Papierkrieg gegen Napoleon


Diplomatische Note, 1815 März 29, NLA - Hannover - Dep. 110 A Nr. 53
Diplomatische Note, 1815 März 29, NLA – Hannover – Dep. 110 A Nr. 53. Vorschau, zur Vollansicht auf den Seiten des Archivs bitte klicken.

Das Niedersächsische Landesarchiv hat auf seiner Website ein schönes Aktenstück online gestellt (via Augias.Net). Es führt uns in die dramatische Pause des Wiener Kongresses, als im März 1815 Napoleon aus dem Exil zurückkehrte. Die Kollegen in Hannover haben den historischen Zusammenhang dargestellt. Hier geht es, natürlich, um aktenkundliche Fragen.

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Ausschnitt 1: Halbbrüchige Beschriftung
Ausschnitt 1: Halbbrüchige Beschriftung

Der erste Eindruck: halbbrüchig beschrieben. Abgesehen von dem Anlagenstrich oben auf S. 1 und der Innenadresse unten auf S. 2 bleibt die linke Spalte leer. Halbbrüchigkeit ist charakteristisch für Entwürfe jeglicher Art und für Berichte an vorgesetzte Instanzen. Hier handelt es sich aber um eine relativ sauber geschriebene Ausfertigung, die – nun geht es an den Inhalt – zwischen Unterhändlern verschiedener Staaten auf dem Wiener Kongress gewechselt wurde. Die Streichung auf S. 2 ist allerdings ungewöhnlich und deutet auf große Eile hin. Gerade in der Diplomatie werden Schriftstücke gewöhnlich besonders sorgfältig ausgefertigt.

Ein Schriftstück der Mitteilung unter Gleichgeordneten also. Die großzügige Aufteilung des Blatts ist Teil des besonderen Zeremoniells, das diplomatische Schriftstücke bis heute auszeichnet. Der genaue Schriftstücktyp ergibt sich aus den Formularbestandteilen, genauer: aus der Eingangsformel “Les Soussignés ont reçu l’ordre de communiquer” …

Ausschnitt 2: Eingangsformel
Ausschnitt 2: Eingangsformel

… und der Schlussformel “Les Soussignés ont l’honneur de présenter à Son Excellence l’assurance de sa haute considération”.

Ausschnitt 2: Schlussformel
Ausschnitt 2: Schlussformel

Damit handelt es sich um eine klassische diplomatische “Note”, einen Schriftstücktyp mit sehr reduziertem Formular, der im unpersönlichen Stil abgefasst wurde. In der besonderen Abwandlung der nicht unterschriebenen “Verbalnoten”, in denen Behörden statt Personen als Korrespondenten figurieren, gibt es die Noten bis heute. Als persönliche Korrespondenz wurden sie allerdings im frühen 20. Jahrhundert von Schreiben im Ich-Stil nach dem Formular des französischen Privatbriefs verdrängt (dazu demnächst Berwinkel 2015).

Noch genauer handelt es sich um eine Kollektivnote, denn es zeichneten mehrere Verfasser dafür verantwortlich. Und ganz genau muss es eine von mehreren Kollektivnoten mit größtenteils gleichlautendem Text gewesen sein, denn neben Hannover wurden auch die anderen deutschen und europäischen Staaten zum Beitritt zur Vier-Mächte-Konvention vom 25. März 1815 aufgefordert, dem Bündnis gegen Napoleon, um das es hier ging. In der Diplomatie spricht man passend von “Identischen Noten”.

Für ein Regest könnte man den Inhalt des Stücks so zusammenzufassen: Übersendung des Texts der Vier-Mächte-Konvention, Einladung zum Beitritt Hannovers und Bevollmächtigung der Unterhändler für die Verhandlungen zu diesem Zweck. Letzteres war essentiell bei völkerrechtlich bindenden Vertragsverhandlungen in Abwesenheit der Souveräne (Bittner 1924: 146 f.); deshalb auch die ausdrückliche Berufung auf die erhaltene Weisung in der Eingangsformel, mit der die Identität der Absichten von Souverän und Unterhändlern bekundet wird (vgl. Martens 1866: 62).

Moment. Der König von Großbritannien ermächtigt einen Unterhändler, Verhandlungen mit dem Vertreter des Königs von Hannover aufzunehmen?

Die Regierungsgeschäfte Großbritanniens und Hannovers blieben unter der 1714 begründeten Personalunion getrennt. In London gab es eine Deutsche Kanzlei mit einem Minister, der zwischen dem hier als König residierenden Kurfürsten (ab 1814 doppelt König) und der heimischen Verwaltung vermittelte. De jure wollte Georg III. (bzw. der Prinzregent, sein gleichnamiger Sohn) hier in der Tat über mehrere Ecken mit sich selbst verhandeln. Die staatsrechtliche Konstruktion zwang dazu.

Der hannoversche Unterhändler in Wien war just der Minister der Deutschen Kanzlei, Ernst Graf Münster. An ihn ist die Note Clancartys, Humboldts, Metternichs und Nesselrodes adressiert. Wäre das Stück außerhalb des archivischen Zusammenhangs überliefert, würden wir als Provenienz wohl den Aktenbestand dieser Kanzlei vermuten. Tatsächlich entstammt es aber dem auf Ernst Graf Münster zurückgehenden Teil des Münsterschen Familienarchivs, das heute am Standort Hannover des Niedersächsischen Landesarchivs verwahrt wurde.

