Kameradschaft


Freunde im Krieg

Christian Senf

 „Bin hier noch auf dem Bahnhof. Hermann Hilgemann ist heute auf Wache. Nicht wahr wie man sich manchmal treffen kann.“[1]

Bereits dieses Zitat aus einem Feldpostbrief August Jaspers an seine Frau vom 25. Oktober 1914 verdeutlicht, welche Bedeutung ein Wiedertreffen mit früheren Bekannten für Jasper haben konnte. Denn offenbar unterschied dieser, wie zu zeigen sein wird, unter seinen Kameraden über die gesamte Kriegsdauer hinweg in zwei Kategorien: Solche, die in seinen Feldpostsendungen „anonym“ blieben, und jene, die durch ihn namentlich erwähnt wurden – meist ältere Bekannte aus seiner Heimat. Im Falle einer namentlichen Erwähnung kann davon ausgegangen werden, dass auch Bernhardine Jasper mit diesen Personen zumindest vertraut gewesen ist. Immer wieder kommen in seinen Briefen der Tod oder eine Vermisstenmeldung eines Bekannten zur Sprache.

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Quelle: http://feldpost.hypotheses.org/681

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Hof und Heimat als Rückzugsort vor dem Krieg

Niklas Maximilian Schepp

 

„Wenn Ihr mit die Arbeit Nicht fertig werden könnt, laß ruhig liegen, den je größer der Hunger wird je eher ist alle, b[l]os[s] soviel das Frau und Kinder was zu Essen habt. Sonst laßen sie uns Urlaub geben. Ihr müßt nur sehen wenn ich nicht in Urlaub komme, wie Ihr am leichsten mit der Arbeit fertig werd, und das der Acker nicht ganz verwilder, und alle etwas bestellt wird, den ich habe wenig Spaß davon.“[1]

So schreibt der Landwirt Heinrich Echtermeyer am 20. März 1917 in einem Feldpostbrief von der Front an seinen Bruder. In seinen überlieferten Feldpostsendungen wird fortwährend deutlich, wie sehr er sich um die Bestellung seiner Äcker sowie um die Versorgung seines Viehs sorgt.

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Quelle: https://feldpost.hypotheses.org/590

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Die Verwaltung der Knappheit

Yannick Zohren

Während des Ersten Weltkrieges kam es im Kaiserreich zu erheblichen Versorgungsproblemen, die durch die englische Seeblockade und in Bezug auf Nahrungsmittel extrem kalte Winter wie den von 1916/17, der als Steckrübenwinter bekannt geworden ist, noch verstärkt wurden.[1] Die deutsche Wirtschaft war zunächst weder auf eine dem Krieg angepasste Versorgung noch auf eine langfristige Auseinandersetzung eingestellt.[2] „Die an Nahrung im Überfluss gewohnten Deutschen mussten erst“, so der Historiker Daniel Schmidt, „für die Notwendigkeit der Beschränkung und des Verzichts sensibilisiert werden.“[3] Gleichwohl war es Bernhardine Japser auch im ersten November des Krieges noch möglich, ihren Mann August mit Paketen aus der Heimat zu unterstützen. Dieser lehnte die Untestützung jedoch ab, hinterließ doch ein Foto von ihr bei ihm den Eindruck, sie sähe „mager und vergreut“ aus.[4] Auch wenn August Jasper von Zeit zu Zeit vom Hunger an der Front schreibt, lehnt er es ab, von seiner Frau Fleisch zugeschickt zu bekommen. Er möchte sie nicht nötigen, sich „etwas vom Munde abzusparen“.[5]

 



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Quelle: https://feldpost.hypotheses.org/491

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Rückzug in das Gewöhnliche.


Immer nur die gleichen ‚Floskeln‘?

