gefertigt, wobei neben edlen Materialien auch auf die Verzierung großer Wert gelegt wurde. Vor allem Stäbchen aus Silber waren im kaiserlichen China bei Angehörigen der Oberschicht beliebt, ließen sich dadurch angeblich mit Arsen vergiftete Speisen erkennen. Heute weiß man jedoch, dass Silber auf Arsen und Zyanid nicht reagiert.[4] Eine der Theorien über die Erfindung der Stäbchen betont deren Gefahrlosigkeit, da sich ein Gast damit keinerlei Verletzungen zuziehen kann. Schon Konfuzius hatte sich gegen den Gebrauch von Messern während des Essens ausgesprochen.[5]

Die beim Essen verwendeten Stäbchen sind etwa 25 cm lang. Beim Kochen werden deutlich längere Stäbchen verwendet. Abgesehen von den Suppen, für die Löffel aus Porzellan verwendet werden, lassen sich damit alle Gerichte der chinesischen Küche problemlos essen. Während eines der Stäbchen in der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger liegt und am unteren Ende mit dem Ringfinger abgestützt wird ist das zweite – das zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger gehalten wird – frei beweglich.

Für die Handhabung der Essstäbchen gibt es auch zahlreiche kulturgeschichtlich interessante Anweisungen. Ganz wichtig ist es, die Stäbchen nach dem Essen “nie in die Eßschale [zu] legen, weil man das so beim Kult der Ahnen tut. Es würde Unglück bringen.”[6]

Die allgemeine Verbreitung der Essstäbchen führte dazu, dass 1986 und 2006 Abgaben auf Einwegstäbchen aus Holz eingeführt beziehungsweise erhöht wurden, um die Abholzung von Birken- und Pappelbeständen einzudämmen. Pro Jahr werden in China 45 Milliarden Paar Stäbchen verbraucht, wofür 25 Millionen Bäume benötigt werden. In jüngster Zeit wurde zwar damit begonnen, “umweltfreundliche” Stäbchen aus Maisstärke herzustellen, deren Herstellung ist jedoch nach wie vor wesentlich teurer als die der Holzstäbchen.[7]

  1. Vgl. etwa Ronald G. Knapp: Things Chinese. Antiques – Crafts – Collectibles (North Clarendon VT, 2011) 88.
  2. Vgl. den historischen Abriss bei Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and Enlarged (Cambridge MA, 2000) 646 f.
  3. Mareile Flitsch: “Westküche mit Eßstäbchen”. Überlegungen zur sozial-technischen Wahrnehmung der Welt im modernen chinesischen Alltag. In: Raimund Th. Kolb, Martina Siebert (Hg.), Über Himmel und Erde. Festschrift für Erling von Mende (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes LVII,3, Wiesbaden: Harrassowitz, 2006) 127-151, hier 127 (mit weiteren Literaturhinweisen).
  4. Vgl. dazu u.a. den Menüpunkt “Chopsticks” unter: Califormia Academy of Sciences, Institute for Biodiversity Science and Sustainability, History of Eating Utensils sowie unter smithsonianmag.com im “Food and Think”-Blog den Beitrag The History of Chopsticks (5 August 2009).
  5. Vgl. Asian Art Mall: “Chopsticks. History and Legend”.
  6. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl. 1996), 78 (“Eßstäbchen”).
  7. Knapp: Things Chinese, 89.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/913

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Vom Essen und vom Trinken in China (I): Allgemeine Bemerkungen

Die Entwicklung von Ess- und Trinkgewohnheiten nimmt auch in der Kulturgeschichte Chinas einen wichtigen Stellenwert ein.  Das Spektrum dabei reicht von den so genannten “sieben Notwendigkeiten des Lebens” (kaimen qi jian shi  開門七件事), die alle direkt oder indirekt mit Nahrung beziehungsweise mit deren Zubereitung zu tun haben (neben dem zum Kochen unerläßlichen Brennmaterial sind dies Reis, Öl, Salz, Soja, Essig und Tee), bis hin zu jenen exquisiten Speisen, die bei opulenten kaiserlichen Banketten gereicht wurden[1].