Auch ohne den übrigen Inhalt jenes Aktenbandes mit der Signatur NLA – Hannover – Dep. 110 A Nr. 53 zu kennen, lässt sich mit einiger Berechtigung vermuten, dass es sich um Kommissionsakten handelt. Darunter versteht man Handakten, die ein Beamter auf eine auswärtige Mission mitnahm und nach deren Beendigung an die Registratur seiner Behörde zurückgeben haben sollte. Was häufig aber auch nicht geschah. Dann findet man Kommissionsakten, im Grunde entfremdetes dienstliches Schriftgut, eben in  Nachlassbeständen, hier als Teil eines Familien- und Gutsarchivs.

Literatur

Berwinkel, Holger 2015. Der diplomatische Schriftverkehr im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Diplomatik 61. Im Druck.

Bittner, Ludwig 1924. Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden. Stuttgart.

Martens, Charles de [Karl von Martens 1866. Manuel diplomatique. Précis des droit et des fonctions des agents diplomatiques et consulaires […]. 5. Aufl, hg. v. M. F. H. Geffcken, Bd. 2. Leipzig/Paris. (Online – wie auch die erste Auflage von 1822, die näher an den Ereignissen ist, die Stilformen aber nur durch Beispiele erläutert.)

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/358

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Aktenstücke gut zitieren

Historiker, die im Archiv forschen, sind sich oft unsicher, wie sie Aktenschriftstücke zitiert werden sollen. Jedenfalls wurde ich mehrfach darauf angesprochen, seit ich dieses Blog betreibe. Hier also Faustregeln eines Historiker-Archivars zum guten Zitieren:

  1. Nenne den Typ des Schriftstücks!
  2. Gib Entstehungsstufe und Überlieferungsform an, wenn sie von der Norm abweichen.
  3. Übergehe kanzleitechnisches Beiwerk.

Was ist darunter zu verstehen?

Das Problem

Ich schreibe bewusst "gut" statt "richtig zitieren", denn den einzig wahren Weg gibt es meiner Auffassung nach nicht. Was anzugeben ist und was nicht, sollte sich nach den Eigenheiten des zitierten Schriftstücks und dem Argumentationszusammenhang in der zitierenden Arbeit richten. Eine Zitation würde ich als gut bezeichnen, wenn ihr Informationsgehalt in diesen beiden Bezügen angemessen ist.

Normalerweise wird zu Zitaten aus Archivalien nur die Fundstelle angegeben, also eine mehr oder weniger komplizierte Sigle, die es erlaubt, den zitierten Text im Archiv exakt wiederzufinden. Dazu braucht es neben der meist dreiteiligen Archivaliensignatur (Archiv, Bestand, Bestellnummer) die Blattzahl (fol. oder Bl.). Manche Zeitschriften untersagen in ihren Manuskriptrichtlinien sogar weitergehende Beschreibungen als zur Wiederauffindung unnötig. Kostet im Druck eben Platz.

Das ist etwa so, als würde man eine Online-Veröffentlichung nur mit ihrem URN zitieren.

Und man kommt schon in Schwierigkeiten, wenn die Archivalien-Einheit, aus der zitiert wird, nicht foliiert ist. Das Schriftstück dann durch das Datum näher zu bezeichnen, wie ich das in meinem Erstling auch getan habe (Berwinkel 1999 - um mit schlechtem Beispiel voranzugehen), hilft nur bei weniger dichten Serien, bei denen dies ein eindeutiges Merkmal ist, und setzt für die nicht triviale Datierung unübersichtlicher Entwürfe selbst aktenkundliche Expertise voraus. Weit kommt man damit also nicht.

Der Schriftstücktyp

Es liegt nahe und ist verbreitet, Verfasser und Adressat plus Datum zu nennen: X an Y, 1. 1. 1900 (oder 1900 Januar 1 oder wie auch immer). Aber was tun, wenn es sich nicht um Korrespondenz mit Y handelt, sondern um Aufzeichnungen für die eigenen Akten des X? In diesem Fall führt schon rein sprachlich kein Weg daran vorbei, das Schriftstück näher zu charakterisieren.

Aus dieser praktischen Not sollte man eine methodische Tugend machen. Durch die Suche nach der treffenden Bezeichnung für ein Schriftstück vergewissert man sich des richtigen Verständnisses von dessen Form und Funktion, die als Kontext der Textinformation für die Quellenkritik entscheidend sind, und gibt seinen Lesern ein Hilfsmittel zur Falsifizierung der eigenen Schlüsse an die Hand. Gutes Zitieren zwingt zur Stellungnahme.

Bei der Benennung des Typs geht es um die Identifizierung des Zwecks einer verschriftlichten Information (Mitteilungen an Entfernte, Stütze des eigenen Gedächtnisses usw. - siehe Papritz 1959) und, bei Korrespondenzen, der aktenkundlich so genannten Schreibrichtung. Die Schreibrichtung ist ein elementares quellenkritisches Merkmal. Aktenstücke in öffentlichen Archiven stammen zumeist aus hierarchischen Institutionen, die das Verhältnis der korrespondierenden Personen bestimmten. Es wird von unten nach oben berichtet, von oben nach unten verfügt oder auf gleicher Ebene mitgeteilt.

X schreibt an Y mit einem bestimmten Inhalt - gut. Aber berichtet er seinem Vorgesetzten Y oder weist er seinen Untergebenen Y an? Die Bedeutung dieses Kontexts für die Interpretation des Texts liegt auf der Hand. Also zitiert man besser:

X an Y, Bericht, 1. 1. 1900, oder:
Behördenreskript der Kriegs- und Domänenkammer X an den Bergbaubeflissenen Y, 31. 12. 1770.