Fabian Köster/Dennis Krause

In der Forschung reduziert sich das Phänomen der Sprachlosigkeit in Feldpostbriefen zunächst auf drei Ursachen: die Angst vor der Zensur, die intendierte Schonung der Rezipienten und ein Sprachverlust in Folge des Erlebens beispiellosen Grauens.[1] Demnach würde ein Frontsoldat, ein leeres Blatt Papier vor Regen und Schmutz schützend, im Schützengraben kauern und überlegen, bevor er den Stift ansetzt: Was darf, will und kann ich nicht schreiben? Bereits eine solch simple Übertragung auf eine konkrete Situation vermittelt, dass eine solche retrospektive Kategorisierung an ihre Grenzen stößt. Denn natürlich werden Soldaten auch einfach ‚drauf los‘ geschrieben haben, nicht immer darauf bedacht, ihre Gedanken einer rationalen Prüfung zu unterziehen. Wenn Heinrich Echtermeyer immer wiederkehrende Begrüßungs- und Abschiedsformeln in scheinbar mechanischer Manier aufs Papier bringt, dann wirken jene Formulierungen dennoch vordergründig funktionell, ja beinahe floskelhaft.

Heinrich Echtermeyer an seinen Bruder Bernhard Echtermeyer, Feldpostkarte vom 15. Oktober 1916.
Heinrich Echtermeyer an seinen Bruder Bernhard Echtermeyer, Feldpostkarte vom 15. Oktober 1916.

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Quelle: http://feldpost.hypotheses.org/197

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Rückzug in das Gewöhnliche.


Immer nur die gleichen ‚Floskeln‘?

Fabian Köster/Dennis Krause

In der Forschung reduziert sich das Phänomen der Sprachlosigkeit in Feldpostbriefen zunächst auf drei Ursachen: die Angst vor der Zensur, die intendierte Schonung der Rezipienten und ein Sprachverlust in Folge des Erlebens beispiellosen Grauens.[1] Demnach würde ein Frontsoldat, ein leeres Blatt Papier vor Regen und Schmutz schützend, im Schützengraben kauern und überlegen, bevor er den Stift ansetzt: Was darf, will und kann ich nicht schreiben? Bereits eine solch simple Übertragung auf eine konkrete Situation vermittelt, dass eine solche retrospektive Kategorisierung an ihre Grenzen stößt. Denn natürlich werden Soldaten auch einfach ‚drauf los‘ geschrieben haben, nicht immer darauf bedacht, ihre Gedanken einer rationalen Prüfung zu unterziehen. Wenn Heinrich Echtermeyer immer wiederkehrende Begrüßungs- und Abschiedsformeln in scheinbar mechanischer Manier aufs Papier bringt, dann wirken jene Formulierungen dennoch vordergründig funktionell, ja beinahe floskelhaft.

Heinrich Echtermeyer an seinen Bruder Bernhard Echtermeyer, Feldpostkarte vom 15. Oktober 1916.
Heinrich Echtermeyer an seinen Bruder Bernhard Echtermeyer, Feldpostkarte vom 15. Oktober 1916.

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Quelle: https://feldpost.hypotheses.org/197

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Veränderung der Identifikation mit dem Vaterland während des Krieges

Dimitrij Schaf

August Jasper an Bernhardine Jasper, 5. August 1914.
August Jasper an Bernhardine Jasper, 5. August 1914.

„Weine doch nicht, daß ich fort bin, denn es geht ja fürs deutsche Vaterland“,[1] schreibt August Jasper in einem seiner ersten Briefe an seine Frau Bernhardine am 2. August 1914. Damit erweckt er zunächst den Eindruck, ebenfalls vom „Geiste von 1914“[2] durchdrungen und davon überzeugt gewesen zu sein, die Heimat im Krieg verteidigen zu müssen. Seine anfängliche Euphorie schwand allerdings bereits im November desselben Jahres, da der Krieg für ihn unvorhersehbar lange und zäh verläuft.[3] Die rasche Desillusionierung[4] führte bei Jasper zu einem Identifikationsproblem mit dem Vaterland.[5]

Im Gegensatz zu den millionenfachen Freiwilligenmeldungen zählte August Jasper zu denjenigen, die mit Kriegsbeginn zum Kriegsdienst abkommandiert wurden.

