Zeitverkauf

 

Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.

 

Konkurrenzen

Eines der wesentlichen Versprechen der Geschichtsdidaktik an die Geschichtslernenden ist die Orientierung in der Gegenwart durch Zeiterfahrung. Das Angebot ist freilich nicht konkurrenzlos. So hatte ich kürzlich ein ganz eigenes Zeiterlebnis in jenem Organ, das hierzulande zumindest einer geschmacklich gebildeten Intelligenz beim Denken die Richtung weist, dem Zeit-Magazin. Dort bewarb die Firma Rolex ihre exquisiten Armbanduhren, die an den Gelenken von „testimonials“ wie Martin Luther King, Sophia Loren oder Roger Federer prangten. Die rhetorische Frage „Warum diese Uhr?“ wurde so beantwortet: „Sie war Zeitzeugin. Sie war dabei, als Worte gesprochen wurden, die ganze Nationen bewegten. Als Menschen über sich selbst hinauswuchsen.“ Dann in Fettdruck: „Sie zählt nicht nur die Zeit. Sie erzählt Zeitgeschichte.“ Ich dachte mir: Welch freisinniger Umgang mit Begriffen und Werten meiner Disziplin! Als Geschichtsdidaktiker fühlte ich mich herausgefordert.

Manchester, zum Beispiel

Das Heft las ich auf dem Rückflug von einem Besuch des englischen Manchester, was nicht ohne Wirkung auf meine Gedankengänge blieb. Schließlich ist Großbritannien ein Land von großem historischem Bewusstsein (während zugleich der Geschichtsunterricht mindestens so im Argen liegt wie in Deutschland, weshalb man ihn auf der Insel schon in der Mittelstufe abwählen darf). Während meines Aufenthalts war ich in einer Image-Broschüre der Stadt zwischen tausend Empfehlungen für stilvolles Essen, beglückendes Shopping oder erfolgreiches Investment auf einen ehrgeizigen Abriss zum, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, local heritage gestoßen. Tatsächlich häufen sich ja in Manchester menschheitsgeschichtliche Highlights in erstaunlicher Zahl: Hier lag der Abgangsbahnhof der ersten regelmäßig verkehrenden Personen-Eisenbahn der Welt, der namengebende Ursprung des entfesselten Kapitalismus, der Ort des Zusammentreffens von Karl Marx mit Friedrich Engels (dadurch wohl die Wiege des Marxismus), die Heimat des female suffrage in Person der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, die Wirkungsstätte des Computer-Pioniers Alan Turing (der im Zweiten Weltkrieg den deutschen Enigma-Code für den britischen Geheimdienst knackte), später eine Keimzelle für das in guter multiethnischer Nachbarschaft gelebte diversity-Konzept sowie ein erster Sonnenplatz der ihr Versteck verlassenden gay scene. Zu den Schattenseiten des Erbes rechneten die Autoren die miserablen Zustände in den Baumwollspinnereien (die Engels zu seiner „Lage der arbeitenden Klasse“ veranlassten), jene von der Kavallerie niedergemähte Protestkundgebung von 1819 („Peterloo-Massaker“, mit elf Todesopfern), die schweren Rassenunruhen der 1970er Jahre, das größte Bombenattentat in Friedenszeiten auf englischem Boden (mit welchem die IRA 1996 die halbe Innenstadt in Schutt und Asche legte). Die Konklusion der historischen Erzählung lautete demnach grob: In dieser ehrwürdigen Stadt wurde zwar der Manchester-Liberalismus erfunden und mit ihm die infame Idee des „serious wealth“, aber eben auch eine kritische Gegenerzählung durch die Arbeiter – und überhaupt alle möglichen Befreiungsbewegungen.