Entsprechend bei immobilem Memorienschreibwerk, wie man es aktenkundlich nennt:

X, Aktenvermerk, 30. 9. 1965, oder:
Abrechnung des Amtmanns X, 12. 12. 1701.

Ich bevorzuge die Stichwortform ohne Genitive. Man muss die Umständlichkeit der Quellensprache nicht emulieren.

Zweck und Form haben im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Typen von Schriftstücken hervorgebracht. Die Aktenkunde hat die zeitgenössischen Bezeichnungen vereinheitlicht und systematisiert. Im Ergebnis liegt ein sehr fein differenziertes Instrumentarium vor, das für die "klassische" Zeit bis 1918 bei Kloosterhuis (1999) mustergültig und handhabbar zusammengestellt ist. Dieser Begriffsapparat kann beim Erstkontakt abschreckend wirken. Am Gebrauch der aktenkundlichen Verabredungsbegriffe führt aber kein Weg vorbei, weil nur über diese eine wissenschaftliche Verständigung möglich ist. Man sollte sich nicht, wie es oft geschieht, eine private Terminologie aus zeitgenössischen Selbstbezeichnungen der Stücke und heutiger Umgangssprache stricken.

Die Bestimmung des Schriftstücktyps (Klassifizierung im Sinne der Systematischen Aktenkunde) betrachte ich als unverzichtbar, um ein Schriftstück als physischen Informationsträger angemessen zu zitieren.

Entstehungsstufe und Überlieferungsform

Bei Entstehungsstufe und Überlieferungsform halte ich es aber für ausreichend, Abweichungen von der Norm anzugeben. Dazu muss man diese beiden Kriterien aber zunächst vom Schriftstücktyp unterscheiden. Zur Illustration des Problems hier einige Beispiele aus der inhaltlich vorzüglichen Arbeit von Simone Derix (2009), die ich zufällig in den Händen hatte:

"Abschrift BM Lehr an StS BKAmt" (40 Anm. 63) - eine Abschrift wovon? Doch wohl von einem Mitteilungsschreiben unter praktisch gleich Gestellten (Bundesminister - Amtschef des Bundeskanzlers).
"Paper prepared in the Department oft State, Washington" (259 Anm. 240) - das ist ein Zitat aus dem Inhalt (Überschrift?), aber keine Charakterisierung.
"Funkübermittlung, BKA" (293 Anm. 49) - Was wird übermittelt, ein Bericht? Und in welcher Form liegt das Stück in den Akten vor? Schließlich musste die drahtlose Übermittlung verschriftlicht werden.

Korrespondenz liegt in Behördenakten in der Regel in zwei Entstehungsstufen vor:

  1. Eigene ausgehende Schreiben im Entwurf, der von allen zuständigen Instanzen genehmigt wurde und infolge dessen eine Reihe von Vermerken zum Urtext trägt.
  2. Fremde eingehende Schreiben als Ausfertigung, wie sie in der Kanzlei des Absenders als Reinschrift von dessen Entwurf hergestellt wurde.

Wenn nun in den Akten einer Behörde ein Bericht an das Ministerium als Entwurf vorliegt und dessen darauf folgender Erlass als Ausfertigung, dann ist das normal und muss beim Zitieren nicht beachtet werden.

Hoch relevant sind dagegen die Abweichungen von der Norm: Warum ist die Ausfertigung des eigenen Berichts bei den Akten? Ist er niemals abgegangen, wurde er im letzten Moment kassiert? Warum zeigt der Entwurf keine Spuren des Genehmigungsverfahrens? Im Zitat kann dies so ausgedrückt werden:

X an Y, Bericht, nicht genehmigter Entwurf, 15. 5. 1925.
Kabinettsordre Herzog Xs an den Amtmann zu Y in nicht vollzogener Ausfertigung, 1781 März 18.

Die Überlieferungsform ist etwas anderes. Ihre Kategorien sind Original - Abschrift/Kopie - Durchschlag usw. Hier findet man sich am ehesten instinktiv zurecht, dennoch drohen schwere Fehler: Ausfertigung und Original sind nicht identisch; auch von einem Entwurf gibt es ein Original (und beliebig viele Doppelstücke als Durchschläge oder Kopien). Auch "Abschrift" sagt nichts über den Typ des Schriftstücks aus.

Gleichwohl ist die Angabe der Überlieferungsform essentiell, sofern es sich nicht um das Original handelt. Es ist leicht einzusehen, dass es einen Unterschied macht, ob z. B. ein Schreiben des späten Mittelalters vom Original (der Ausfertigung oder des Entwurfs) oder von der Abschrift in einem Briefbuch zitiert wird.

Es geht um den Nachweis, die Quelle in ihrer maßgeblichen Form benutzt zu haben. Daran erweist sich auch das handwerkliche Können bei der Archivrecherche: Es war z. B. normal, einen Bericht der vorgesetzten Behörde mit einer bestimmten Zahl von Durchschlägen (der Ausfertigung) einzureichen, die an die zuständigen Stellen im Hause verteilt wurden. Das Original blieb dabei das Arbeitsexemplar, auf dem die Entscheidungsfindung (wie soll auf den Bericht reagiert werden?) durch Vermerke dokumentiert ist. Auf diese Bearbeitungsspuren richtet sich das historische Interesse manchmal mehr als auf den Urtext. Wer zufällig auf einen Durchschlag stößt und es dabei bewenden lässt, zitiert nicht die maßgebliche Überlieferung und begeht damit einen schweren methodischen Fehler.