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Quelle: http://feldpost.hypotheses.org/82

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Sorge um die Heimat

Florian Steinfals

Die Desillusionierung der größtenteils freiwilligen Soldaten, die auf Ruhm und Abenteuer gehofft hatten, erfolgte während des Ersten Weltkrieges bereits früh. Die Hoffnung auf einen schnellen Sieg hatte sich schon bald als Illusion herauskristallisiert, konnte doch ein solcher von keiner kriegsführenden Seite errungen werden. Besonders an der Westfront entwickelte sich der Bewegungs- rasch zu einem Stellungskrieg. Infolge der erhöhten Feuerkraft und -rate der neuen Waffen wie Artillerie und Maschinengewehre, stieg auch die Verlustrate rapide an.[1] Allein auf französischer Seite starben zwischen dem 20. und 23. August 1914 mehr als 40.000 Soldaten.[2] Die ständige Gefahr durch die Artillerie, die selbst in den vermeintlich sicheren Stellungen nicht gebannt werden konnte, dazu eine schlechte Versorgung, Ratten und fürchterliche Entstellungen durch Schrapnellgeschosse bei den Kameraden, machten das Leben der Soldaten in ihren Schützengräben schier unerträglich.

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Quelle: http://feldpost.hypotheses.org/299

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Zwischen den Zeilen.


Die soziale und psychologische Funktion von Feldpostbriefen

Lucinda Jäger

Wer heute etwas über den Krieg aus Feldpostbriefen herausfiltern möchte, der werde – so der Literaturwissenschaftler Jens Ebert über die Arbeit mit dieser Quelle – in vielen Fällen im ersten Moment enttäuscht, ja bleibe beim Lesen „hilflos zurück“.[1] Denn eben so oft verwundern nicht nur die Themen, sondern auch die Art, wie über diese geschrieben wird. Mehr noch werfen gerade jene Themen Fragen auf, die in der Feldpostkommunikation ausgespart bleiben: der Kriegs- und Frontalltag und die damit verbundenen, meist negativen, traumatischen Erlebnisse der Soldaten. Auch in den Briefen Heinrich Echtermeyers an seinen Bruder Bernhard wird die Kriegswirklichkeit oftmals allein fragmentarisch beschrieben. In den 58 überlieferten Feldpostbriefen und ‑karten berichtet er allenfalls sporadisch und wenn, so wenig detailliert über die von ihm erlebten Kriegsereignisse an der Ostfront. Stattdessen überwiegen scheinbar triviale Themen wie Wettereindrücke und Naturwahrnehmungen, Fragen nach der Heimat oder sich wiederholende Begrüßungs- und Abschiedsformeln.[2]

Feldpostbriefe erfüllten sowohl für Soldaten als auch für deren Verwandte in der Heimat eine soziale und psychologische Funktion: Sie ermöglichten ein Aufrechterhalten der familiären und sozialen Netzwerke, festigten beidseitig soziale Bindungen.[3] Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Peter Knoch beschreibt Feldpostbriefe als „lebenswichtige Verbindungsfäden zwischen getrennten Menschen; sie geben dem Frontsoldaten inneren Halt und Lebenssinn, den Verwandten daheim sind sie immer aufs neue Lebenszeichen.

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Quelle: http://feldpost.hypotheses.org/177

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Tannbach, die neue große (Dorf-)Erzählung?

Vor rund dreißig Jahren – 1984 – wurde der erste Teil von Edgar Reitz‘ Heimat-Trilogie1 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt – und wurde ein Überraschungserfolg. Reitz, der bislang nicht gerade als Macher von Straßenfegern bekannt war, erzählte in langen Fernsehfilmen2 die Geschichte der Familie Simon im kleinen Hunsrück-Dorf Schabbach. Obwohl die Filme keine leichte Unterhaltung sind, haben sie doch die Darstellung von Dorf und Heimat seit den 1980er Jahren maßgeblich geprägt.