People love places with a scandalous past

Erleben lässt sich dieses Narrativ der Aussöhnung, wenn man auf einem Spaziergang entlang der schmalen Kanäle Manchesters sieht, wie sich in den zahllosen aufgelassenen Fabriken und Lagerhäusern – für deren Abriss nach dem Ende der industriellen Hochzeit schlicht das Geld fehlte – aktuell eine erstarkte Bürgerschaft zwischen gusseisernen Hallenkonstruktionen, Resten ausgedienter Maschinenparks, unverputzten Backsteinmauern behaglich einrichtet. Dieses Prinzip der Konservierung nach dem Typ „Vergangenheit schlägt Funktion“ begegnet uns genauso im Berliner Scheunenviertel, wo junge Menschen Cocktails unter der sehr alten Ankündigung einer Armenspeisung trinken, oder in Paris, wo im vormals jüdisch geprägten Marais das liebevoll gepflegte Ladenschild einer koscheren Bäckerei nunmehr die Eingangstür einer Designer-Boutique ziert. Die Entscheidung, in solch erinnerungssattem Bezirk zu wohnen, auszugehen, einzukaufen, heißt dann zwar immer, sich anhand des historischen Zitats, des spielerischen Symbols, des ironischen Simulacrums in die besondere Geschichte des Ortes einzuschreiben. Oder wie mir ein flinker Makler einmal frohgemut verkündete: People love places with a scandalous past. Aber derart postmodernes Geschichtsbewusstsein ruft auch aus: Die Gegenwart ist gerade keine bloße Weiterentwicklung des Gewesenen, sondern dessen souveräne Inspiration und zuweilen sein Gegenentwurf.

Der angebissene Apfel

Ja, wir lieben diese Sorte marktgängig konfektionierter Geschichte heute sehr und daher wird sie uns, gut kapitalistisch, käuflich. Das mag den behaupteten Zeitzeugenstatus sogar von etwas derart Seelenlosem und, nebenbei, rührend Altmodischem wie einer Armbanduhr begründen. Indessen weiß die Geschichtsdidaktik, dass die Zählung der Zeit so wenig als rational kalkulierendes Geschäft gelingt wie ihre erzählende Deutung und Interpretation. Die Wahrnehmung des Vergehens ist vielmehr selbst ein Zeitphänomen. Und deswegen kennt die Orientierung der Lebenswelt durch Geschichte – das heißt wörtlich: die Weisung des Weges nach Osten, Richtung Sonnenaufgang, nach Jerusalem, ins Paradies – nur Schlangenlinien. Alan Turing jedenfalls wählte 1954 noch den Freitod, nachdem ihn sein Staat durch ein medizinisches Programm zur Bekämpfung der Homosexualität psychisch zerstört hatte. Dazu verzehrte er einen vergifteten Apfel (die Umrisse der angebissenen Frucht dienten später womöglich als Vorbild des Apple-Logos). Im Jahr 2012 jedoch, zu seinem hundertsten Geburtstag, machte der olympische Fackellauf mit Zielort London Station an dem mittlerweile ihm zu Ehren in Manchester errichteten „Memorial“. Ob Turing jemals eine Rolex besaß, ist unwahrscheinlich; aber der von viel jubelndem Volk begleitete Stabtausch der Erinnerung ist auch so gut bezeugt. Public History eben.

 

Literatur

  • Michele Barricelli: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels („Gentrification“). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1/2013.
  • Carla van Boxtel/Stephan Klein/Ellen Snoep (Hrsg.): Heritage Education. Challenges in Dealing With the Past. Amsterdam 2011.
  • Mike Seidensticker: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Köln u.a. 1995.

Externe Links

Abbildungsnachweis

© Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Apartments for Sale.

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Scheinpluralismus. Oder: Wie ich mir einen Schulbuchbeitrag bastle

 

Das Herzstück deutscher Bildungspolitik ist der Pluralismus. Für das Fach Geschichte gibt es deshalb nicht ein Schulbuch, sondern 41.1 Ideale Voraussetzung für geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität – sollte man meinen. Doch weit gefehlt: bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Vielfalt als Scheinpluralismus.

 

Kuba-Krise oder Cuba Libre?

Es werden in den Büchern nicht nur die immer gleichen Bild- und Textquellen benutzt, sondern die Autorentexte folgen zumeist ein und demselben Narrativ, das im Grunde als „Meistererzählung“ charakterisiert werden kann. Die 60er Jahre feiern fröhliche Urständ. Ich will das an einem Beispiel zur Kuba-Krise erläutern. Bei einer Durchsicht der entsprechenden Schulbücher für beide Sekundarstufen des Landes Nordrhein-Westfalen sieht man, dass das Thema „Kuba-Krise“ üblicherweise in das Kapitel zum „Kalten Krieg“ eingegliedert wird und auf einer Schulbuchdoppelseite einen wenig komplexen Autorentext bietet, der die Kuba-Krise als Höhe- und Wendepunkt des Kalten Krieges verständlich macht. Die Auswahl der schriftlichen Quellen lässt sich fast ausschließlich auf die Fernsehansprache Kennedys und den Schriftwechsel zwischen Chruschtschow und Kennedy eingrenzen. Weiterhin befinden sich in fast allen Schulbüchern eine Karikatur mit Chruschtschow und Kennedy und eine Karte, welche die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba zeigt. In neueren Werken hat der Aspekt der Geschichtskultur über den Spielfilm „Thirteen Days“ (USA, 2000) Eingang in die Schulbuchkapitel gefunden.