Wenn nun das Arbeitsexemplar verloren oder nach Ausschöpfung aller Mittel nicht aufzufinden ist, muss ausgewiesen werden, dass ausnahmsweise nach einer sekundären Überlieferungsform zitiert wird:

X an Y, Bericht, Durchschlag, 23. 5. 1949.
Kopie der Ausfertigung des Erlasses des Ministerialrats X an das Finanzamt Y-Innenstadt, 3. 6. 1980.

Konzentration auf das Wesentliche

In der Archivarbeit führt Unsicherheit zum Drang nach Vollständigkeit: Ein normales Behördenschriftstück enthält eine große Menge von Bearbeitungsspuren, vom Eingangsstempel bis zum Grünstift des Chefs. Aus Furcht, etwas wichtiges zu unterschlagen, bringen viele Wissenschaftler eine methodisch unreflektierte Auswahl aus den formalen Merkmalen des Schriftstücks, die das Wesentliche eher verschleiert.

Hier ein Beispiel aus einem ausgezeichneten Aufsatz, dem wegen seiner tagespolitischen Aktualität breite Rezeption zu wünschen ist (Spohr 2010: 30 Anm. 89):

"Drahterlass, Telko Nr. 1374 an BM Delegation, D2, Dr Kastrup; Betr: Gespräch mit AM Schewardnadze (10.2.1990 im Kreml)—Fortsetzung zu Plurez 1373, 11 February 1990"

Hier sind überflüssig:

  1. der Betreff,
  2. der Bezug zum Vorgänger-Erlass,
  3. die fernmeldetechnische Kontrollnummer.

Nicht optimal ist die unverarbeitete Angabe des Adressaten in Form eines Zitat (und das auf Deutsch, mit nicht aufgelösten Abkürzungen, in einem englischen Text).

Als Zitation reicht: Auswärtiges Amt an Kastrup, Drahterlass, 11. 2. 1990.

Rein kanzlei- und registraturtechnische Vermerke, bei modernen Schriftstücken auch Angaben zum Beglaubigungsmittel und dergleichen haben nur in Ausnahmefällen eine Bedeutung. Diese Fälle sind wichtig, aber aktenkundliche Forensik lässt sich in einer Zitation aber nicht mehr unterbringen, sondern verlangt Erläuterungen im Text.

Dass sie in der Zitation übergangen werden können, bedeutet keineswegs, dass diese technischen Spuren als Bestimmungsfaktoren ignoriert werden können! Schließlich ergeben sich der Schriftstücktyp, die Entstehungsstufe und die Überlieferungsform aus ihren Kombinationen. Aber wenn das Haus gebaut ist, soll das Gerüst verschwinden.

Über Kommentare zu zitiertechnischen Spezialproblemen würde ich mich freuen.

Literatur

Berwinkel, Holger 1999. Münzpolizei in geteilter Landesherrschaft. Beobachtungen aus der Ganerbschaft Treffurt 1601-1622. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49. S. 67-86.

Derix, Simone 2009. Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 184. Göttingen.

Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. Archiv für Diplomatik 45. S.465–563. (Preprint online)

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–448.

Spohr, Kristina 2012. Precluded or Precedent-Setting?: The "NATO Enlargement Question" in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990-1991. In: Journal of Cold War Studies 14. S. 4-54.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/289

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“Daß auch in Preußen Akten manchmal verschwinden konnten” – Der preußische Kronprinzenprozess von 1740 bei Jürgen Kloosterhuis

Zum Dilemma der Aktenkunde gehört, dass es auf der einen Seite Lehrbücher gibt, auf der anderen eine Aufsatzliteratur, aber kaum vertiefende Spezialstudien im Format einer Monographie. Eine herausragende Ausnahme ist Jürgen Kloosterhuis’ Studie zum preußischen Kronprinzenprozess von 1740 und dem Todesurteil gegen Hans Hermann von Katte, den Fluchthelfer Friedrichs II. – herausragend schon deshalb, weil das historische Urteil hier direkt der aktenkundlichen Betrachtung der Quellen entspringt, wobei diese ihrerseits umfassend historisch eingebettet ist.

Die Geschichte um den gescheiterten Fluchtversuch Friedrichs des Großen, der sich als Kronprinz mit der Hilfe einiger Kameraden der Hand seines übermächtigen Vaters entziehen wollte, ist wohl bekannt. Historische Forschungen, populäre Darstellungen und künstlerische Adaptionen dieser Tragödie arbeiten sich bevorzugt an der Hinrichtung von Friedrichs Vertrauten, des Premierlieutenants beim Kürassierregiment Gens d’armes, Hans Hermann von Katte, ab. Den hatte das Kriegsgericht zu Festungshaft verurteilt, aber König Friedrich Wilhelm I. verschärfte das Urteil zur Hinrichtung, die vor den Augen des Kronprinzen vollstreckt wurde.

Die Brillanz von Kloosterhuis’ Studie liegt auch darin, dass der Aktenbefund, einmal sorgfältig präpariert und in den Kontext der preußischen Militärgeschichte gestellt, für sich spricht und die am weitesten hergeholten Interpretationen des Todesurteils, die bis in die Psychoanalyse ausgreifen, von selbst zerplatzen lässt. Kloosterhuis schärft das Auge für den Aufwand, den solide Archivarbeit wirklich erfordert. Das ist umso nötiger, wenn eine äußerlich solide wirkende Edition in bequemer Griffweite ist, die sich aber, wie in diesem Fall Hinrichs (1936), bei der Nachprüfung an den Archivalien als unzuverlässig erweist.