Das Jahr 2015 begann (für das ZDF) mit einem großen Epos: „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“ (offizielle Seite des ZDF) erzählt die Geschichte eines Dorfes zwischen Kriegsende und der Schließung der innerdeutschen Grenze 1952. Das Dorf Mödlareuth, auf der Grenze zwischen Bayern und Thüringen gelegen, wurde im Kalten Krieg als „Little Berlin“ bezeichnet, denn die Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone verlief mitten durchs Dorf und schnitt es in zwei Teile. Nun ist es das historische Vorbild für das halbfiktive Tannbach, in dem das ZDF die deutsch-deutsche Nachkriegs- und Teilungsgeschichte im Mikrokosmos wiedererstehen lässt. Der Dreiteiler wurde im Vorfeld in der Süddeutschen hoch gelobt, er sei „im besten Sinne Geschichtsunterricht“, urteilte Renate Meinhof am 4. Januar.3 Für mich ein Grund, mich vor die Glotze zu setzen. Historienschinken mit Zeitgeschichtsbezug schaffen das in der Regel nicht, aber wenn es doch ums Dorf geht…

Nun, über die Filme als solche mag ich hier gar nicht schreiben, schon gar nicht etwa über historische Authentizität oder gar über die Komposition der Filme selbst. Was ich hier thematisieren möchte, ist die Darstellung des Dorfes bzw. von Dörflichkeit/Ländlichkeit in diesen Spielfilmen.

Ich gehe, wie oben angedeutet, davon aus, dass die „Heimat“-Trilogie von Reitz dieses Thema ausführlich ausbuchstabiert hat, den Provinzialismus des Hunsrück-Dorfes Schabbach explizit in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt hat. Nun haben diverse Kritiker Reitz vorgeworfen, er perpetuiere alte Darstellungsformen des Dörflichen aus dem 19. Jahrhundert.4 Andere verweisen auf die starke Abgeschlossenheit des von Reitz konstruierten Heimatraums, der in dem Moment, da er beschrieben wird, schon verloren zu sein scheint.5 So eindeutig nostalgisch überhöht wird Schabbach in meinen Augen (in meiner Seh-Erfahrung) aber gar nicht dargestellt; im Gegenteil: nicht nur im letzten Film, der „anderen Heimat“, sondern auch schon in der ersten Heimat-Reihe aus den 1980ern wird Heimat gleichzeitig als der Fixpunkt (und damit gewiss auch nostalgisch) und als beengend und einengend dargestellt. Heimat und Fernweh stehen in einem explizit thematisierten Spannungsverhältnis. Darüber hinaus geht es immer wieder darum, wie einerseits die „große Welt“ ins Dorf hineinspielt, wie sie aber in Schabbach, in der Familie Simon, anverwandelt wird, wie eben gerade nicht das Dorf die Welt „da draußen“ widerspiegelt, sondern ein ganz spezieller Ausschnitt ist.

Genug des Vorspanns: Wie wird Tannbach denn nun dargestellt? Wie wird Dörflichkeit/Ländlichkeit im Dreiteiler thematisiert? Man könnte – wohl etwas überzogen, ich gebe es zu – behaupten: überhaupt nicht. Tannbach ist kein Dorf, Tannbach ist ein Spiegel der deutschen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier kann man, in einem begrenzten Setting und mit einem begrenzten Kreis an Charakteren die Spannungen einfangen, die mit dem Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten verknüpft werden. Aber spezifische Ländlichkeit?

Klar, vor allem im zweiten Teil des Dreiteilers geht es um die Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone, der Gutsbesitz und die großen Höfe werden aufgeteilt, die bisherigen Großgrundbesitzer werden enteignet und umgesiedelt. Der Protagonist, der Berliner Flüchtling Friedrich Erler, wird zum begeisterten sozialistischen Jungbauern. Und in vielen Szenen sieht man Feldarbeit. Und natürlich die Kulissen – die Handlung spielt auf Dorfstraßen oder Bauernhöfen. Aber das bleibt, so meine Wahrnehmung, Hintergrund, eben Kulisse. Manche Charaktere, zum Beispiel der frühere Ortsbauernführer, der Schober-Bauer, wird schon ziemlich klischeehaft als bauernschlauer Wendehals dargestellt.