Kennedys Heldenverehrung

Was machen die SchulbuchautorInnen aus diesen Zutaten? Sie verzichten auf die Vorgeschichte der sowjetischen Raketenstationierung und erzählen, wie Kennedy die Welt rettete. Kein Wort über den kubanischen Diktator Batista und seine Unterstützung durch die USA. Kein Wort über die kubanische Revolution und den folgenden Wirtschaftsboykott der Insel durch die USA. Keine Erwähnung der von der CIA gedeckten Invasion der Insel durch Exilkubaner in der Schweinebucht im Jahr 1961. Und – schlimmer noch – kein Wort über die bereits seit 1959 beginnende Stationierung von amerikanischen Atomraketen in Italien und in der Türkei, die Moskau locker erreichen konnten. Die Sowjetunion wird so zum unprovozierten Eindringling in den Vorgarten der USA, den Präsident Kennedy in einem wahren Heldenstück verteidigt und gleich die Demokratie und die westliche Welt mitrettet. Man muss die Politik von Fidel Castro – der übrigens in den Texten auch meistens nicht vorkommt – und des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow nicht bejubeln. Aber man kann versuchen, deren Intentionen und Handlungsoptionen zu verstehen. Stattdessen liefern die Bücher das Kalte-Krieg-Narrativ von den guten Amerikanern und den bösen Sowjets.

Quelle – passend gemacht

Die Quellen werden dazu passend gemacht: Kennedy siegt nach Punkten. Die Karikatur von Chruschtschow und Kennedy wird ausschließlich nach einem SPIEGEL-Artikel vom 7. November 1962 mit der Bildunterschrift „Einverstanden, Herr Präsident, wir wollen verhandeln …“, zitiert.2 Die Karikatur ist aber bereits am 29. Oktober 1962 in der englischen Tageszeitung Daily Mail erschienen, und zwar ohne Bildunterschrift.3 Chruschtschow hatte am 28. Oktober die amerikanischen Bedingungen zum Raketenabzug aus Kuba akzeptiert. Darauf nimmt die Karikatur Bezug, indem der Autor vielleicht sagen will, dass trotz des scheinbaren Endes der Kuba-Krise die nukleare Bedrohung andauern werde und die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit keineswegs ausgeschlossen sei.4 Die Bildunterschrift des SPIEGEL wird aber in den meisten Schulbüchern als „Originaluntertitel“ bezeichnet – weil das so gut zum Text über die Dramatik der Kuba-Krise passt! Das Ringen der beiden Kontrahenten auf der Karikatur wird in die „Thirteen Days“ (14.-28.10.1962) zurückverlegt. Hier findet nicht historische Rekonstruktion statt, sondern erinnerungskulturelle Remediation.

Wir wollen hören, was wir wissen

Bleibt die Frage: Warum ist das so? Oft wird behauptet, Schulbücher werden aus Schulbüchern abgeschrieben, die eine Geschichte wird perpetuiert. Das mag sein. Mir scheint aber eher, dass die Autorentexte ein geschichtspolitisch und erinnerungskulturell erwünschtes Narrativ produzieren, das von Politik, Gesellschaft und Verlagen getragen wird. Wahrscheinlich ist es genau diese Konstellation, der es bei Geschichte auf Genauigkeit und wissenschaftliche Redlichkeit nicht wirklich ankommt. Wir wissen ja schon aus dem Museum, dass sich die BesucherInnen gerne das bestätigen lassen, was sie ohnehin schon wissen. Das dürfte bei Schulbüchern nicht ganz anders sein.

 

 

Literatur
  • Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010.
  • Frankel, Max: High Noon in the Cold War. Kennedy, Khrushchev, and the Cuban Missile Crisis.
    New York 2004.
  • Kaufmann, Günter: Neue Bücher - alte Fehler. Zur Bildpräsentation in Schulgeschichtsbüchern.
    In: GWU 51 (2000), S. 68-87.
  • Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012.

Abbildungsnachweis

(c) L. G. Illingworth, Daily Mail v. 29. Oktober 1962, keine Bildunterschrift.

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