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Das auf dem Schälchen zu sehende Schriftzeichen shou 壽 bedeutet “langes Leben” – Foto: Monika Lehner

„Inhaltlich setzt sich Eßkultur aus Objekten, Handlungen, sozialen Beziehungen und Wertsystemen zusammen, die das menschliche Selbstverständnis berühren, Emotionen zum Ausdruck bringen und Chancen bieten, den alltäglichen wie ungewöhnlichen Lebenserfahrungen eine Bedeutung zu verleihen.“[2]

In diesem  Sinne wird sich “De rebus sinicis” in loser Folge inzelnen Aspekten des hier skizzierten Rahmens widmen. Obwohl schon der Titel der hiermit beginnenden Serie verrät, dass dabei weniger die Küche und das Kochen sondern vielmehr das Essen und das Trinken im Mittelpunkt stehen werden, sei zunächst auf die unterschiedlichen Kochtraditionen im Gebiet des heutigen China verweisen.[3] Diese unterschiedlichen Traditionen werden im Westen unter dem vereinfachenden Begriff “chinesische Küche” zusammengefasst. Gelegentlich ist von acht Hauptrichtungen die Rede. Diese Hauptrichtungen werden mit einzelnen Regionen beziehungsweise Provinzen verbunden (Beijing, Shandong, Jiangsu, Anhui, Guangdong, Fujian, Sichuan und Hunan). In anderen Darstellungen werden vier Großregionen unterschieden.[4]:

  • Norden (Beijing, Hebei, Henan, Shandong, Shanxi und Shaanxi) – Geschmacksrichtung: salzig – häufige Verwendung von Knoblauch – Spezialitäten: mongolischer Feuertopf, Peking-Ente
  • Osten (Jiangsu, Zhejiang, Anhui, Jiangxi, Hubei (ohne die südwestlichste Region), lokale Traditionen in den Städten Shanghai, Hangzhou, Suzhou und Wuxi – Geschmacksrichtung: sauer – gilt als “schwer” und “dekorativ”, u.a. bekannt für die Technik des “Rotkochens”, worunter man das langsame Köcheln in dunkler Sojasauce versteht, die mit Reiswein angereichert wurde
  • Süden (Fujian, Guangdong und Guangxi) – Geschmacksrichtung: süß – die verschiedenen natürlichen Aromen werden harmonisch kombiniert, Gewürze eher sparsam verwendet – als südchinesische Spezialität gilt Dim Sum (dianxin 點心[5])
  • Westen (Sichuan, Hunan, Guizhou, Yunnan und die südwestlichste Region von Hubei) – Geschmacksrichtung: scharf, auch mit ausgiebiger Verwendung von Gewürzen – ein typisches Gericht ist etwa die sauer-scharfe Suppe
  1. Einen kurzen Überblick über die Geschichte chinesischer Tafelfreuden bietet Kai Vogelsang: Geschichte Chinas (Stuttgart 2012) 342-344.
  2. Hans-Jürgen Teuteberg: „Homo edens. Reflexionen zu einer neuen Kulturgeschichte des Essens.“ Historische Zeitschrift 265 (1997) 6.
  3. Vgl. etwa Solomon H. Katz, William Woys Weaver (Hg.): Encyclopedia of Food and Culture (Scribner Library of Daily Life), 3 Bde. (New York 2003) [Bd. 1], S. 379-399 („China“, mit Abschnitten zur Küche des dynastischen China (S. 379-384) sowie zu den Regionalküchen von Beijing (S. 384-388, Eugene N. Anderson), Fujian (S. 388-390, Jacqueline M. Newman), Guangzhou (390-393), Sichuan (393-396), Zhejiang (S. 396-398, Eugene N. Anderson).
  4. Die Einteilung folgt Vgl. Yan-kit So: Chinesische Küche (Werl, o. J. [ca. 1990]) 7-10 (Karte auf S. 7), Piero Antolini, The Lian Tjo: Das große Buch der chinesischen Küche (Köln [1990]) 11 (Karte).
  5. Erläuterungen zur Begriffsgeschichte und anschauliche Bilder bietet das Ostasienlexikon der Hochschule Ludwigshafen, Art. “Dim Sum”

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/899

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Die “gute Butter” und das Schweigen: Eindrücke aus Gesprächen über die Nachkriegskinder-Studie

Häufig, wenn ich über die Nachkriegskinder-Studie erzähle, fangen meine Gesprächspartner an von ihren Eltern (oder Großeltern) zu erzählen. Die Geschichten dieser “zweiten Generation” sind nicht immer gleich, doch einige Themen tauchen öfter auf, wenn ich den Geschichten von früher und heute zuhöre.