Wie aber sollte man denn überhaupt Dörflichkeit thematisieren? Was verlange ich denn überhaupt? Nun, zum ersten: Ich verlange eigentlich nichts weiter. Tannbach ist eine Fernsehproduktion, und die funktioniert nach anderen Kriterien als (wissenschaftliche) Reflektionen über Ländlichkeit. Auch verlange ich keineswegs, dass blöde Stereotypen reproduziert werden, die Hinterwäldler-Geschichte weitergesponnen wird oder gar gezeigt wird, wie verfilzt die Politik in kleinen Dörfern ist.

Mein Eindruck war aber: Im Grunde macht es gar keinen großen Unterschied, ob Tannbach nun ein Dorf oder eine Kleinstadt ist; vielleicht hätte die Geschichte ganz ähnlich auch in Berlin erzählt werden können – dann vielleicht mit einem Fabrikbesitzer statt mit einem Gutsherrn.

Denn es gibt ja Spezifika kleiner Orte, bäuerlicher Dörfer, gegenüber Städten. Aber diese wurden eben nicht in den Mittelpunkt gerückt, vielleicht, weil sie eben nicht einfach nur die „große“ Geschichte widerspiegeln.

  • Wo wurde mal thematisiert, dass möglicherweise politische Gewalt (wie im dritten Film dargestellt) anders funktioniert, wenn sich Täter und Opfer kennen, und das möglicherweise aus ganz vielen Kontexten – weil sie ihr Leben an einem Ort, in einer Schule, einer Kneipe, einer Kirche verbracht haben?
  • Wo wurde mal die Möglichkeit angetippt, dass eine Mikrogesellschaft, die in erster Linie aus wirtschaftlich Selbständigen (und gleichzeitig Subsistenzwirtschaft Treibenden) besteht, möglicherweise andere Interaktionsformen ausbildet als eine städtische Gesellschaft? Im Falle einer bäuerlichen Gesellschaft, so mein Eindruck nach einiger Zeit an meinem Projekt, spielt halt doch die wirtschaftliche Ebene eine ungleich wichtigere Rolle als in anderen sozialen Kontexten, gibt es gar nicht so viele gesellschaftliche Sphären, die nicht von wirtschaftlichen Praktiken mit durchzogen sind.
  • Außerdem: Wie geht eine kleine Gesellschaft, ein kleines Dorf, mit Fremden um? Denn die Flüchtlinge, die nach Tannbach kommen, allen voran Friedrich Erler, seine Mutter Liesbeth und sein (Nenn-)Bruder Lother, sind ja nicht nur einfach Fremde. Sie sind auch komplett anders sozialisiert als die Einheimischen. Friedrich und Lothar aber sind plötzlich mit allen gut Freund; ihre sehr spezifische Prägung im regimekritischen (Friedrich) bzw. jüdischen (Lothar) Elternhaus in Berlin scheint für ihre Position im Dorf keine Rolle zu spielen6 ; sie fügen sich in die lokale Gesellschaft ein.

Das sind nur ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind, die die Möglichkeit eröffnet hätten, Dörflichkeit einmal jenseits von Stereotypen zu erzählen. Dann hätte vielleicht auch die Erzählung von der großen Geschichte im kleinen Ort Tannbach eine Tiefe erreichen können, die dann wirklich „im besten Sinne Geschichtsunterricht“ gewesen wäre – die nämlich einerseits auf den Einfluss globaler Entwicklungen, andererseits auf die Besonderheit lokaler Bedingungen, Beziehungen und Praktiken aufmerksam macht. Diese Chance aber wurde vertan. Dafür gab’s dicke Quoten. Und eine Fortsetzung ist wohl ins Auge gefasst. Ich bin gespannt.

Auf eine neue große „Dorf“-Erzählung aber werden wir wohl noch länger warten müssen. Tannbach ist ganz sicher nicht das neue Schabbach.