Der Angelpunkt der Untersuchung ist eine Feststellung, die der ungeschulte Leser banal finden mag: Das Todesurteil wechselt in der Mitte vom unpersönlichen in den Ich-Stil. Es fängt an mit

“Seine Königliche Majestät in Preußen, Unser allergnädigster Herr [...]“,

fährt fort mit

“Was aber den Lieutenant Katten [...] anbelanget, so seind Seine Königlich Majestät [...]“

und endet mit einem tröstlich gemeinten

“Wenn das Kriegesrecht dem Katten die Sentenz publiciret, so soll ihm gesagt werden, daß Seiner Königlichen Majestät es leid thäte [...]“,

dazwischen heißt es aber

“Dieser Katte ist nicht nur in Meinem Dienst Officier bei der Armée, sondern auch bei die Guarde Gens d’armes, und da bei der ganzen Armée alle Meine Officiers Mir getreu und hold sein müßen [...]“

(Kloosterhuis 2011: 97).

August Friedrich Eichel, der verantwortliche Kabinettssekretär, hatte ein Befehlsschreiben des Landesherrn an das in Köpenick tagende Kriegsgericht im “objektiven” Stil entworfen. In Anlehnung an die zeitgenössischen Bezeichnungen spricht die Aktenkunde von einem Dekretschreiben, genauer: von einem Kabinettsdekret(-schreiben), da im Kabinett des Königs entstanden.

Der auffällige und eklatant gegen die Kanzleiregeln verstoßende Stilbruch eines Sprungs in den Ich-Stil lässt sich nur so erklären, dass der König seinem Sekretär einen Zusatz als wörtlich zu übernehmenden Einschub in die Feder diktiert hat, der für sich genommen eine Kabinettsordre im Ich-Stil darstellen würde (Kloosterhuis 2011: 17).

Diese Art der Zuweisung von Aktenstücken an verschiedenen “Baupläne”, Stilformen genannt, also die Klassifizierung der Stücke, stellt den “systematischen” Zweig der Aktenkunde dar, der Einsteiger wegen der Fülle der Begriffsungetüme aus der Kanzleipraxis vergangener Tage leicht abschreckt. In der Tat kann Klassifizierungs-Bingo auch zum Selbstzweck degenerieren.

Kloosterhuis aber zeigt trefflich, wozu die “Systematik” gut ist: zum Erkennen von Stilbrüchen und formalen Widersprüchen, die in einer hinreichend reglementierten Kanzlei einen Grund haben mussten. Dieser Grund ist Teil des Aussagewerts einer historischen Quelle.

Nun möchte man nach Aktenlage wissen, was sich der König bei seinem Stibruch gedacht haben mag. So analysiert Kloosterhuis detailliert (aber lesbar – eine Kunst!) die Überlieferungslage im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dessen Direktor er ist. Was dem unvoreingenommenen Betrachter einfach als die Prozessakten erscheinen mag, erweist sich als “Pertinenzgemenge” (Kloosterhaus 2011: 18), in dem die eigentlichen Untersuchungsakten des Kabinetts mit den Handakten verschiedener beteiligter Beamter vermischt wurden.

Die gleiche Methodik hat übrigens Kretzschmar (2011) sehr instruktiv auf die ebenfalls zusammengestoppelte Überlieferung zu einem echten politischen Schauprozess des 18. Jhs., dem gegen Joseph Süß Oppenheimer, angewandt.

Nun fehlt in den Kabinettsakten zum Kronprinzenprozess ein Band (Nr. VIII), was bereits 1826 im Archiv festgestellt, aber von der Forschung (einschließlich der forschenden Archivare) übersehen wurde. Die Laufzeit dieses Bandes ist auf Oktober/November 1730 einzugrenzen. Just in diesem Band hätte man nach Unterlagen zur Entscheidungsfindung des Königs suchen können. Wie er abhanden gekommen ist, ob ihn vielleicht sogar Friedrich der Große hat verschwinden lassen, muss unklar bleiben (Kloosterhuis 2011: 28).

Im Folgenden füllt Kloosterhuis die “Küstriner Akten-Lücke” durch Kontextualisierung der rätselhaften Entscheidung im Zusammenhang der militärischen Kultur in Preußen und der diplomatischen Verwicklungen am Hof Friedrich Wilhelms. Der König habe gar nicht anders handeln können, als das Urteil zu verschärfen, so die Schlussfolgerung.

Dabei kommt noch die Abschrift eines früheren Entwurfs des Urteils ins Spiel, der ohne Stilbruch durchgängig als Kabinettsdekret verfasst worden war. Die Abschrift tauchte vor Jahrzehnten im Autografenhandel auf und verschwand wieder, das Geheime Staatsarchiv konnte sich aber eine Fotokopie sichern. Hier fehlt der vom König diktierte Einschub, der auf den Bruch des Fahneneids und damit des Treueverhältnisses zwischen Katte und dem König als Regimentschef der Gens d’armes abhebt. Das verweist auf der Suche nach den Entscheidungsgründen in das Militärstrafrecht und auf die Todesstrafe für Deserteure (Kloosterhuis 2008: 75 f.).

“So und nicht anders lagen die Fakten, so sprachen die Akten, das waren die Konsequenzen.”

Für einen Archivar und Aktenkundler ist Kloosterhuis’ (2011: 93) Schlusssatz eigentlich zu schön, um daran nur ein Jota zu verändern.

Will man es aber ganz genau nehmen, so müsste man das mittlere Satzglied aber doch ins Präsens setzen: So sprechen die Akten heute. Wie die vollständige Aktenlage zum König sprach, wissen wir ja nicht, wie Kloosterhuis gezeigt hat. Der methodologische und didaktische Wert dieser Studie liegt (nicht nur für Preußen-Historiker) in der meisterhaften Demonstration des aktenkundlichen Umgangs mit Aktenlücken.

