Vor 25 Jahren entstand die Idee, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten. Weil dieses Denkmal ausschließlich den ermordeten Juden gewidmet wurde, erlebt die deutsche hauptstädtische Geschichtskultur seit einiger Zeit einen regelrechten Memorialboom. Als vorerst letzter Gedenkort wurde heute vor einem Jahr das von Dani Karavan gestaltete Denkmal für die während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Was diese Denkmäler über das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft aussagen und welche Bedeutung sie für historische Lernprozesse haben, ist noch weitgehend unklar.
„Wir können wieder aufrecht gehen…“
Glaubt man Lea Rosh und Eberhard Jäckel, dann fassten sie den Entschluss, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten, 1988 bei einem Besuch der „Allee der Gerechten“ in Yad Vashem. Schon dieser Entstehungskontext wirft Fragen auf, aber kritische Fragen und langwierige Debatten wollten Rosh und Jäckel am liebsten vermeiden. Trotzdem wurde über das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas bis zu seiner Einweihung im Mai 2005 mehr als fünfzehn Jahre lang heftig gestritten. Die Diskussion scheint inzwischen fast vergessen, doch manche Argumente sind auch heute noch so irritierend, dass sie historische Reflexionsprozesse vielleicht besser anstoßen könnten als das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld. Nicht selten war im Laufe der Debatte von Trost, Erleichterung, ja Erlösung die Rede. Doch Erlösung für wen eigentlich? „In anderen Ländern“, so Eberhard Jäckel anlässlich des fünfjährigen Denkmaljubiläums am 5. Mai 2010, „beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.“ Träfe das zu, ginge es nicht (nur) um die Opfer der NS-Verbrechen und um die historische Auseinandersetzung mit den Tätern. Es ginge um uns: Holocaust-Denkmäler als Medien nationaler Identitätsstiftung, auch wenn das in Zeiten multikultureller Gesellschaften längst anachronistisch anmutet.
Denkmalboom und geschichtskulturelle Imagepflege
Sicher – Jäckels Position war nur eine von vielen; insgesamt verlief die Diskussion deutlich reflektierter. Trotzdem wird sich der bis heute andauernde Denkmalboom wohl nur erklären lassen, wenn man in Rechnung stellt, dass Denkmäler zum Gedenken an die NS-Verbrechen auch zu Instrumenten geschichtskultureller Imagepflege geworden sind. Manchen konservativen ZeitgeistkritikerInnen im Gefolge Ernst Noltes, die des NS-Gedenkens längst überdrüssig waren, hat das zweifelsohne den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls hat sich die Berliner Gedenklandschaft, in der mittlerweile auch der Weg für die Repräsentation anderer Schlüsselthemen deutscher Geschichte – Stichwort Flucht und Vertreibung, Einheit und Freiheit – frei ist, inzwischen bemerkenswert differenziert. Im Mai 2008 wurde das Denkmal für die während der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen eingeweiht, heute vor einem Jahr folgte das Denkmal für Sinti und Roma, und im Herbst kommenden Jahres soll auch der Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde fertiggestellt sein. Von der vielfach befürchteten und beklagten Hierarchisierung der Opfer spricht öffentlich kaum noch jemand.
Bausteine deutscher Erinnerungskultur?
Insofern ist es auf den ersten Blick auch durchaus plausibel, dass von politischer Seite bei der Einweihung des Denkmals für Sinti und Roma wie so oft von einem „wichtigen Baustein der deutschen Erinnerungskultur“ die Rede war. Wie in einem großen Mosaik fügt sich offenbar alles harmonisch zusammen, Verdrängen und Vergessen scheinen zugleich gebannt. Wer genauer hinsieht, merkt, dass es anders ist. In den Leserforen großer deutscher Tageszeitungen beispielsweise finden Denkmäler wie das für Sinti und Roma zwar einerseits großen Zuspruch – man trifft aber auch auf heftige Polemik. Dann werden immer noch Opferzahlen gegeneinander aufgerechnet, die vermeintliche „Holocaustkeule“ wird zum Gegenstand ätzender Kritik, und der Ruf nach einem Schlussstrich lässt sich kaum überhören. LehrerInnen sollten solche Statements, obwohl oder gerade weil sie dem Gebot der political correctness widersprechen, von Zeit zu Zeit in ihren Unterricht integrieren. Sie tragen nämlich dazu bei, mit dem Prinzip der Multiperspektivität wirklich ernst zu machen, sie sind Teil des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft, und sie geben zugleich Aufschluss über informelle geschichtskulturelle Rezeptionsprozesse.
Historische Trauer?
Für die Geschichtsdidaktik wäre es interessant, solche Rezeptionsprozesse genauer zu untersuchen. Denn bislang wissen wir immer noch relativ wenig darüber, welche individuellen Reaktionen Denkmäler und Gedenkstätten (die ganze Bandbreite außerschulischer Lernorte überhaupt) auslösen und welche Bedeutung sie für historisches Lernen haben. Bezüglich des Berliner Holocaust-Denkmals gibt es immerhin erste aufschlussreiche Befunde. Einer qualitativen Studie zufolge fühlen sich SchülerInnen beim Besuch des Denkmals durchgehend mit der problematischen „Erwartung konfrontiert, Trauer und Schuld zu empfinden“. Darüber hinaus kommt es bei einigen von ihnen zu einer „Trauer ohne Gedenken“. Den angesichts des Holocaust-Denkmals empfundenen oder erzeugten Gefühlen fehlt dann aufgrund von Wissenslücken der notwendige historische Tatsachenbezug. Jörn Rüsens Konzept historischer Trauer hat unter solchen Umständen schlechte Chancen.
Literatur
- Klein, Marion: Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012.
- Pampel, Bert (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011.
- Rüsen, Jörn: Historisch trauern – Idee einer Zumutung. In: Ders.: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, S. 301-324.
Externer Link
Abbildungsnachweis
Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin-Tiergarten; Bild von Peter Kuley, 2013, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0.
Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Mehr Denkmäler – weniger Gedenken. In: Public History Weekly 1 (2013) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-416.
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