 

  1. Heimat – Eine deutsche Chronik, Zyklus von elf Spielfilmen, BRD 1984.
  2. zwei weitere Fernsehfilm-Zyklen und ein Kinofilm folgten
  3. Meinhof, Renate: Die Fremden, Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 2015, S. 35; gleichlautender Artikel in SZonline vom 4. Januar 2015 unter dem Titel „Auf Tuchfühlung mit der großen Sprachlosigkeit“ unter: http://www.sueddeutsche.de/medien/tannbach-schicksal-eines-dorfes-im-zdf-auf-tuchfuehlung-mit-der-grossen-sprachlosigkeit-1.2287828; letzter Abruf 09.02.2015.
  4. Wild, Bettina: "Kollektive Identitätssuche im Mikrokosmos Dorf. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und die Heimat von Edgar Reitz", in: Reiling, Jesko (Hg.), Berthold Auerbach (1812–1882): Werk und Wirkung, Heidelberg 2012, S. 263–283.
  5. Diese Kritik referiert Moltke, Johannes von: "Heimat-Orte. Zur Konstruktion von Raum und Moderne in Heimat (1984)", in: Koebner, Thomas (Hg.), Edgar Reitz, München 2012, S. 43–63, bes. S. 48 f.
  6. Der Hintergrund der beiden dient jedoch dazu, sie als Verfolgte des Nazi-Regimes zu markieren.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/306

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Trachten heute – mehr als ein modischer Spleen?

 

Zunehmend bin ich verwirrt. Das hängt vielleicht mit meinem Alter zusammen, in erster Linie aber mit Erscheinungen, die mir manchmal geradezu die Orientierung nehmen: junge Menschen in Lederhosen und Dirndlkleidern, Burschen in karierten Hemden, Mädchen mit ausladenden Spitzendekolletés …  Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Renaissance der Tracht stattgefunden. Fragt man in einer Vorlesung, wer denn eine solche nicht gar sein eigen nennt, dann schnallen bei mehr als der Hälfte der Studierenden die Hände hoch – und das ohne rot zu werden! Plötzlich sehe ich alt aus, obwohl es doch noch gar nicht so lange her ist, dass Trachten nicht nur als konservativ und rückwärtsgewandt betrachtet wurden, sondern auch als belastet, als Ausdruck einer von den Nationalsozialisten gepflegten „Blut und Boden“-Ideologie.

 

Authentizität von Trachten

Ich weiß schon: Von den Anhängern des Trachtenkults wurde das schon damals, in den 1970/80er Jahren, als undifferenziert und als Vorurteil kritisiert. Trachten seien eben einfach schön, machten eine gute Figur, seien „authentisch“ und würden, was doch wichtig sei, die Verbundenheit zur Heimat, zur eigenen Herkunft ausdrücken. Durch das Tragen von Trachten werde die eigene Identität gestärkt, womit diese zur Orientierung in einer sich rasant wandelnden Welt beitrügen. Mit „Blut und Boden“ habe das doch nichts zu tun. Nun sind Trachten aber keineswegs „authentisch“, auch wenn immer wieder zwischen „echten“ und „unechten“, weil stärker den unterschiedlichen Modetrends angepassten Trachten, unterschieden wird. Sie existieren keineswegs unverändert seit Jahrhunderten. Tatsächlich ist die Tracht vor allem eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, als sich die Sommerfrischler aus der meist recht einfachen Kleidung der Einheimischen diverse Versatzstücke wählten und mit modernen Accessoires verbanden. Interessanterweise verbarg sich dahinter sogar etwas politisch Fortschrittliches, nämlich eine Kultur der „Ursprünglichkeit“, die ein harmonisch-utopisches Gesellschaftsmodell spiegelte, das sich durch das Fehlen von Standes- und Klassenunterschieden auszeichnete. In der konstruierten „Ursprünglichkeit“ der Sommerfrische, etwa durch das Tragen von Trachten, war man zuallererst Mensch und erst in zweiter Linie adelig, bürgerlich, bäuerlich oder proletarisch.

Politisch korrekt?