Literatur

Hinrichs, Carl 1936. Der Kronprinzenprozeß. Friedrich und Katte. Hamburg.

Kloosterhuis, Jürgen 2011. Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer “facheusen” Geschichte. 2. Aufl. Berlin. (Vorschau)

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher und aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke/Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/256

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Noch einmal: Kritik der Verwaltungssprache um 1800

Zuletzt habe ich an dieser Stelle Klaus Margreiters HZ-Aufsatz zur Kritik der Aufklärung am Kanzleistil des Ancien Régime besprochen. Bei allem Lob habe ich angemerkt, dass die dort zitierte aktenkundliche Literatur nicht voll für dieses Thema ausgewertet wurde. Dazu jetzt mehr.

Beck (1997: 425-435) hat den Fall des neumärkischen Landrats v. Mülheim nachgezeichnet, der 1787 in seinen Berichten an die Kriegs- und Domänenkammer in Küstrin stillschweigend begann, die Kurialien fortzulassen, d. h. die auf den König gemünzte Anrede “Allerdurchlauchtigster großmächtiger König [...]” zu Beginn und
die Devotionsformel “Ich ersterbe [...]” zwischen Kontext und Unterschrift. Das wollte ihm die Kammer nicht durchgehen lassen, viel hatte sie aber nicht entgegenzusetzen, insbesondere nicht v. Mülheims Argument, wenn Friedrich der Große bei tatsächlich an ihn selbst gerichteten Immediatberichten auf die Kurialien verzichtet habe, könne eine Provinzialbehörde doch nicht darauf bestehen. Aber auch diese bestechende Logik half v. Mülheim nicht, weil die Sache durch eine Weisung des Generaldirektoriums zugunsten des Kurialienzwangs entschieden wurde.

Bemerkenswert sind die tieferen Überzeugungen hinter der beamtentypischen Formalargumentation des Landrats: Die altdeutschen Kurialien rühren an sein Stilempfinden. Sie seien pompös und geschmacklos. Ein Franzose schreibe seinen König einfach mit “Sire” an. Die aufgeklärte Verwaltungssprachkritik, die Margreiter behandelt, hat also bereits einen in der Lokalverwaltung tätigen märkischen Landadeligen erfasst. Dieser Landrat war entsprechend gebildet; gegenüber seinen Oberen in Küstrin führte er Homer, Melanchthon und hinduistische Gesetze ins Feld. Man müsste seine Sozialisation näher eruieren und als typisch oder atypisch für die Schicht kontextualisieren, aus der die untere Verwaltungsebene in Preußen zum Ende des 18. Jahrhunderts rekrutiert wurde. Dann könnten sich Aufschlüsse über die Breitenwirkung der Verwaltungssprachkritik ergeben.

Granier (1902) befasst sich mit dem 1800 trotz königlichen Wohlwollens gescheiterten Versuchung, die Kurialien in Preußen abzuschaffen oder wenigstens zu reduzieren. Die schroffe Ablehnung durch die Staatsminister (außer Hardenberg) ist in dem Kontext, in dem sie von Margreiter (2013: 678 f.) zitiert wird, nämlich hinsichtlich eines Glaubwürdigkeitsverlusts gegenüber den Untertanen, die gerade zu Staatsbürgern werden wollen, doch überzogen. Sie unterstricht aber, liest man die von Margreiter nur indirekt über Haß (1909) ausgewertete Miszelle ganz, eine andere Aussage (Margreiter 2013: 685): Das Kanzleizeremoniell wirkte sozialisierend und disziplinierend auf die Beamtenanwärter, gerade in revolutionärer Zeit:

Allerdings wird den schon gebildeten, fähigen, treuen Staatsdiener die Form des Styls, wenn sie heute verändert wird, nicht umwandeln [...]. Aber die Form wirkt in die ganze Zukunft hinein und trägt das ihrige bey zur Bildung künftiger Staatsdiener aller Classen.

Und da beim Beamtennachwuchs “ein ungewöhnlich starkes Maß von Selbstgefälligkeit, Eigendünkel, Anmaßungssucht und viele Keime zur Insubordination” festzustellen sein, müsse man zum einen diesen selbst Disziplin im Namen des Königs beibringen und sie zum anderen lehren, in dessen Namen zu sprechen, um “Würde und Ernst” zu gewinnen, so die Argumentation der Staatsminister (Granier 1902: 175) .

Wobei man hier allerdings auch einen aus konservativer Sicht vernünftigen Kern entdecken kann: Das umständliche Reskribieren im Namen des Landesherrn war im 17. Jahrhundert eine Innovation gewesen, um Verwaltungsakte zu legitimieren, die ohne dessen persönliche Beteiligung erlassen wurden – die “stellvertretenden Behördenverordnungen” waren entstanden (Haß 1909: 525; Meisner 1935: 35). Durch die Verwendung des Titels wurden die Beamten auf den Souverän verpflichtet und für ihre Handlungen in die Verantwortung genommen. Nur änderten sich die zugrunde liegenden politischen Vorstellungen in unserem Untersuchungszeitraum eben entscheidend.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass erwartungsgemäß auch Hardenberg den von Margreiter heraus präparierten Diskurs der Verwaltungssprachkritik verinnerlicht hatte: Wieder begegnet der Topos der “barbarische[n] Schreibart ungebildeter Zeiten”. Die Umgangssprache habe sich weiterentwickelt, der “stilus curiae” sei stehengeblieben.

Margreiters Befunde werden also von dieser Seite her eindeutig bestätigt, wenn auch der aufklärerische Impetus gemischt ist mit dem profanen Überdruss  von Verwaltungspraktikern an umständlichen Formalitäten.