„Gute Butter“, dieser Begriff gehört für mich zu der Generation, die den Krieg und die Zeit kurz danach selbst erlebt hat. Mir wurde erzählt, dass die Eltern/Großeltern als Kinder oder Jugendliche Kartoffelschalen ausgekocht haben, damit sie etwas zu Essen hatten. Manches Mal mussten sie lange suchen und bei Bauernhöfen betteln oder hungrig schlafen gehen. Der Hunger gehörte für sie dazu.
In späteren Wohlstandszeiten konnte dann dick gute Butter und Leberwurst auf das dünn geschnittene Brot geschmiert werden, so dick, dass die zweite Generation das Verhalten ihrer Eltern kaum nachvollziehen konnte. Wenn Besuch kam, wurde diesen trotzdem reichlich Essen aufgetischt, auch wenn die Gäste bereits satt waren, wurde mir erzählt. Widerrede war da zwecklos.

Ein weiteres Thema, dass in den Erzählungen immer wieder auftaucht, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Kriegsgeschichten oder Flüchtlingserlebnisse, nach solchen Geschichten zu fragen sei für die nachfolgende Generation wie ein Tabu gewesen. Manche Kriegs- und Nachkriegskinder öffnen sich erst im hohen Alter, wenn sie überhaupt jemals darüber sprechen. Und wer hört schon gerne von Bombennächten, Fliegeralarm und Flucht, von Überlebensangst, Erschießungen, Vergewaltigungen, dem Tod des Vaters oder der Mutter und all den Schrecken, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Wenn ich nur Teile solche Geschichten höre und sie vergleiche mit den Sorgen, die Eltern heute um ihre Kinder haben, wenn ihnen im Vergleich eine Kleinigkeit zustößt, merkt man schnell, dass bei diesen Vergleichen Welten dazwischen liegen. Aber wieso sollten die Kinder von damals stärker oder unempfindlicher sein als die heutigen Kinder?

Besonders schwierig empfinde ich bei diesem Thema das Spannungsfeld zwischen Deutschen als Tätern und Deutschen als Opfern. Ich denke es ist einfach zu sagen, dass Kinder, die in der Kriegszeit und in der Nachkriegszeit geboren wurden, auch zu den Opfern des Nationalsozialismus gehören. Viele von Ihnen sind in einer Welt voller Zerstörung aufgewachsen, sowohl materieller, als auch ideeller Zerstörung. Fern liegt es mir jedoch, die deutschen Kriegs- und Nachkriegskinder so darzustellen, dass sich die tatsächlichen Täter mit Ihnen als Opfer identifizieren können. Kein Opfer des Nationalsozialismus darf vergessen werden. Manchmal ist das Schweigen der zweiten Generation bei diesem Thema auch Ausdruck des Unbehagens über das, was ihre Eltern getan haben, vermute ich.

Ein Arzt beschrieb mir die Generation, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatte, oft als sehr bescheiden, wenn sie zu ihm in die Praxis kommen. Sie möchten nicht gerne zum Arzt gehen, reden ihre Leiden und Schmerzen klein und nehmen sich selbst zurück. Sie wünschten sich, dass es ihren Kindern einmal besser ginge, wofür sie oft wenig Rücksicht auf sich selbst genommen haben. Viele von Ihnen haben lange über ihre Vergangenheit geschwiegen, weil es ja allen schlecht ging, weil die Eltern beschäftigt waren, wegen dem Wiederaufbau und ihren seelischen Trümmern und wo für die kleinen Sorgen vielleicht kein Platz war. Jetzt im Alter, wo die Stärke und Selbstständigkeit schwindet, wo die eigene Hilflosigkeit immer deutlicher wird, bahnen sich die Erinnerungen ihren Weg. Und so sprechen diese Menschen plötzlich mit ihren Arzt in 10 Minuten über Dinge, über die sie mehr als 60 Jahre geschwiegen haben.

Die Reaktivierung der Nachkriegskinder-Stichprobe, ist für mich also nicht nur ein wissenschaftliches Projekt bei dem Forschungsfragen beantwortet werden sollen, sondern es soll auch ein Angebot zum Dialog der Generationen sein, bevor die Kriegskinder und die Nachkriegskinder ihre Geschichten nicht mehr selbst erzählen können.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/378

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