Die Einheimischen übernahmen im Übrigen diese Trachten, vor allem die finanziell erschwinglichen Bestandteile, zumal sie sowohl die Annäherung an die letztlich hegemoniale bürgerliche Lebensform als auch die Rückbindung an ihre Lebenswelt ermöglichten. Folglich waren die Trachten sogar Ausdruck einer sich verändernden Welt. Dass die NationalsozialistInnen schließlich die vermeintliche Harmonie für sich in Anspruch nahmen und die Trachten als Teil der „Blut und Boden“-Ideologie instrumentalisierten, dafür können die Trachten freilich nichts. Dennoch bleibt die Tracht dadurch belastet, nicht zuletzt weil ihre Träger und Trägerinnen durch ihr unschuldiges Auftreten historische Naivität an den Tag legen und meist kein Bewusstsein darüber entwickeln, welche Ideologien mit Kleidung transportiert werden können. Daher scheint mir das Tragen von Trachten nur noch in Form des künstlerischen Umgangs mit Kleidung möglich. Zumeist lässt sich aber – zumindest in der Rezeption der KonsumentInnen – keine klare Trennung zwischen dem Wunsch nach Bewegungslosigkeit und kritischem Spiel erkennen; die Vermischung unreflektierter Identifikation und kritischer Distanz scheint bislang unvermeidbar.

Die Tracht als „Text“

Vielleicht bin ich aber wirklich zu streng? Vielleicht sind Trachten tatsächlich einfach nur schön und dazu gemacht, die Menschen attraktiv wirken zu lassen, um etwa – wie der Literaturkritiker Hellmuth Karasek in einer Diskussionsrunde bei Günther Jauch meinte – die Brüste der Damen einfach besser zur Geltung kommen zu lassen? Abgesehen einmal von der doch recht fragwürdigen Zuschreibung, die Karasek vornimmt, ist aber Geschmack immer auch vom gesellschaftlichen Kontext abhängig. Und so muss Kleidung wohl doch als „Text“ verstanden werden, der im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen zu lesen ist. Und die Renaissance der Tracht korrespondiert ohne Zweifel mit einer Entwicklung, die das Konservative plötzlich als fortschrittlich preist und im Zuge der Globalisierungsprozesse zunehmend auf kulturelle Bewegungslosigkeit setzt. Sie überschneidet sich auch mit dem Erfolg von Parteien, die weit rechts außen stehen. Die große Welt mag sich wandeln, die „Heimat“ scheint jedoch wie der Fels in der Brandung zu stehen: von wilden Wassern umspült und doch so unbeweglich.

„Dynamische Heimat“ – Versöhnung mit den Trachten

Ob eine solche Orientierung allerdings die notwendige Verarbeitung von Wandlungsprozessen und die Bewältigung der eigenen Existenz ermöglichen kann, bleibt fraglich. Der Begriff der „Heimat“ sollte daher dynamisch verstanden und der Wandel als notwendiger Bestandteil der eigenen Identität anerkannt werden. Damit wird vielleicht auch die Tracht von ihrem bitteren Beigeschmack befreit. Das Schwarzweißbild von der guten alten Heimat und der bösen Globalisierung, die unsere angeblich „authentische“ Volkskultur gefährde, könnte damit einem differenzierten Blick weichen. Dabei kann es helfen, die Volkskultur auch als Thema im Geschichtsunterricht zu behandeln, allerdings weniger mit dem Argument der Heimatverbundenheit als vielmehr im Sinne einer reflexiven Betrachtung, die die Funktionen etwa von Trachten betont, ohne diese – immerhin gehören Trachten ja zunehmend zur Lebenswelt der SchülerInnen – als etwas Unmögliches zu diffamieren. Dann kann auch ich mich mit der Lederhose, dem Dirndl und dem karierten Hemd wenn schon nicht anfreunden, so doch arrangieren. Eine Lederhose kaufe ich mir aber dennoch nicht – die Verweigerung sei mir im Sinne einer pluralistischen Gesellschaft auch weiterhin gestattet.

 

 

Literatur

Externer Link

 

Abbildungsnachweis
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Empfohlene Zitierweise
Hellmuth, Thomas: Trachten heute – mehr als ein modischer Spleen? In: Public History Weekly 2 (2014) 2, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1192.

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The post Trachten heute – mehr als ein modischer Spleen? appeared first on Public History Weekly.

Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-2/trachten-heute-mehr-als-ein-modischer-spleen/

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