Literatur

Beck, Lorenz Friedrich 1997. Geschäftsverteilung, Bearbeitungsgänge und Aktenstilformen in der Kurmärkischen und in der Neumärkischen Kriegs- und Domänenkammer vor der Reform (1786-1806/08). In: Beck, Friedrich und Neitmann, Klaus, Hg. 1997. Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders zum 70. Geburtstag. Weimar, S. 417–438.

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Margreiter, Klaus 2013. Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack. Verwaltungssprachkritik 1749-1839. Historische Zeitschrift 297, S. 657-688.

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/151

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Zur Verwaltungssprache der frühen Neuzeit (Literaturanzeige)

Klaus Margreiter, Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack: Verwaltungssprachkritik 1749-1839, Historische Zeitschrift 297 (2013) S. 657-688. (Abstract)

Am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer gibt es ein Forschungsprojekt mit dem Titel: “Geschichte der europäischen Verwaltungssprachen und ihrer Reformen, 1750-2000“. Aus diesem weiten Feld hat die HZ jetzt ein sehr konkretes und beachtenswertes Ergebnis veröffentlicht. Dass es ein verwaltungsgeschichtlicher Aufsatz in die HZ schafft, ist bemerkenswert genug. Margreiter schreibt brillant und liefert auch der Aktenkunde viel Bedenkenswertes aus einer originellen Perspektive.

Es geht um die “Verwaltungssprache [als] Abbild der Organisationskultur der Behörden, ihrer Werte und der Einstellungen der Angehörigen” (660). Der Einsatz dieser Fachsprache als Teil des Kanzleizeremoniells war ein Element, das die Verwaltungspraxis gegen Veränderungen stabilisierte. Auch durch gewollte Unverständlichkeit war sie ein Mittel zur symbolischen Vergegenwärtigung arkaner monarchischer Macht.

Im späten 18. Jahrhundert wollte die entstehende Bürgergesellschaft das nicht mehr hinnehmen. Margreiter beschreibt die bürgerlich-aufgeklärte Kritik am Kanzleistil überzeugend als Kampf um die kulturelle Hegemonie gegen die “Beamten als kryptisch säuselnde Priester der Herrschaft” (667), die tragenden Säulen der vormodernen Herrschaftsformen. Vorgebracht wurde eine ästhetisch ausgerichtete Kritik, die von einer intellektuellen Elite ausging, in abgeschwächter Form allerdings auch von den Autoren praktischer Lehrbücher des Kanzleistils (also von Insidern) aufgenommen wurde. Sich richtete sich im Einzelnen gegen

  • das unharmonische, oft aus Formularbüchern zusammengewürfelte und mit Fachbegriffen und umgangssprachlich überholten Ausdrücken durchsetzte Sprachbild,
  • die Neigung der Beamten zu Pleonasmen und verschachtelten Perioden,
  • die üblichen, als kriecherisch empfundenen Ergebenheitsbekundungen (Kurialien) und Titelhuberei im amtlichen Schriftverkehr.

Die Sprachreformer wollten der Obrigkeit auch auf dem Papier aufrecht gegenüberstehen und im Übrigen ohne Anstrengungen verstehen können, was Ihnen das Amt da schrieb. Was nicht nur verständlich, sondern auch immer noch aktuell sein mag.

Sicher hatte die Verwaltung auch ideologische Gründe zur Reformunlust. Die Arkansphäre wollte man sich bewahren. Margreiter präpariert aber säuberlich auch die systemimmanenten, unideologischen Motive heraus: Die Verwaltungssprache muss gerichtsfest sein. Deshalb ging man ungern von bewährten Formeln ab. Abgesehen davon sparte der Gebrauch von Formularbüchern Zeit und Mühe. Die Übernahme des Sprachgebrauchs durch Verwaltungsanwärter stellte (und stellt) außerdem eine wichtige Etappe ihrer Sozialisation dar und prägt den Korpsgeist der Beamtenschaft. – Soweit Margreiter.

Mit Formelbüchern, Kurialien und Titeln sind wir mitten im Gebiet der Analytischen Aktenkunde, die sich mit den inneren Merkmalen neuzeitlicher Schreiben befasst. Die aufgeklärte Sprachkritik zählt (neben äußeren Faktoren wie der Innovationskraft der napoleonischen Verwaltung) zu den Triebkräften hinter der Bereinigung des Kanzleizeremoniells zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die Aktenkundler als Entstehung des “Neuen Stils” bekannt ist. Die Geschichte der Verwaltungssprache dient der Aktenkunde darum wie die ganze Verwaltungsgeschichte als Hilfsdisziplin.

Umgekehrt könnte sich die Aktenkunde in die Erforschung der Verwaltungssprache produktiv einbringen. Margreiter hat auch aktenkundliche Arbeiten rezipiert, aber eher punktuell. Auf S. 678 entgeht dem Leser die Pointe der gescheiterten preußischen Reform von 1800: Nicht nur, dass Hardenberg Kernargumente der Sprachreformer explizit teilte – auch Friedrich Wilhelm III. zeigte sich aufgeschlossen. Wenn aber selbst der König keinen Autoritätsverlust durch die Abschaffung alter Zöpfe fürchtete, erscheint die Ablehnung durch die Mehrzahl der obersten Beamten doch wieder als “hysterische Überreaktion”. (Margreiter zitiert in Anm. 76 nur Haß 1909, übrigens mit falschen bibliographischen Daten; der locus classicus wäre Granier 1902).

Fruchtbringend könnte es sein, Reformeifer und -unlust gesondert für einzelne Sphären der Verwaltungsschriftlichkeit zu untersuchen. Die Kritik der Sprachreformer richtete sich in erster Linie natürlich auf die Korrespondenz zwischen der Obrigkeit und den Untertanen. Man könnte sich auch fragen, ob die Obrigkeit in dem Maße auf den Kurialien bestand, wie die Untertanen dies antizipierten. Auch das ist ein epochenübergreifendes Phänomen: Ich erhielt einmal einen Archivanfrage von einem Doktoranden unserer Tage, der ohne jede Spur von Ironie mit den Worten schloss: “In der Hoffnung, mit meinem Ansinnen keine Fehlbitte zu tun, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr …” (Der Devotionsstrich fehlte, da per E-Mail suppliziert wurde.)

Man würde wohl sehen, dass Kurialien und Titel von der Verwaltung selbst und insbesondere im innerdienstlichen Schriftverkehr als Problem betrachtet wurden, da der Popanz die Aufgabenerledigung verzögerte (dazu u. a. Polley 1994, zit. in Anm. 62). Reformeifer speiste sich nicht allein aus dem Eindringen ideologischer Elemente des bürgerlichen Zeitalters in die Beamtenschaft, die in das Gewand der Sprachreform gehüllt waren, sondern auch aus pragmatischen Motiven.

Nun war dies nicht Margreiters Thema. Er behält konsequent den Blickwinkel eben dieser Sprachreformer bei und kommt damit zu einem erhellenden und anschlussfähigen Ergebnis. Auf weitere Beiträge dieser Art aus dem Speyerer Forschungsprojekt bleibt zu hoffen!

Literatur

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Polley, Rainer 1994. Standard und Reform des deutschen Kanzleistils im frühen 19. Jahrhundert: Eine Fallstudie. Archiv für Diplomatik 40, S. 335-357.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/147

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Aktenkunde bei der Tagesschau

Die Tagesschau berichtet heute über Vorwürfe gegen den Bundesminister der Verteidigung, früher als angegeben über erhebliche Probleme bei der Drohne “Euro Hawk” informiert gewesen zu sein. Schon länger ist bekannt, dass dem Minister im Dezember 2012 Gesprächsunterlagen vorgelegen haben, die u. a. das Zulassungsproblem thematisierten und eine Serienbeschaffung in Frage stellten.

Die “Berliner Zeitung” hat jetzt nach eigenen Angaben eine Version dieser Unterlagen erhalten, in der an den entscheidenden Stellen Markierungen mit Grünstift zu sehen sind – in der deutschen Verwaltungspraxis bekanntlich der untrügliche Hinweis auf den Behördenleiter, hier also den Minister, als Urheber. Die “Berliner Zeitung” spricht plastisch, wenn auch nicht ganz korrekt von der “Ministerfarbe”.

Für sich genommen ist dies bereits ein schönes Beispiel für den quellenkritischen Wert von Bearbeitungsspuren auf Aktenschriftstücken und für die unverzichtbare Anforderung an die Arbeit mit moderen Akten, unter den oft zahlreichen Doppeln das für den Geschäftsgang bestimmte Arbeitsexemplar zu ermitteln.

Die Tagesschau will es ihrem Publikum noch genauer bieten, aber sie verschlimmbessert. Da sei der “Berliner Zeitung” das “Original” der Gesprächsunterlagen durchgesteckt worden. Das ließe allerdings Schlimmstes für den materiellen Geheimschutz im Verteidigungsministerium befürchten. Gemeint ist wohl ein Farbscan vom Original.

Als Infokasten findet sich dann folgende Information:

Regeln für Aktenvermerke

Will ein Minister auf einer Akte oder einem Vermerk etwas markieren oder einen Gedanken festhalten, darf er nicht zu einem beliebigen Kugelschreiber greifen. Damit nachvollzogen werden kann, wer welche Anmerkungen hinterlassen hat, ist die Farbe der Stifte genau geregelt. Die “Anlage 2 zu Paragraph 13 Absatz 2″ der “Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien GGO” legt fest: Der Grünstift ist dem Minister vorbehalten. Streng hierarchisch ist außerdem vorgeschrieben: Parlamentarische Staatssekretäre zeichnen violett, beamtete Staatssekretäre rot, die Abteilungsleitung blau und die Unterabteilungsleitung braun.

Die GGO (S. 59) ist damit richtig zitiert, dabei übersieht die Redaktion aber, dass das “Farbspiel” hier nur für den Geschäftsgangsvermerk zur Festlegung der Bearbeitung von Eingängen festgelegt wird. Die generelle Zuweisung der Farbe Grün ergibt sich aus dem Verwaltungegebrauch und möglicherweise internen Vorschriften des jeweiligen Ministeriums.

Außerdem: Offenbar verwechselt die Redaktion den hier geregelten Geschäftsgangsvermerk, also eine dem Schriftstück aufgesetzte Verfügung und damit ein Element aus der Analytischen Aktenkunde, mit dem Aktenvermerk als Schriftstücktyp aus der Systematischen Aktenkunde. Da die hilfswissenschaftliche Terminologie durch die Mehrfachverwendung des Grundworts “Vermerk” aber selbst nicht konsequent ist, ist das eine lässliche Sünde.

Schließlich noch der Klassiker: Zwischen Aktenvermerken als Schriftstücken und Akten (von der Tagesschau natürlich im Singular gebraucht) als deren Zusammenfassung wird nicht unterschieden; aber diesen Lapsus findet der abgekläre Archivar und Hilfswissenschaftler auch in in der hohen Wissenschaft…

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/75

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